Demonstrationen / Protestkultur als Eroberung des öffentlichen Raumes
Lange Zeit galten Demonstrationen als Domäne der linken Bewegungen – bis zu Pegida, Corona und den Identitären. Ein Überblick über die Protestkultur der vergangenen 50 Jahre, die auch in Luxemburg ihre Glanzlichter hatte.
Ab 12 Uhr 30 flogen die Schraubenmuttern. Zusammen mit Steinen und mit Wasser gefüllten Plastikflaschen prasselten sie auf die mit Helmen, Schildern und Körperschutz martialisch aussehenden Polizisten nieder, die sich vor dem damaligen Arcelor-Hauptsitz am Rosengärtchen in Position gebracht hatten. Einige der teils vermummten Demonstranten, die mit Böllern und Gebrüll vom Bahnhof die Avenue de la liberté hochgezogen waren, versuchten die mit Stacheldraht versehenen Absperrungen zu überwinden. Sie wurden von den Wasserwerfern der Polizei zurückgedrängt. Etwa zweitausend Stahlarbeiter waren vorwiegend aus Belgien gekommen, um gegen die Schließung ihrer Stahlwerke und den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu protestieren. Einige ließen mit Eisenstangen ihrem Unmut freien Lauf, während sich die etwa 500 Polizisten mit Schlagstöcken zur Wehr setzten. Am Ende des Tages waren an jenem 17. April 2003 neun Beamte, sieben Stahlarbeiter und zwei Passanten verletzt und etliche Telefonzellen, Bushäuschen und Autos beschädigt worden.
Betrachtet man die vergangenen gut 50 Jahre in der Geschichte des Straßenprotests in Luxemburg im Rückspiegel, dann bildet die geschilderte Situation eher eine Ausnahme – auch wenn noch weitere Male wütende Stahlarbeiter durchs hauptstädtische Bahnhofsviertel zogen, verlief es zumeist nicht gewalttätig. Mit einer Ausnahme: Eine Woche nach den geschilderten Krawallen waren mehr – rund 3.500 Demonstranten aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien – Menschen zum Sitz des weltgrößten Stahlkonzerns am Rosengärtchen gezogen. Die luxemburgischen Gewerkschaften hatten beschlossen, nicht an den Protestaktionen teilzunehmen. „Dies entspricht nicht unserer Gewerkschaftskultur“, sagte der damalige OGBL-Präsident John Castegnaro dem Autor dieser Zeilen über die Eskalation.
„Eine Art der Selbstvergewisserung“
Angesichts der zurzeit in Deutschland herrschenden Protesteuphorie im Zuge der landesweit stattfindenden Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie stellt sich die Frage, was hinter den Demos steckt und was sie bringen können. Zudem bietet sich eine Gelegenheit für einen Ansatz zur Analyse der hiesigen Protestkultur an. Doch zuerst zur Aktualität: Sowohl in Luxemburg, im Zusammenhang mit der Debatte um das Bettelverbot, als auch in Deutschland scheint die Protestkultur eine neue Blüte zu erreichen. Vor allem im Nachbarland scheint ein Knoten geplatzt zu sein. Die Menschen wollen sich daran beteiligen, den öffentlichen Raum zurückerobern. „Eine Art der Selbstvergewisserung“, nennt es die Sozialpsychologin und Konfliktforscherin Beate Küpper. „Wir sind vereint, wir sind viele, und das über die Milieus hinweg.“
Was auffällt, ist die Vielfalt der Teilnehmer bei den deutschen Protesten: Menschen, die schon seit längerer Zeit aktiv sind, kommen zusammen mit denen, die von den Enthüllungen des Investigativ-Netzwerks „Correctiv“ über ein Treffen von AfD-Politikern, Mitgliedern der Werteunion, Neonazis und Unternehmen, bei dem über die Pläne einer Ausweisung von Millionen von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen wurde, erfahren haben. Damit war ein Moment erreicht, in dem viele sich sagten: Stopp, das geht zu weit. Beate Küpper hat bei ihren Untersuchungen eine Normverschiebung nach rechts festgestellt. Die Demos könnten nun eine Wende hin zur Demokratie herbeiführen: eine Hinwendung zur demokratischen Gesellschaft und ihren Werten.
