Berlinale / Porträt des Künstlers als Außenseiter
„My Salinger Year“ will Coming-of-Age-Streifen, Hagiografie und Rom-Com zugleich sein – die Mischung funktioniert allerdings deswegen nicht, weil J.D. Salinger bloß ein Vorwand ist, um eine seichte Story mit Figuren ohne Tiefe zu inszenieren. Im Gegensatz dazu ist „Volevo nascondermi“ ein einfühlsames, schön gefilmtes, stark gespieltes Werk über einen tragischen, faszinierenden Außenseiter.
Je mysteriöser das Leben eines Schriftstellers ist, desto neugieriger sind die Fans, Journalisten und Forscher: Vor Thomas Pynchon galt dies bereits für den enigmatischen Eremiten J.D. Salinger, der sich nach einigen Veröffentlichungen (darunter der Kultroman „The Catcher in the Rye“ und diverse Kurzgeschichten) ganz aus der Öffentlichkeit zurückzog und die letzten 45 Jahre seines Lebens nichts mehr veröffentlichte.
„My Salinger Year“ beruht auf dem gleichnamigen Text von Joanna Rakoff über ihre Zeit in der Literaturagentur Harold Ober Associates, wo sie unter anderem die Fanpost von Salinger nach einem vorgeschriebenen Modell beantworten sollte – und mit der kauzigen, technologiefeindlichen Margaret (rettet fast den Film: Sigourney Weaver) klarkommen musste.
Der literaturbegeisterten Joanna, die zu Beginn ihres Jobs noch kein Buch von Salinger gelesen hat, fällt es jedoch schwer, die Fans, die ‚Salinger’ ihre Lebensgeschichte und ihren Frust anvertrauen, mit einem unpersönlichen Schriftstück abzufertigen, weswegen sie irgendwann das Risiko auf sich nimmt, auf verschiedene Briefe persönlich zu antworten. Gleichzeitig träumt sie von einer literarischen Karriere, erwähnt dies aber nicht in der Agentur, weil ihre Arbeitgeberin Margaret fest davon überzeugt ist, dass emporsteigende Möchtegernautoren die schlechtesten Agenten überhaupt sind.
Dünne Figurenzeichnung
„My Salinger Year“ will von allem etwas – und enttäuscht deswegen auf ganzer Linie. Trotz zahlreicher Verweise auf Salingers Werk funktioniert der Film nicht als Künstlerporträt oder Salinger-Hagiografie, weil der Film sich neben einem oberflächlichen Umriss von Salingers Persona schnell auf die Figur von Joanna konzentriert.
Auf dieser Ebene ist der Film ein klassischer Coming-of-Age-Streifen, bei dem Handlung und Figurenzeichnung allerdings äußerst dünn sind: Die aus der Provinz fliehende Joanna entdeckt das Großstadtleben, lernt den jungen Autor Don (Douglas Booth) kennen, zieht mit ihm zusammen, merkt viel zu spät, dass Don ein selbstbezogener, talentfreier Idiot ist (dem Zuschauer dürfte dies nach Dons erstem Auftritt aufgefallen sein – dies sagt aber leider mehr über die beschränkte Figurenzeichnung als über die schauspielerische Leistung von Douglas Booth aus), bedauert die vergangene Romanze mit Karl (Hamza Haq), dessen Figur sich allerdings darauf beschränkt, Joanna anzuhimmeln, und deswegen so zweidimensional wie eine Werbefigur aus Pappe wirkt.
Salinger als Vorwand
„Wie ein Julia-Roberts-Film ohne Julia Roberts“, meinte Kollege Tom Haas nach der Premiere. Peter Bradshaw vom Guardian beschrieb den Streifen als müden Abklatsch von „The Devil Wears Prada“. Vor allem aber reiht er sich in diese Reihe von filmischen Werken ein, die ein sehr verklärtes Literaturverständnis als Vorwand nutzen, um einer seichten Story einen intellektuellen Unterbau zu geben. Er ist das Äquivalent dieser Instagram-Fotos von Menschen, die sich mit einem Buch und einer Tasse Tee selbst belichten. Der Film hätte mit nur wenigen Änderungen auch „My Foster Wallace Year“ oder „My Pynchon Year“ heißen können.
