Berlinale (5) / Politik und Intimität: Wettbewerbsfilme in der Übersicht
David gegen Goliath
Vier Jahre nach „Vice“, dem recht plakativen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag von „Don’t-Look-Up“-Regisseur Adam McKay über den Vizepräsidenten Dick Cheney, steuert nun der deutsche Regisseur Andreas Dresen einen Post-9/11-Film zum Wettbewerb bei.
Im Zentrum dieser auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte um Murat Kurnaz, der fünf Jahre in Guantanamo festgehalten und gefoltert wurde, steht eine besorgte Mutter: Die türkisch-deutsche Mutter Rabiye Kurnaz versteht nicht so recht, was los ist, als sie erfährt, dass ihr ältester Sohn aus religiösen Gründen nach Pakistan verreist ist – und deswegen nicht zum Essen auftaucht.
Wer die Geschichte um den radikalisierten Luxemburger Steve Duarte kennt, weiß, dass unter dem Deckmantel der Koranlehre manche desillusionierte Jugendliche eine solche Reise angetreten haben, um zu IS-Kämpfern ausgebildet zu werden – eine Tatsache, die in einer paranoiden Post-9/11-Welt dazu führte, dass man Menschen wie Murat Kurnaz recht schnell wegsperrte.
Wie auch beim luxemburgisch-portugiesischen Steve Duarte will plötzlich niemand mehr etwas mit Kurnaz zu tun haben: Die deutschen Behörden argumentieren, dass Murats Aufenthaltsgenehmigung nicht rechtzeitig erneuert wurde – eine Schande auch, dass sich der Häftling nicht zwischen zwei Foltersitzungen in Guantanamo um den administrativen Papierkram gekümmert hat –, während sich in der Türkei niemand für den seit jeher auf deutschem Boden lebenden Kurnaz interessiert.
Gefilmt wird diese tragische Verzahnung des Politischen und Intimen aus der Perspektive der naiven Rabiye Kurnaz, sehr überzeugend gespielt von Meltem Kaptan: Ihre Rabiye ist kantig, spricht in einem türkisch-deutschen Slang, versteht von Weltpolitik kaum etwas, kommt stets zu spät und hat eine sehr eigenwillige Sicht davon, was prioritär ist und was nicht.
In ihrer ruhelosen Verzweiflung stößt sie auf den Anwalt Bernhard Docke, ein Menschenrechtler, der im Gegensatz zur Mutter zwar nicht von Murats Unschuld, deswegen aber davon überzeugt ist, dass ein Gericht über seinen Fall urteilen soll – die meisten Häftlinge bekamen in Guantanamo allenfalls einen verfassungswidrigen Pseudoprozess. Der lange Weg – 1786 Tage verstreichen, bis die Mutter ihren Sohn wiedersehen wird – führt die beiden nach Washington und bis zum Supreme Court.
Dresens Film ist ein Drahtseilakt zwischen Komödie und Drama, zwischen Authentizität und Klischee, zwischen Porträt einer immigrierten Arbeiterfamilie und polithistorischem Epos, zwischen der warmherzigen türkischen Working-Class-Dame und dem spießigen deutschen Anwalt – es ist ein Drahtseilakt, der polarisieren wird, manchmal auch die Grenze zum Klischee streift und durch die Figur von Rabiye Kurnaz getragen wird.
Denn Meltem Kaplans Darstellung macht so einige Drehbuchpatzer wett (die Freundschaft zwischen dem Anwalt und der Mutter ist zwar berührend, aber auch nicht frei von „die Deutschen sind so und die Türken so“-Vereinfachungen). Weil der Zuschauer spürt, wie sehr diese Mutter leidet, weil sich in ihrer Leichtigkeit (sie backt Kuchen für die Anwaltskanzlei, trinkt literweise Cola, hat stets ein türkisches Sprichwort parat) eine Schwere, eine Ruhelosigkeit manifestieren, weil sich hinter diesem Wirbelwind von einer Frau eine verletzliche, unsichere, leidende Mutter verbirgt – und weil es Dresen gelingt, hinter der Fassade seiner Komödie immer wieder Risse zu filmen, in denen die Brutalität des Politischen aufblitzt.
„Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen, Offizieller Wettbewerb, 3,5/5
Marco auf dem Lande
Nach „Yin Ru Chen Yan“ beschäftigen sich zwei weitere Wettbewerbsfilme mit dem ländlichen Leben: Während Michael Kochs Schweizer Beitrag „Drii Winter“, ähnlich wie beim chinesischen Wettbewerbsfilm, eine unerwartete Liebesidylle mit tragischem Ende erzählt, geht es in „Alcarràs“ um eine Familie, deren rurale Existenz durch die Preispolitik von Großkonzernen und dem daraus folgenden Modernisierungszwang bedroht wird.
Dass die Dorfeinwohner von Isenthal dem Neuen gegenüber erstmal skeptisch sind, ist in dieser kleinen, autarken Dorfgesellschaft logisch: Der kauzige Marco (Simon Wisler) redet nicht viel und trinkt Eistee statt Bier. Da er jedoch die Arbeit nicht scheut und bald die alleinerziehende Anna (Michèle Brand) heiratet, wird er allmählich in der Dorfgemeinschaft aufgenommen. Dass irgendwas mit dem stummen Marco nicht stimmt, merkt Anna, die als Postbotin, Kellnerin und Haushälterin arbeitet, recht schnell.