Um die Eroberung des öffentlichen Raumes ging es hierzulande bereits beim Schülerstreik im April 1971. Dieser hatte sich entzündet, als in Diekirch vier Schüler von der Schule verwiesen worden waren. Das Epizentrum lag in Esch: „An unserem Sitz, einem kleinen Geschäftslokal in der Grand-rue in der Nähe zum Jungenlyzeum, stellten wir dauernd Flugblätter her. Wir waren etwa 20 bis 30 Leute. Die Maschinen liefen Tag und Nacht“, erinnerte sich später der Historiker Lucien Blau, einer der Anführer der Protestaktionen. „Wir beklebten Spruchbänder und Transparente“, erzählte Blau. „Morgens fuhren wir mit dem Bus nach Esch. Vor den Schulen teilten wir Flugblätter aus. Unsere Demonstration ging am damaligen Mädchenlyzeum vorbei, weiter bis zur Berufsschule und zur Handwerkerschule. Zum Schluss stellte sich das Streikkomitee auf dem Gemeindeplatz auf. Die Schüler skandierten in Sprechchören. Montags ging es dann wieder in die ‚Maison du Peuple’, der Saal war voll. Dienstags streikten wir erneut und zogen zur zentralen Demo in die Hauptstadt.“
Zu Krawallen sei es damals nicht gekommen, so Blau, aber zu einer Diffamierung durch die regierungsnahe Presse. „Wir wurden als linksradikale Subjekte bezeichnet. Schließlich gab es damals eine CSV-DP-Regierung“, erklärte Blau. Derweil unterstützte das Tageblatt den Schülerstreik. Der damalige Direktor Jacques Poos überreichte den Schülern ein Megafon. Und als der Elan der Protestbewegung nachließ, entstanden neue: unter anderem die Frauenbewegung MLF und die Anti-AKW-Bewegung.
Tradition der Schülerdemos
Schülerdemos gab es danach noch mehrmals in Luxemburg, so etwa im April 2014, als Schüler und Studenten gegen die geplante Reform der Studienbeihilfen demonstrierten. Damals setzten sich laut Streikkomitee drei Demonstrationszüge in Bewegung, ausgehend von den Sammelpunkten Campus Geesseknäppchen, Glacis und Hauptbahnhof. Die Polizei ging von 10.000 Teilnehmern aus. „Weem seng Bildung? Eis Bildung“, riefen die Schüler. „Weem seng Strooss? Eis Strooss.“ Die Schüler und Studenten zogen schließlich zur Place Clairefontaine, dem Ziel der meisten Demonstrationen in Luxemburg. Der Platz war für diese deutlich zu klein. Kevin Lopez von der nationalen Schülerkonferenz (CNEL) sagte: „Es geht um unsere Studien, um unsere Zukunft, unser Leben.“
Ab Mitte März 2019 gingen auch in Luxemburg Schüler an den „Fridays for Future“ in Massen auf die Straße. Beim ersten Mal waren es mehr als 15.000. „Wake up humans, you are endangered“, riefen sie unter anderem. Gemeint waren die älteren Generationen, aber vor allem die politisch Verantwortlichen. „Assis pour le climat“, riefen die Organisatoren in ihre Megafone. Die Demonstranten gingen in die Hocke, um ein paar Sekunden später aufzuspringen. „Unsere Botschaft soll sich an alle richten. Wir wollen ins Bewusstsein bringen, was und wie sie konsumieren“, sagte Joe Mersch, einer der Organisatoren von „Youth for Climate Luxembourg“ in einem Interview mit der Revue. Durch die Demos habe die Jugend gezeigt, dass sie sich mobilisieren könne, so Elie Sinner von „Youth for Climate“.
Die Demos für den Klimaschutz, die noch größer waren als die Anti-Atom-Proteste gegen Cattenom, wurden zunehmend generationenübergreifend. Ähnlich war es bereits am 15. Februar 2003 bei dem weltweiten Aktionstag gegen den Krieg im Irak. Wie in insgesamt 300 Städten rund um den Globus gingen auch im Großherzogtum die Menschen demonstrieren. Es sollte die größte Demo hierzulande seit Jahrzehnten sein und die erste, die der Autor in Luxemburg erlebte. Der Friedensmarsch vom Bahnhof zur Place d’armes war nicht nur generationen-, sondern auch parteiübergreifend. Die Demonstranten stellten einen Querschnitt durch die gesamte luxemburgische Gesellschaft dar. Zwischen 8.000 und 14.000 sollten es sein. Auf der abschließenden Kundgebung sprachen unter anderem Jean-Claude Reding, damals OGBL-Generalsekretär, und Erny Gillen, zu jener Zeit Caritas-Direktor.
