Informelles Außenministertreffen / Plötzlich blickt die EU besorgt auf die Ampel statt auf Orbán
Mit ihrem Format der offenen Aussprache haben die EU-Außenminister die Sommerpause in Brüssel beendet. In dramatischen Worten beschwor der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba die Runde, Unterstützung nicht nur zu versprechen, sondern auch tatsächlich zu liefern. Die Blicke richteten sich dabei vor allem auf Berlin.
Stundenlang hatten die EU-Außenminister bei ihrem letzten Treffen darum gerungen, ihre traditionelle informelle „Gymnich“-Tagung von Budapest nach Brüssel zu verschieben, um dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán deutlich zu zeigen, was sie von seinen außenpolitischen Egotrips halten. Doch als dann die Runde an diesem Donnerstag in Brüssel zusammentritt, ist von Kritik an Ungarn kaum etwas zu hören. Die Sorge gilt in erster Linie nicht Budapest, sondern Berlin. „Die Ukraine ist besorgt, die Ostflanke ist besorgt, wir alle sind besorgt“, sagt Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis zu Berichten, die Ampelkoalition könne die Ukraine-Unterstützung zurückfahren. „Sehr besorgniserregend“ nennt auch EU-Außenbeauftragter Josep Borrell den Vorgang.
Er hat den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba eingeladen, persönlich nach Brüssel zu kommen, weil die Unterstützung der Ukraine das wichtigste Thema auf der Tagesordnung dieser Ratssitzung sei. Vor fünf Jahrzehnten hat diese Art der offenen Aussprache ohne Beschlusszwang in Schloss Gymnich bei Bonn seinen Anfang genommen. Damals ging es darum, ob sich durch Entspannungspolitik gegenüber Moskau der kalte Krieg entschärfen lässt. Nun steht die Frage im Mittelpunkt, wie der heiße Krieg Russlands gegen seinen europäischen Nachbarstaat beendet werden kann.
Kuleba kündigt ein Gespräch mit seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock an, um das Ausmaß der künftigen deutschen Unterstützung zu klären. Im Entwurf des Bundeshaushaltes ist für das nächste Jahr nur noch halb so viel vorgesehen wie im aktuellen. „Ich verstehe, dass es Versuche gibt, die Unterstützung in Deutschland anders zu strukturieren“, berichtet Kuleba. Allerdings erinnert er auch daran, was die Europäer alles an Summen ausgegeben haben, um andere Krisen in den Griff zu bekommen. Die Ukraine habe bislang unvergleichlich weniger erhalten. „Sie wissen alle, was passiert, wenn Russland gewinnt“, mahnt der Ukrainer seine Amtskollegen, und fügt hinzu: „Die Kosten, Russland zu stoppen, werden dann viel, viel höher sein.“
Kiew will Ziele in Russland angreifen
Kuleba klagt über eine „exzessiv lange“ zeitliche Lücke zwischen der Ankündigung von Unterstützung und deren Lieferung. Seit April warte die Ukraine auf Luftabwehrsysteme. Jetzt beginne ein neues Schuljahr, und die Städte und Kinder müssten geschützt werden. Doch die Ukraine warte immer noch. Borrell verweist darauf, dass Russland inzwischen 14.000 Kampfdrohnen und 10.000 Raketen auf die Ukraine gefeuert habe. Baerbock sieht sich daraufhin veranlasst, ihren ersten morgendlichen Erläuterungen die Versicherung hinzuzufügen, dass Deutschland bis zum Jahresende vier Iris-T-Luftabwehrsysteme und weitere Gepard-Luftabwehrpanzer zur Verfügung stellen werde. „Putin will den Kältekrieg“, warnt die Grünen-Politikerin. Das zeigten die ständigen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur.
Borrell pflichtet ihr bei: „Russland will die komplette Stromversorgung zerstören, um die Ukraine im nächsten Winter in Dunkelheit und Kälte zu versetzen“, erläutert der EU-Chefdiplomat. Mit den Angriffen auf Krankenhäuser und Gesundheitsstationen wolle Russland ein europäisches Land „in die vollständige Kapitulation bomben“. Deshalb unterstützt Borrell ausdrücklich die zentrale Forderung Kulebas in Brüssel, den ukrainischen Streitkräften nicht nur weitreichende Waffen zur Verfügung zu stellen, sondern diese auch gegen militärische Ziele in den Weiten Russlands einsetzen zu dürfen. Sonst seien die Waffen „nutzlos“, sagt Borrell. Und Kuleba nennt als Beispiel Flugplätze, von denen Russland seine Bomber zum Einsatz gegen ukrainische Städte starte. Diese anzugreifen werde den Unterschied machen. In der russischen Region Kursk demonstriere sein Land gerade, dass alle Einschätzungen, wonach die Ukraine nur verlieren könne, nicht stimmen. Wenn die Partner die Entscheidungen zugunsten der Ukraine nicht träfen, sollten sie nicht die Ukraine wegen fehlender Fortschritte beschuldigen, sondern sich selbst. Bekämen seine Streitkräfte das Zugesagte nicht, könnten sie nicht für das Schlachtfeld planen und wüssten nicht, auf was sie zählen dürften.
Das bestätigt auch sein litauischer Kollege Landsbergis: „Wir haben uns zu fragen, ob wir nicht selbst Teil des Problems sind.“ Und dann wird er deutlich, wie selten zuvor. Nachdem er aufgelistet hat, wie viel die EU-Staaten nach wie vor für russische Energielieferungen bezahlen, wie wenig F-16-Jets die Ukraine bislang einsetzen kann und dass es seit Juni keinerlei Munitionslieferungen mehr gegeben habe, sagt er: „Europa ist bereit zu verlieren.“
Viele weitere Themen kommen bei dem zweitägigen Treffen in Brüssel zur Sprache. Weitere Sanktionen gegen Afghanistan und den Iran wegen der eklatanten Verletzung von Frauenrechten, die Verfolgung von russischen Kriegsverbrechen, vor allem aber die Entwicklung im Nahen Osten. Borrell hat dazu den Vorschlag auf den Tisch gelegt, auch israelische Minister mit Sanktionen zu belegen, die inakzeptable Hassbotschaften verbreitet und das Begehen von Kriegsverbrechen angeregt hätten. Baerbock schließt das nicht aus, verweist skeptisch jedoch auf die dafür nötige Einstimmigkeit. Und Ungarn wie Italien machen bald klar, dass die in dieser Frage nicht zustande kommen wird.
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