Uruguay / Präsidentschaftswahlen im südamerikanischen Musterland
Am Sonntag stehen in Uruguay Wahlen an. Wer neuer Präsident wird, entscheidet sich wohl erst im zweiten Durchgang. Dazu gibt es Referenden zur Rente und zu den Befugnissen der Sicherheitskräfte.
Als zweifacher Weltmeister gehört Uruguay zu den Fußballgroßmächten. Den ersten Titel holten die „Charrúas“, wie die Nationalelf des 3,4 Millionen Einwohner zählenden Landes genannt wird, 1930 zu Hause in Montevideo, den zweiten 1950 in Brasilien. Die „República Oriental del Uruguay“, die Republik östlich des Uruguay, wie der Grenzfluss zu Argentinien heißt, wurde einst als die Schweiz Südamerikas bezeichnet. Dabei erinnert es landwirtschaftlich nur bedingt an den Alpenstaat. Es gehört jedoch nach wie vor zu den stabilsten und wohlhabendsten Demokratien Lateinamerikas. Auch wenn es einige Krisen erlebte.
Im Lauf der Zeit fiel Uruguay jedoch dem gleichen Schicksal anheim wie die anderen Länder der Region: Dem wirtschaftlichen Niedergang folgten soziale Spannungen, Unruhen und schließlich 1973 die Militärdiktatur. Das Regime führte wie die Machthaber in den Nachbarländern einen schmutzigen Krieg gegen die Opposition, insbesondere gegen den kommunistischen „Movimiento de Liberación Nacional“, die sogenannten Tupamaros. Oppositionelle wurden verfolgt, ins Gefängnis geworfen, gefoltert und ermordet. Intellektuelle wie etwa die Schriftsteller Juan Carlos Onetti und Eduardo Galeano verließen das Land und lebten lange im Exil.
Das fiktive Santa María, Schauplatz mehrerer Romane Onettis wie etwa „La vida breve“ (Das kurze Leben, 1950), unterscheidet sich kaum von einer realen uruguayischen Kleinstadt – der 1994 in Madrid verstorbene Autor ist einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Offene Adern
Dagegen ist Galeanos Essay „Las venas abiertas de América Latina“ (Die offenen Adern Lateinamerikas, 1971) ein sozialgeschichtliches Werk – und ein Klassiker der politisch-historischen Literatur. Der Journalist stellt direkte Bezüge zwischen der Ausbeutung des Kontinents und die Ermordung der Indigenen durch die Kolonialmächte einerseits und den Missständen im heutigen Lateinamerika andererseits her. Die Unabhängigkeit von den Spaniern und Portugiesen habe lediglich neue Abhängigkeiten mit sich gebracht, etwa von den USA. Als das Buch erschien, prägten politische Umstürze die Region. „Die offenen Adern“ war unter den Militärdiktaturen in Argentinien, Chile und Uruguay verboten.
Als Uruguay 1985 zur Demokratie zurückkehrte, wurde José „Pepe“ Mujica zusammen mit anderen Tupamaros aus dem Gefängnis entlassen. Der 1935 geborene Sohn von verarmten Bauern hatte 14 Jahre hinter Gittern, die meiste Zeit in Einzelhaft, verbracht. Nach seiner Freilassung wurde er Bauer, pflanzte Tomaten und Kürbisse, machte parallel dazu aber Politik unter anderem als Senator und Minister. 1989 gründeten die Tupamaros den „Movimiento de Participación“ (MPP). Es sollte aber noch bis 2004 dauern, als mit dem sozialdemokratisch orientierten Politiker Tabaré Vázquez der erste Präsident seit mehr als 150 Jahren gewählt wurde, der nicht einer der beiden rivalisierenden Traditionsparteien, dem konservativen „Partido Nacional“ oder dem eher liberalen „Partido Colorado“, angehörte, sondern dem linken Bündnis „Frente Amplio“ (FA).
2009 kandidierte Pepe Mujica und gewann. Während seiner Amtszeit bis 2015 lebte das Staatsoberhaupt weiter auf seiner „chacra“, einem kleinen Bauernhof auf dem Campo, dem Land, und fuhr einen alten VW Käfer. Von seinem Präsidentengehalt behielt Mujica nur zehn Prozent, den Rest spendete er an kleine Betriebe und NGOs. Der kauzig wirkende Mann sei der „Inbegriff des Antipolitikers“, schreibt der Journalist Sebastian Schoepp in „Das Ende der Einsamkeit“ (2011). Das Buch handelt vom wirtschaftlichen, politischen und sozialen Aufschwung einiger südamerikanischer Staaten wie Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay in der ersten Dekade des Jahrhunderts.
Sein Wahlsieg war nicht zuletzt darauf zurückführen, dass Mujica dem Klassenkampf entsagt hatte und er sich durch seine Lebensweise beliebt und glaubwürdig machte. Auf Wahlkampfveranstaltungen sagte er: „Wir sind nicht gegen die Reichen. Die Kräfte des Kapitals haben bei uns alle Sicherheiten, aber es muss geteilt werden.“ Und was die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen während der Militärdiktatur anging, betonte Mujica stets, dass es ihm nicht um Rache ging, sondern um Versöhnung.
Im vergangenen Jahrzehnt stießen die linken Regierungen Lateinamerikas, etwa von Cristina Kirchner in Argentinien und Dilma Rousseff in Brasilien, ganz zu schweigen von dem mehr und mehr autoritär regierenden venezolanischen Staatschef und Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro, an ihre Grenzen. Die ökonomischen Krisen in den Ländern offenbarten, dass sie es versäumt hatten, wirklich strukturelle Reformen durchzuführen. Nicht zuletzt waren sie sehr stark von der Covid-19-Pandemie betroffen.