Apropos Masse: Erst im vergangenen Oktober hat sich zum 50. Mal der Generalstreik vom 9. Oktober von 1973 gejährt. „Als Luxemburg erstmals die Fenster öffnete“, schrieb Robert Schneider zum Jubiläum. Damals gingen fast 40.000 Menschen in der Hauptstadt auf die Straße, zur bis dahin größten Protestkundgebung der Nachkriegszeit. „Luxemburg hatte genug von Jahrzehnten Vorherrschaft der CSV, erstmals genug von einer Regierung Werner, die sich den Forderungen der Gewerkschaften verweigerte, die sich aber auch dem gesellschaftlichen Aufbruch der späten Sechziger in vielen Teilen Europas und der Welt entgegenstellte“, erklärt der Tageblatt-Journalist. „Viele folgten dem Aufruf des LAV („Lëtzebuerger Arbechter-Verband“) und streikten am 9. Oktober.“
Das waren mehr als zehn Prozent der damaligen Einwohnerschaft des Landes. „Der LAV stand recht allein da“, so Schneider. Zwar sei LCGB und FEP vorgeschlagen worden, sich dem Protest anzuschließen, doch diese beiden Gewerkschaften winkten ab. Andere riefen zwar zur Teilnahme auf, beteiligten sich aber nach Schneiders Worten nicht selbst. Und Premierminister Pierre Werner bezeichnete die Veranstaltung als illegal. Seine Partei hatte den Zug der Zeit verpasst und verlor bei der Wahl 1974 drei Sitze und ging in die Opposition. Die Kundgebung war nicht nur politisch vorausweisend, sondern „verdeutlichte auch die zunehmende Bedeutung der Immigranten in der Luxemburger Arbeitswelt“, schreibt Schneider. Auf riesigen Bannern seien die Forderungen der Demonstranten in portugiesischer Sprache zu lesen gewesen. Eine ähnlich große Demo gab es hierzulande 1982: wieder gegen eine CSV-geführte Regierung und ihre Politik.
Eine vergleichsweise große Dimension erreichte die Protestaktion gegen den Sozialabbau vom Mai 2009. Diesmal war sie gemeinsam von OGBL, Landesverband, CGFP, FGFC, Saprolux, Aleba und LCGB organisiert worden. Sie setzte ein Zeichen gegen die Auswirkungen der damals herrschenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Dominanz des OGBL war deutlich: Eine Sektion nach der anderen zog die Avenue de la liberté hoch zur Gëlle Fra. Angeführt wurde der Zug von der Gewerkschaftsprominenz, die Politiker mussten sich unters „Fußvolk“ mischen. „Zusammen gegen den Sozialabbau“ sowie „Finger weg vom Index!“, hieß es. Ein junger Mann hatte sich als Großkapitalist mit Spielgeldscheinen am Hut, dicker Zigarre und Eurosäckchen verkleidet, ein anderer als Sensenmann und Arbeitsplatzkiller, auf einem Transparent waren Karikaturen der EU-Regierungschefs gezeichnet. Manche Passanten fühlen sich an einen Karnevalsumzug erinnert, die anderen an einen Trauermarsch. Zu Grabe getragen wurde der neoliberale Kapitalismus. An einem Galgen baumelte eine überlebensgroße Strohpuppe mit der Aufschrift „Capitalisme“ und „Europe libérale“.
In den vergangenen Wochen haben in Luxemburg kleinere Aktionen gegen das Bettelverbot für eine Renaissance der Protestkultur gesorgt. Unterdessen strömten in Deutschland nach kurzer Zeit mehr als eine Million Menschen auf die Straßen, um für die Demokratie und gegen den Rechtsextremismus zu demonstrieren. Eine Demo in München musste sogar vorzeitig beendet werden, weil der Andrang so groß war. Aber was ist, wenn die Protesteuphorie einmal nachlässt und die Medien weniger berichten? Spätestens dann sind die demokratischen Institutionen gefragt. Selbst CDU-Parteichef Friedrich Merz hat die Demonstrationen begrüßt. „Ich halte das für ein sehr ermutigendes Zeichen unserer lebendigen Demokratie“, sagte er in einer Fernsehtalksendung zu Caren Miosga. Merz weiß aber auch, dass es mit Demos nicht getan sei. „Wenn jeder Zehnte von denen, die heute demonstrieren, morgen in eine politische Partei eintritt, sei es die FDP, die SPD, die Grünen, die CDU oder die CSU, dann ist damit genauso viel geholfen“, sagte er. Ist es damit getan?