Salinger selbst wird in seinen wenigen Auftritten als Prophet dargestellt; den paar netten Banalitäten, die er Joanna übers Telefon mit einer tiefen Baritonstimme zuflüstert, verleiht der Film die Gewichtigkeit von philosophischen Maximen. Wie Salinger auf eine solche Darstellung reagiert hätte, kann man sich nur allzu gut vorstellen. Hinzu kommt, dass die 90er-Jahre-Ästhetik des Films – damit auch wirklich jeder versteht, in welchem Jahrzehnt das „Salinger Year“ stattfand –, die sich in der Kleidung, der Einrichtung der Agentur und den Farbtönen manifestiert, dem Film noch viel mehr den Charakter eines Spielfilms, den man sich abends vor dem Fernseher in Ermangelung besserer Alternativen anschaut, verleiht.
Kunst und Leiden
Ganz anders ist die Darstellung des Künstlers bei „Volevo nascondermi“ (übersetzt: „Ich wollte mich verstecken“), einem schonungslosen Film über das Schicksal des italienischen Malers Antonio Ligabue. In raschen Einstellungen illustriert Regisseur Giorgio Dirittis Film die Kindheit und Jugend des Künstlers in der Schweiz. Nach dem Tod seiner Mutter wird Ligabue von einem Schweizer Paar großgezogen, als Kind und als Jugendlicher zeigt er sich starrköpfig, gewalttätig, verstört und verstörend – die ersten Filmszenen fokussieren sich auf das Hänseln der anderen Kinder, zeigen einen Lehrer, der meint, Ligabue wäre „ein Fehler“ und „verdiene es nicht, zu existieren“.
Nach einem Aufenthalt in einer Psychiatrie wird Ligabue aus der Schweiz verbannt, in Italien entdeckt er das Malen, Jahre später wird er vom Künstler Renato Marino Mazzacurati entdeckt und baut sich langsam einen Ruf auf – Ligabues Kunst zeugt von seiner Vorliebe für Tiere, seine grellen, naiven Gemälde sind aber erst lange nach dem Tod des Malers als Maßstäbe des italienischen „Art brut“ eingegangen.
Verfluchte Welt, geliebte Kunst
Schauspieler Elio Germano verkörpert Ligabue großartig – die gequälte Zerrissenheit dieses von der Gesellschaft verstoßenen Künstlers spielt er intensiv, jedoch zu keinem Zeitpunkt pathosgeladen oder klischeehaft. Germano tobt, gackert wie ein Huhn, rollt sich auf dem Boden, leidet, schimpft, verflucht die Welt. Der Zuschauer leidet mit, schüttelt manchmal den Kopf über Ligabues Mitmenschen, bewundert die Sturheit, mit der er der Welt und ihren Hindernissen gegenübertritt.
Als Ligabue wiederholt um die Hand einer Frau bittet und die Mutter ihn stets verscheucht und hinzufügt, er hätte doch gar kein Geld und könne ihrer Tochter nichts bieten, wird er zornig und wiederholt: „Aber ich bin doch ein Künstler.“ Die Kunst wird zur Rettung Ligabues – er weiß, dass sie ihm nicht nur eine minimale gesellschaftliche Anerkennung und etwas Geld einbringt, sondern seiner traurigen Existenz etwas Sinn einhaucht, weswegen er seinen Status wie ein Mantra wiederholt und ruhelos sein von Efeu behangenes Haus mit Gemälden und Mauerzeichnungen dekoriert.
Auch visuell ist der Film eine Pracht – während einer wunderbaren Einstellung scheint ein von Ligabue skulptierter Löwe wie durch die Luft zu schweben, in einer zweiten Einstellung sieht man den Löwen, der an einem Traktor befestigt wurde, um von Ligabue und einigen Farmern nach Reggio zu einem Wettbewerb gebracht zu werden. Als der Traktor zum Stehen kommt, weil das Benzin alle ist, kriegt Ligabue einen Wutanfall und entscheidet kurzerhand, den Kopf des Löwen abzutrennen, um den eigenhändig und zu Fuß zum Wettbewerb zu bringen – man sieht ihn eine Sequenz später, wie er durch die Pampa stapft, den Kopf seines Löwen streichelt und ihm zuflüstert: „Wir brauchen die anderen nicht.“ Es ist dieses Beharren, das die Natur des Künstlers ausmacht – ein Beharren, dass man sowohl in Germanos akribischem Spiel und Dirittis geduldigem, präzisem und schonungslosem Film wiederfindet.
My Salinger Year
Eröffnungsfilm
1,5/5
Volevo nascondermi („Hidden Away“)
Im Wettbewerb
4/5
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