LGBTQIA+ / Pride, Politik, Pitcher: Kneipengespräch mit Tilly Metz und Marc Angel
Sie gehören verschiedenen Parteien an, setzen sich in Europa aber beide für LGBTQIA+-Rechte ein: die EU-Abgeordneten Tilly Metz und Marc Angel. Das Tageblatt trifft sie bei einem Zwischenstopp in Esch auf ein Gespräch über Politik, Ehe und Prides.
Ein Kleinkind rast auf einem Tretrad den Hang hinunter, auf dem die Escher Kultkneipe „Pitcher“ Stühle und Tische zusammengestellt hat. Dem Kind jagt ein Mann nach. Es folgt ein dumpfer Aufprall, ein Rascheln: Das Kind ist mit dem Rad in einen Busch gekracht, klammert sich schon bald weinend an seinen Helfer in der Not. Das lenkt sowohl die EU-Abgeordneten Tilly Metz („déi gréng“) und Marc Angel (LSAP) als auch ihre Tischnachbar*innen ab. „Siehst du, Tilly, dafür lohnen Grünanlagen sich“, ruft einer der Besucher Metz spöttisch zu. Die Politikerin lacht, gibt ihm recht.
An dem Nachmittag sitzen jedoch weder sie noch Angel in Esch, um über die Begrünung von Innenstädten zu diskutieren. Thema ist wenige Tage vor der „Luxembourg Pride“ ihr Engagement für LGBTQIA+-Rechte in Europa. Nach Zwischenstationen in der Nationalpolitik trat Metz 2018 für „déi gréng“ ins Europaparlament ein und wurde bei den diesjährigen EU-Wahlen in ihrem Amt bestätigt. Angel, ebenfalls wiedergewählt, ist seit 2019 EU-Abgeordneter und derzeit noch Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Beide sind zudem Mitglied der LGBTI Intergroup des EU-Parlaments. Angel copräsidiert das Bündnis seit 2020. Ihr Aktivismus für LGBTQIA+-Rechte begann aber lange vor der Zeit zwischen Brüssel, Straßburg und Luxemburg.
Frühe Anfänge
Angel setzt sich seit Ende der 1980er-Jahre politisch für LGBTQIA+-Rechte ein. Auslöser seines frühen Aktivismus war unter anderem die Aidskrise. Er engagierte sich freiwillig bei der HIV-Beratung der „Croix rouge“; LGBTQIA+-Rechte flossen auch in seine Arbeit bei den „Jonk Sozialisten Lëtzebuerg“ ein. Sowohl er als auch Metz haben nahestehende Menschen durch die Krankheit verloren. „Anders als heute gab es damals keine Behandlungsmöglichkeiten“, erzählt Angel. „Es war keine schöne Zeit. Ich habe auch Freunde durch Suizid verloren, weil sie Angst vor einem Coming-out hatten.“
Im Gegensatz zu Metz outete sich Angel bereits in seiner Jugend als homosexuell. Metz war hingegen bis zu ihrer Beziehung mit Barbara Agostino (DP) mit Männern liiert. Es bedurfte aber keiner Frau an ihrer Seite, um sich für LGBTQIA+-Menschen starkzumachen. Sie betont, seit Kindesbeinen sensibel auf Machtmissbrauch und Unterdrückung jeder Art zu reagieren. Die Liebe zu einer Frau habe ihrem Einsatz für queere Personen höchstens zu mehr Glaubwürdigkeit bei den LGBTQIA+-Communitys verholfen.
„Wenn du selbst betroffen bist, verstehst du, was das für ein Schritt ist, dich vor deiner Familie und deinem Bekanntenkreis zu outen“, sagt sie. Zwar habe sie nie einen Hehl aus ihrer Liebe gemacht, Angst vor Rückweisung empfand sie trotzdem. Als ihre Beziehung bekannt wurde, war sie soeben zur Bürgermeisterin von Weiler gewählt worden (2005), zuvor war sie außerdem als stellvertretende Direktorin des „Lycée technique pour professions ducatives et sociales“ tätig gewesen.