Gesellschaftliche Reformen
Dagegen haben die gesellschaftspolitischen Reformen des FA wie etwa die Legalisierung von Cannabis überdauert: Uruguay ist weltweit das erste Land, das den Verkauf von begrenzten Mengen in Apotheken und den Anbau unter staatlicher Kontrolle erlaubte. Außerdem ermöglichte ein Gesetz seit 2013 die gleichgeschlechtliche Ehe. Das Land gilt traditionell als liberal gegenüber Homosexuellen. Seit Oktober 2018 ist ein rechtlicher Geschlechtseintrag als „nicht männlich/weiblich“ möglich. Nicht zuletzt hat Uruguay einen recht guten Korruptionswahrnehmungsindex: Das Land liegt nur knapp hinter Luxemburg und Deutschland, gleichauf mit Belgien und noch vor Frankreich – im lateinamerikanischen Maßstab eine Ausnahme.
Zu einer Rückkehr der Konservativen an die Macht kam es nach einer erneuten Amtszeit von Tabaré Vázquez (2015-2020) durch den Wahlsieg von Luis Lacalle Pou vom Partido Nacional. Wenn am Sonntag, dem 27. Oktober, wieder die 2.766.323 im Wählerverzeichnis eingetragenen Wahlpflichtigen zur Urne gerufen werden, führt Yamandú Orsi vom Frente Amplio die Meinungsumfragen mit 42 bis 44 Prozent und einem Vorsprung von rund 20 Prozentpunkten an, gefolgt von Álvaro Delgado, dem Kandidaten des Amtsinhabers Lacalle Pou, der kein zweites Mal hintereinander antreten darf. Erhält keiner der elf Kandidaten 50 Prozent plus eine Stimme, kommt es am 24. November zur Stichwahl. Derweil hat der Anwalt und TV-Moderator Andrés Ojeda von der Colorado-Partei in den jüngeren Umfragen zugelegt.
Außerdem werden die 30 Senatoren und 99 Abgeordneten des Parlaments gewählt. Hinzu kommt, dass über eine Rentenreform, die eine Senkung des Eintrittsalters auf 60 Jahre bei gleichzeitiger Erhöhung der Mindestrente vorsieht, was auf eine Initiative des Gewerkschaftsdachverbandes zurückgeht, und über eine von der Regierungskoalition angestrebte Befugnis der polizeilichen Sicherheitskräfte, nächtliche Razzien durchzuführen, abgestimmt wird.
Eine konsularische Stimmabgabe bei den Wahlen ist nicht möglich. Laut Schätzungen leben fast 600.000 Uruguayer im Ausland, ein großer Teil davon in Argentinien. In der Rentenfrage sind nicht nur die Regierungskoalitionäre gegen die Senkung des Eintrittsalters, sondern auch Ökonomen innerhalb des FA. Für diesen könnte das Referendum daher zur Zerreißprobe werden. Die meisten Experten meinen, dass die Rente ab 60 die Wirtschaft Uruguays überfordern würde.
Land der Erneuerbaren
Wie vor fünf Jahren, als auch der Frente-Amplio-Kandidat führte, wird jedoch auch diesmal erwartet, dass sich die National- und Colorado-Partei für die Stichwahl zusammenschließen. Nur war damals deren Rückstand auf den linken Kandidaten nicht so groß. Zudem hat Orsi im Vergleich zu 2019 einen wesentlich größeren Vorsprung. Allgemein wird erwartet, dass die Wahl in der politischen Mitte gewonnen wird.
Nur hat die aktuelle liberalkonservative Regierung eine ernüchternde Bilanz vorzuweisen. Während die Kriminalität auf ein historisch hohes Niveau gestiegen ist und der Einfluss der Drogenkartelle auch in dem einstiegen südamerikanischen Musterstaat gestiegen ist, hat sich auch die Wirtschaft nach der Pandemie kaum verbessert. Verschlechtert hat sich im Gegenteil die Einkommenssituation. Heute leben etwa 50.000 mehr Menschen unter der Armutsgrenze als vor der Legislaturperiode. Selbst die extreme Armut, die in Uruguay als beseitigt galt, ist wieder anzutreffen.
Derweil hat das Land bei den erneuerbaren Energien Positives zu vermelden. Vor etwa 20 Jahren kam der Strom zu 56 Prozent aus Erdöl, das 38 Prozent der Importe des Landes ausmachte. Seit 2019 besteht der Elektrizitätsmix zur Hälfte aus Wasserkraft, zu 30 Prozent aus Windenergie, zu 15 Prozent aus Biomasse, danach folgen Solarenergie und Öl (drei beziehungsweise zwei Prozent), sagte der Physiker Ramón Méndez, der frühere Direktor für Energie im Industrie-, Energie- und Bergbauministerium sowie treibende Kraft der Energiewende in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung taz. Uruguay hat demnach die niedrigsten CO2-Emissionen in der Region.
Ist der ehemalige Fußballweltmeister also heute ein Champion in der Nachhaltigkeit? Uruguay weiß bis heute zu überraschen. Der Campo hat immer wieder kleine Wunder hervorgebracht. Allerdings hat sich auch eine andere Tendenz in den letzten Jahren verstärkt: In dem Agrarstaat sind nur noch neun Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Die Zeit der Gauchos gehört der Vergangenheit an und ist nur noch Folklore.
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