RTL-Urteil / Politikwissenschaftler Poirier im Gespräch: „Regierung sollte sich über das Urteil freuen“
Prof. Philippe Poirier von der Universität Luxemburg sieht im RTL-Urteil des Verwaltungsgerichts eine klare Stärkung des Parlaments. Der Politikwissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für parlamentarische Studien wundert sich gar, dass kein Abgeordneter früher Initiative ergriffen hat. Warum sich die Regierung über das Urteil freuen sollte, erklärt der Wissenschaftler im Gespräch mit dem Tageblatt.
Der Parlamentarismus in Luxemburg unterscheide sich in seiner Entwicklung seit den 1960er Jahren nicht wesentlich von anderen Demokratien in Europa. Das sagt Prof. Philippe Poirier im Gespräch mit dem Tageblatt. „Den Parlamentarismus in Luxemburg kann man – genau wie in anderen Demokratien auch – als ‚rationalisierten Parlamentarismus‘ bezeichnen. Das bedeutet, dass wesentliche Aspekte der Gesetzgebung nicht der parlamentarischen Arbeit, sondern der Arbeit der Regierung entspringt“, sagt Poirier. Das sei ein Phänomen, das im Zusammenhang mit der Europäisierung der politischen Systeme festzustellen sei, und treffe keinesfalls allein auf die Luxemburger Chamber allein zu, so der Politikwissenschaftler.
Ce qui est étonnant, c’est que d’autres parlementaires n’ont pas fait comme Sven ClementPolitikwissenschaftler an der Universität Luxemburg
„Die Verfassung und das Chamber-Reglement geben den Abgeordneten weitreichende Machtbefugnisse, die es formal zu einem vergleichsweise starken Parlament machen“, erklärt Poirier. In Westeuropa sind nur wenige legislative Kammern mit mehr Befugnissen ausgestattet. Er führt die skandinavischen Länder und Deutschland als Beispiel auf. Die „Chambre des Députés“ sei, was ihre relative Stärke gegenüber der Regierung anbelange, jedoch vergleichbar mit dem französischen oder dem belgischen Parlament.
Lehrstuhl für parlamentarische Studien
Prof. Dr. Philippe Poirier ist Inhaber des Lehrstuhls für parlamentarische Studien an der Universität Luxemburg. Der Lehrstuhl fördert in Zusammenarbeit mit dem Parlamentspräsidenten, dem Generalsekretär des Parlamentes, dem Ehrengeneralsekretär und dem „Comité de pilotage“ das Studium des Parlamentarismus im nationalen und europäischen Entscheidungsprozess. Der Lehrstuhl trägt zu Forschungsaktivitäten vor allem in der Politikwissenschaft in den Bereichen Demokratie, nationale Gesetzgebung und vergleichende Politik in Europa bei.
Der Fakt, dass das Parlament in der Praxis eher schwach wirke, sei der Tatsache geschuldet, dass weder die Abgeordneten der Mehrheitsparteien noch die Abgeordneten der Opposition ihre Befugnisse vollends ausnutzen würden, sagt Poirier. „Ein gutes Beispiel sind die Budgetdebatten, wo in den letzten Jahren wenige bis gar keine Oppositionspolitiker – auch schon vor 2013 – von ihrem Änderungsrecht im Rahmen der Budgetdebatten und der anschließenden Abstimmung im Parlament Gebrauch gemacht haben.“ Die Verankerung der „Chambre des Députés“ als schwaches Parlament im Gesetzgebungsprozess in Luxemburg sei deshalb eher auf die Abgeordneten als auf ihre institutionelle Verankerung in der Verfassung zurückzuführen.