Manchmal denke ich: ‚What the fuck? Warum willst du mir meine Rechte absprechen?‘Europaabgeordnete „déi gréng“
„War’s das jetzt mit der Karriere?“, bangte sie damals. „Ich war der erste weibliche Bürgermeister der Gemeinde, das erste gewählte Mitglied von ‚déi gréng’ in Weiler-la-Tour, noch dazu lesbisch. Und als wäre das nicht schon genug, war ich mit einer ehemaligen Schülerin zusammen!“ Völlig unbegründet waren Metz’ Ängste nicht. Ihr Umfeld reagierte eher gelassen auf die Frau an ihrer Seite, doch musste der Gemeindesekretär unangenehme Anrufe entgegennehmen: Unbekannte ließen sich über ihre lesbische Beziehung aus. Heute sei sie eher Anfeindungen wegen ihres Kampfes gegen die Pharmaindustrie und für Tierrechte ausgesetzt.
Auch Angel gibt zunächst vor, keine Diskriminierung aufgrund seiner sexuellen Orientierung zu erfahren. Eine Aussage, die er später relativiert: „Neben Pöbeleien an alkoholreichen Abenden, erhielt ich in der Vergangenheit viele Hassnachrichten per Mail und Post aus Polen und Ungarn – vor allem in Bezug auf mein politisches Engagement im EU-Parlament.“ Warum ausgerechnet aus diesen Ländern? Ab 2019 erklärten sich in Polen mehrere Gemeinden zu „LGBT Free Zones“. 2021 verabschiedete Ungarn ein vermeintliches Kinder- und Jugendschutzgesetz, das die sexuellen und affektiven Bildungsangebote einschränkt und die Weitervermittlung queerer Inhalte an Minderjährige verbietet. Beide Länder wurden von der EU abgestraft. Im selben Jahr ging das Europaparlament einen Schritt weiter: Es nahm einen Beschluss der LGBTI Intergroup an und ernannte Europa zur „LGBTIQ Freedom Zone“. Angel konnte die Hassnachrichten gegen ihn aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht entziffern, im Gegensatz zu seinem ungarischen Büroleiter. „Es waren brutale Nachrichten dabei. Wer macht sich die Mühe, einen Brief zu schreiben, eine Briefmarke zu bezahlen, meine Adresse nachzuschlagen? Das ist schon unheimlich und eine andere Liga als ein Hasskommentar auf Facebook.“
Anti-Gender-Bewegungen in Europa
Doch auch die Zusammenarbeit mit queerfeindlichen Politiker*innen stellt ihn und Metz vor Herausforderungen – sie reichen von der Anwendung inklusiver Sprache bis hin zum Konsens in rechtlichen Fragen. „Grundsätzlich befürworte ich einen offenen Dialog, auch wenn ich anderer Meinung bin als mein Gegenüber“, sagt Metz. „Doch manchmal denke ich: ‚What the fuck? Warum willst du mir meine Rechte absprechen?‘ In solchen Momenten muss ich mich zusammenreißen.“
Beide Politiker*innen, die sich im Interview vertraut die Bälle zuspielen, kommen auf den Sprachgebrauch ihrer Gegner*innen zu sprechen. Es sei verletzend, wenn der Kampf für LGBTQIA+-Rechte als „Ideologie“ beschimpft und die Bewegungen als „Regenbogenmafia“ verspottet würden. Angel fühlt sich durch solche Aussagen an sein eigenes Coming-out zurückerinnert: „Manche hielten Schwulsein für eine Modeerscheinung. Das ist es nicht.“ Er zieht Parallelen zum aktuellen öffentlichen Diskurs über trans und nicht-binäre Personen. „Keine Identität hat zum Ziel, aufzufallen. Es geht darum, man selbst zu sein und ein authentisches Leben zu führen.“ Aus Gesprächen mit 50-, 60-jährigen trans Personen gehe hervor, was für ein Leid sie bis zur Transition erfahren mussten. „Umso besser, wenn junge trans Personen es heute leichter haben“, so Angel.