Nach einem Motorradunfall entdeckt der Arzt einen drei mal sechs Zentimeter großen Tumor in seinem Gehirn, der den für die Impulskontrolle zuständigen Frontlappen bedrängt. Fortan häufen sich die Vorfälle: Weil sein Mitarbeiter eine Kuh schlachten will, bricht Marco ihm den Arm. Als Anna ihren Ehemann vor ihrer Tochter Julia masturbieren sieht, wird die Situation definitiv untragbar – und das, obschon sie sich bewusst ist, dass ihr geliebter Marco, den die Dorfeinwohner nur noch „den Verrückten“ nennen, bloß so handelt, weil er schwer krank ist.
Michael Kochs langsames, leises Dorfdrama – wie bei „Yin Ru Chen Yan“ redet dieses ungleiche Paar kaum miteinander – wirkt naturalistisch, ja in seiner Unaufgeregtheit fast schon dokumentarisch, der Regisseur verleiht seinem Film jedoch einige formale Manierismen: In kurzen Intermezzi kommentiert ein Schweizer Kirchenchor wie in einer griechischen Tragödie das Geschehen, immer wieder fängt die Kamera Felsbrocken ein, die sich vom Berggipfel gelöst haben und die Landschaft zerrütten – man denkt an Stonehenge, aber auch an den Klumpen in Marcos Kopf.
Diese Ästhetisierung ist konsequent, wirkt stellenweise aber ähnlich aufgesetzt und befremdlich wie die Szene, in der plötzlich ein 40-köpfiges Team im Dorf aufkreuzt, um auf den Schweizer Gipfeln Sequenzen eines Bollywood-Films zu drehen. So ganz passt diese plötzliche Verschrobenheit nicht zu den naturalistischen Ansprüchen des Films, vielleicht funktionieren diese Regieeinfälle aber gerade, weil sie sich nicht in die Trostlosigkeit des Geschilderten einfügen lassen. Genau wie „Yin Ru Chen Yan“ ist Kochs zweiter Spielfilm ein schonungsloses Drama, das ganz ohne Pathos und viel Dialoge auskommt und mit prägenden Bildern punktet. Schade nur, dass der Film ein paar Längen hat und der dramaturgische Bogen deswegen streckenweise abflacht.
An einem Strang
24 Berlinale-Stunden später ist Qumet Solé außer sich. Weil sein Vater damals keinen Vertrag unterschrieben hat, sondern das Terrain, auf dem die Pfirsichbäume der Familie wachsen, nur mündlich zugeschrieben bekam, droht der Familie nun die Zwangsräumung. Die Bäume sollen durch Solarpaneele ersetzt werden, was spätestens dann für große Zerrissenheit innerhalb der Familie sorgt, wenn deutlich wird, dass Quemets Schwester und dessen Mann Cisco diese Modernisierung vielleicht nicht unbedingt befürworten, zumindest aber als unabänderbare Entwicklung hinnehmen.
Konsequent fängt Regisseurin Carla Simón den Alltag auf der Pfirsichplantage ein, ohne dabei plakativ zu zeigen, wie die Modernisierungsfrage die Familienangehörigen nach und nach spaltet. Während die jüngste Tochter Iris mit ihren Cousins spielt und Mariona ihren Körper durch Tanzchoreographien kennenlernt, pflanzt Sohn Roger heimlich Marihuana zwischen zwei Pfirsichbäumen.
Die Risse in den Familienverhältnissen zeigen sich allmählich – und das nicht nur in den großen Gesten des tobsüchtigen Streithahns Qumet, sondern in den kleinen Details. Die junge Iris leidet darunter, dass ihre Cousins nicht mehr da sind, um die Welt zu ihrem Spielfeld zu machen, Bruder Roger vermisst die Komplizenschaft von Cisco … Während die Familie langsam zerfällt, weil in ihrer Konstellation plötzlich Arbeits-, Diskussions- und Spielpartner fehlen, fahren die Lastwagen der Großkonzerne immer wieder geduldig vorbei. Sie wissen, dass sie diese Partie nicht verlieren können.
Gegen Ende nimmt Qumet an einer Protestaktion teil: Die Plantagenbetreiber rebellieren, weil die Großkonzerne die Obstpreise so sehr in den Keller drücken, dass sie defizitär arbeiten müssen, und lassen einen Traktor symbolisch eine Pfirsichernte zermalmen. In einem schönen Gestus der Versöhnung gesellt sich der rebellische Roger zu seinem Vater – endlich schreien sich die beiden nicht mehr gegenseitig an, sondern bündeln ihre Wut gegen den gemeinsamen Feind.
Schade nur, dass bei „Alcarràs“, wie in vielen Wettbewerbsbeiträgen, die politische Situation etwas zu sehr im Hintergrund bleibt, auch wenn sie in den Familienkonflikten immer wieder verbildlicht wird. Die politischen Entscheidungen konditionieren den Alltag der porträtierten Familie so sehr, dass sie letztlich, wie die streikenden Bauern in Houellebecqs „Serotonin“, zum Aktivismus gezwungen wird. Dass die Familienangehörigen in „Alcarràs“ erst so spät an einem Strang ziehen – darin liegt die wahre Tragik dieses ruhigen Films.
„Drii Winter“ von Michael Koch, Offizieller Wettbewerb, 3,5/5
„Alcarràs“ von Carla Simón, Offizieller Wettbewerb, 3/5
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