Doch warum nehmen die Abgeordneten ihre Machtbefugnisse nicht wahr? „Luxemburg ist eine Konkordanzdemokratie. Das bedeutet, dass versucht wird, politische Entscheidungen durch einen Konsens herbeizuführen.“ Für Luxemburg gilt: Die Regierungsparteien haben trotz gegensätzlicher politischer Ansichten in einem Entscheidungsfindungsprozess zu einem Konsens – als Beispiel kann der Koalitionsvertrag aufgeführt werden – gefunden. „Die Parteien befinden sich in einem stetigen Koalitionsdenken. Die Oppositionsparteien können sich nach der nächsten Wahl wieder in der Regierung wiederfinden – und die Mehrheitsparteien auf der Oppositionsbank“, sagt Poirier und merkt an: „Es ist deshalb umso interessanter, dass die Wiederherstellung der parlamentarischen Befugnisse über ein Urteil der Justiz erfolgt.“ Erstaunlich sei hingegen, dass nicht schon andere Abgeordnete das getan haben, was der Piraten-Abgeordnete Sven Clement gemacht hat: seine Rechte als Parlamentarier wieder einklagen.
Kein Affront gegenüber der Regierung
Das Urteil sei ja auch nicht gefällt worden, um der Regierung Unannehmlichkeiten zu bereiten, führt Poirier weiter aus. „In einer Demokratie soll es eine strikte Trennung zwischen Legislative und Exekutive geben. Dieser Zusammenhang wurde durch das Gerichtsurteil lediglich bestätigt – ebenfalls ein Phänomen, das nicht nur spezifisch in Luxemburg festzustellen ist“, sagt Poirier. Der Lehrstuhl der Universität für parlamentarische Studien, der in engem Kontakt mit der Abgeordnetenkammer steht, habe schon mehrere Forschungsberichte geschrieben und Ansätze aufgezeigt, wie die parlamentarische Kontrolle verstärkt werden könne. Schlussendlich habe es jedoch ein Gerichtsurteil gebraucht, um die Diskussion anzustoßen, stellt Poirier fest.
Le gouvernement devrait se féliciter de cet arrêtPolitikwissenschaftler an der Universität Luxemburg
Die Befürchtung, dass der Standort Luxemburg durch das Urteil an Attraktivität verlieren könnte, teilt Poirier nicht. „Das neue Phänomen der Transparenz und die einhergehende Kontrolle der Regierung heißen ja nicht, dass alles öffentlich gemacht wird“, erklärt der Politikwissenschaftler. Premierminister Xavier Bettel (DP) hatte in einem Interview mit dem Luxemburger Wort gesagt, Luxemburgs Attraktivität würde unter dem Urteil leiden. Privilegierte Partnerschaften würden ja in ganz Europa vertraglich festgehalten werden, wo Abgeordnete Zugriff darauf haben, meint Poirier und führt Deutschland als Beispiel an: „Im Deutschen Bundestag wurde ein System eingeführt, das es den Abgeordneten ermöglicht, die Regierung trotz Vertraulichkeitsklauseln zu kontrollieren“, so Philippe Poirier. „Ich denke nicht, dass Deutschland deswegen an Attraktivität verloren hat.“ Auch Estland habe in der Hinsicht einen interessanten Kontrollmechanismus entwickelt.
„Das Urteil ist ja auch kein Affront gegen die Regierung“, sagt Poirier. Ganz im Gegenteil: Die Regierung müsse sich eigentlich über das Urteil freuen. Schließlich sei genau der Punkt 2018 im Koalitionsvertrag festgehalten worden. Tatsächlich schreiben die drei Koalitionsparteien im Abkommen: „Die Koalitionsparteien sprechen sich dafür aus, dass die Abgeordnetenkammer zusätzlich erforderliche Mittel beansprucht, um eine Beurteilung und Überwachung der Gesetzesdurchsetzung vornehmen zu können.“
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Do ass d‘Präesidentin vun der FEDIL awer aner Meenong. Wat d‘Madame dozou op RTL gesoot ass grenzwäerteg an froen mech , dat d‘Meenong vun dem ganzen Verain oder hir perséinlech ass.Wenn et hir perséinlech ass, misst d’FEDIL Faarw bekennen an eng Démissioun fuerderen.