Keine Identität hat zum Ziel, aufzufallen. Es geht darum, man selbst zu sein und ein authentisches Leben zu führenEuropaabgeordneter (LSAP)
Das Erstarken der Rechten im Europaparlament beobachten Metz und Angel mit Sorge, vor allem im Hinblick auf den Europarat und einzelne Mitgliedsstaaten. „Ich hätte vor 20 Jahren nicht erwartet, dass wir heute noch für die Grundrechte von LGBTQIA+-Menschen und Frauen kämpfen müssen“, sagt Angel. Metz pflichtet ihm bei: „Wir müssen aufpassen, dass wir gewonnene Rechte nicht verlieren. Dafür ist es wichtig, Allianzen mit progressiven Politiker*innen zu schmieden und sich für eine inklusive und solidarische Gesellschaft einzusetzen.“
Dasselbe gelte für die luxemburgische Nationalpolitik: Noch sei die große Spaltung durch Genderthemen und LGBTQIA+-Forderungen hierzulande ausgeblieben, doch müsse man die Situation weiter wachsam im Auge behalten. Als Meilensteine bezeichnet er die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare (2004), die Öffnung der Ehe (2015) sowie die vereinfachten Prozeduren zur Namens- und Geschlechtsanpassung im Personenstandsregister (2018). Einen persönlichen Bezug haben Metz und Angel zur rechtlichen Anerkennung homosexueller Beziehungen. Im Interview entpuppt Angel sich allerdings als Ehemuffel: „Ich hielt die Ehe immer für ein bürgerliches Ding, habe aber trotzdem für die homosexuelle Ehe gekämpft.“
Dies ist eines der wenigen Themen, bei denen Angel und Metz sich an dem Tag uneins sind: Metz war die Eheschließung wichtig. 2017 heiratete sie ihre langjährige Partnerin. Angel ging nach einem Unfall 2015 hingegen zunächst nur eine eingetragene Lebenspartnerschaft ein, um sich und seinen Partner rechtlich abzusichern. Im „Pitcher“ verrät er fast schon kleinlaut, dass inzwischen eine Heirat geplant sei – „im kleinen Kreis, ohne viel Tamtam“.
An die Diskussionen rund um die Prozeduren zur Namens- und Geschlechtsanpassung auf Dokumenten kommt Angel aber ebenfalls zu sprechen. Er lobt, dass die Regierungsvertreter*innen 2018 sowohl das Gespräch mit „Inter & Transgender Luxembourg“ als auch mit Betroffenen und Eltern von minderjährigen trans Personen gesucht haben. Er rät den amtierenden Nationalpolitiker*innen auch weiterhin zum engen Austausch mit der Zivilgesellschaft und Expert*innen.
Dringenden Handlungsbedarf sieht er vor allem im Hinblick auf die Rechte von Kindern mit Variationen der Geschlechtsmerkmale: Mehrere Menschenrechtsorganisationen fordern ein Verbot nicht lebensnotwendiger Eingriffe, um Kinder ohne ihre explizite Einwilligung einem Geschlecht zuzuordnen. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode war ein Verbot geplant, inzwischen ist es still um das Dossier geworden.
„Der Großteil der luxemburgischen Parteien hat verstanden, dass es bei LGBTQIA+-Rechten um die Verteidigung von Menschenrechten geht“, meint Angel dennoch. „In den letzten Jahren wurde in der Nationalpolitik viel erreicht, doch es bleibt Luft nach oben.“ In anderen Mitgliedsstaaten, etwa in Italien, sei die Situation von LGBTQIA+-Menschen besorgniserregend. Hier würde der Kampf gegen LGBTQIA+-Menschen instrumentalisiert, um politisches Versagen wettzumachen, so Angel. „Es kostet den Staat nichts, einer lesbischen Mutter das Sorgerecht zu entziehen, wohingegen der Ausbau des Krankenhausnetzwerks mit großen Investitionen einhergeht“, nennt er ein Beispiel. Worauf er anspielt: Lesbischen Müttern wird unter der postfaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) teilweise rückwirkend das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen, wenn sie keine biologische Verbindung nachweisen können. „Rechte Parteien suchen immer nach Sündenböcken: Mal sind es LGBTQIA+-Menschen, mal Feminist*innen oder Ausländer*innen“, kommentiert Metz die Geschehnisse.
Erinnerungen an die Prides
Das Gespräch wird, wie so oft an dem Nachmittag, von einem Passanten unterbrochen. Metz grüßt, spricht kurz mit dem Gast, der sogleich am Nachbartisch Platz nimmt. Das Intermezzo erlaubt einen Themenwechsel – weg von Brüssel und dem „Krautmaart“, hin zur Pride. Können sich die EU-Abgeordneten noch an ihre erste Pride erinnern?
Während Metz sich nur vage entsinnt, schwelgt Angel sofort in Erinnerungen: Er wohnte der Gründung von „Rosa Lëtzebuerg“ (1996) und „Gay Mat“ (1999) bei, hat die erste Pride in Luxemburg-Stadt, unweit des Kapuzinertheaters, noch vor Augen. Seine erste Pride feierte er jedoch beim „Christopher Street Day“ in Berlin, im Jahr nach dem Mauerfall. „Besonders geprägt hat mich das Gefühl des Zusammenhalts, der Akzeptanz“, sagt Angel. „Neben den Straßenfesten sind für mich die politischen Konferenzen und das Rahmenprogramm rund um die Pride von großer Bedeutung.“ Für Metz sind Prides vor allem ein Ausdruck von Freiheit.
Gleichzeitig schlagen beide kritische Töne an und warnen sowohl vor Pinkwashing (Strategie, bei der der Einsatz für LGBTQIA+-Rechte für Marketingzwecke missbraucht wird; d.Red.) als auch vor queerfeindlichen Gegendemonstrationen, wie es sie unter anderem schon in Rumänien gab. Angel, der Prides weltweit besucht, erwähnt die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, die ihm zusetzen. „Bei manchen Prides gibt es Zonen, die du während der Veranstaltung explizit vermeiden sollst“, weiß er. „Umso wichtiger ist es, dass wir für LGBTQIA+-Rechte demonstrieren und es in Luxemburg nie zu solchen Gegendemos kommt.“
Wenige Minuten später erheben sich Metz und Angel von ihren Stühlen, verabschieden sich hier und da von bekannten Gesichtern im „Pitcher“ – darunter auch die Kulturschaffenden Trixie Weis und Théid Johanns. Unterhalten diese sich vermutlich noch eine Weile zu Straßenlärm und Hintergrundmusik aus dem Inneren der Kneipe, geht es für die Politiker*innen auf zur jährlichen Gedenkzeremonie vor dem „Musée de la résistance et des droits humains“: Dort wird allen LGBTQIA+-Menschen die Ehre erwiesen, die in den vergangenen Jahrhunderten aufgrund ihrer Identität und sexuellen Orientierung ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden.
Schon auf dem Weg zur place de la Résistance, im Volksmund „Brillplaz“, wird deutlich: Die Veranstaltung zieht Politiker*innen unterschiedlicher Couleur an. In der rue de l’Alzette treffen Metz und Angel auf den Escher Bürgermeister Christian Weis (CSV) und den Schöffen Meris Sehovic („déi gréng“). Metz schließt sich für wenige Schritte ihrem Parteivorsitzenden Sehovic an, unterdessen flaniert Angel weiter allein durch die Escher Einkaufsstraße. Auf der „Brillplaz“ angekommen, taucht er dann schnell in der Menge unter, wird mit Küsschen und Umarmungen von Vertreter*innen der LGBTQIA+-Communitys begrüßt.
Die Eingangstore des Museums sind an dem Abend in Regenbogenfarben getaucht, unweit der Fassade hängt noch die Leinwand der EM-Übertragungen und stehen Bierbänke herum. Die Zeremonie mit mehreren Redebeiträgen wird gelegentlich durch die lauten Gespräche einer Männergruppe gestört, die es sich auf den Kreationen des Landschaftsarchitekten Kamel Louafi gemütlich gemacht hat. Angel und Metz stehen in der ersten Reihe, als ein Kranz in Gedenken an die betroffenen Personengruppen niedergelegt wird. Später verabschieden sich beide recht schnell – beide fahren an dem Abend noch zurück nach Brüssel. In Esch wollen sie sich spätestens zur „Luxembourg Pride“ wiedersehen.
Queere EU-Politik in Kürze
2020 legte die EU-Kommission die erste Strategie zur Gleichstellung von LGBTQIA+-Menschen vor. Bis 2025 sollen Maßnahmen bei der Bekämpfung von Diskriminierung, zur Sicherheit, dem Schutz von Regenbogenfamilien und der Gleichstellung von LGBTQIA+-Menschen weltweit umgesetzt werden.
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