Ob damit für die parlamentarische Demokratie geworben ist, die bei vielen Menschen in der Kritik steht, sei dahingestellt. Das Parlament attraktiver und transparenter zu gestalten, ist jedenfalls ein Anliegen des luxemburgischen Chamber-Präsidenten Claude Wiseler. Vom „Haus der Demokratie“ sprach er anlässlich des Neujahresempfangs. In einem Tageblatt-Interview erklärte er zudem, wie dies mit Live-Übertragungen von – vorerst fünf – Kommissionssitzungen funktionieren soll. Das Parlament ist ein Herzstück der Demokratie. Ein anderer Teil ist die Zivilgesellschaft. Sie ist ein wichtiger Faktor in einer lebendigen Demokratie und im Kampf gegen demokratiefeindliche Tendenzen. Sie findet ihren Ausdruck in kontinuierlicher Basisarbeit – und nicht zuletzt im Protest auf der Straße. Letzterer ist ein unmittelbarer Ausdruck. Dieser darf nicht den Rechtsextremen, Rassisten und verirrten Wutbürgern überlassen werden.
Die Geschichte des öffentlichen Protestes ist eng mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft. Insofern spiegeln sich in ihr auch alle Widersprüche, Brüche und Verwerfungen wider, die diesen historischen Prozess charakterisieren. Zwar nahm der öffentliche Protest schon im 19. Jahrhundert seinen Anfang, doch besonders prägend für die Demokratien unserer Zeit waren die antiautoritäre Bewegung der 60er Jahre und die neuen sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren, die Friedens- und die Anti-Atomkraft-Bewegung. „Bürger lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“ und „Ho, ho, Ho Chi Minh“ wurde bei einer Demo in München 1989 gegen die Hochschulpolitik der deutschen Bundesregierung gerufen, Bezug nehmend auf die Demokultur der Studentenbewegung. Auch die globalisierungskritische Bewegung seit Ende der 90er Jahre führte zur Wiederbelebung des Straßenprotestes, bis hin zu der US-amerikanischen Occupy-Bewegung und ihren Ablegern in Europa. Von den Demonstrationen der DDR-Bürgerbewegung bis zu jenen gegen Stuttgart 21: Bis heute hat der Straßenprotest nicht an Bedeutung verloren.
Von rechts okkupierte Aktionsformen
Allerdings wurde die Protestkultur in den vergangenen zehn Jahren – von den Pegida- bis hin zu den Impfgegner- und Coronaleugner-Demos – mehr und mehr von rechtspopulistischen Gruppen genutzt. Vor allem die Aktivisten der Identitären Bewegung nutzen Aktionsformen der Linken, besetzen öffentliche Gebäude, steigen etwa auf das Brandenburger Tor und führen Flashmobs durch – und verbinden rechtsextreme Inhalte mit popkulturellen Formen. Mit den jüngsten Protesten gegen rechts hat nicht nur die Linke die Straße zurückerobert, sondern auch die sogenannte „schweigende Mehrheit“.
Der Historiker und Protestforscher Philipp Gassert vom Mannheimer Institut für Zeitforschung sieht kein Ende der Protestkultur. Er sagte unlängst: „Wir werden sehr viele Straßenproteste haben, wenn die Hütte brennt. (…) Wenn die Gesellschaft, wenn die Politik nicht ausreichend responsive ist gegenüber bestimmten Problemen.“ Das demokratische Haus scheint zwar noch nicht in Flammen zu stehen. Aber ein Brandgeruch ist zu vernehmen.
Der Münchner Kessel
Der Autor erinnert sich an die ihn wohl prägendste Demonstration:
Die Polizei hatte ihre Position eingenommen. Ich konnte die Gesichter der Beamten in der ersten Reihe sehen. Allesamt jung. Zumindest ein paar von ihnen waren zum ersten Mal bei einer Demonstration im Einsatz. Ich hatte zuvor mit ihnen gesprochen. Ihm sei etwas mulmig zumute, hatte mir einer gesagt. Seine Ausrüstung war im Vergleich zu den heute martialisch ausgerüsteten Polizisten minimalistisch: ein Overall, ein Helm mit Plastikvisier und ein Schlagstock. Was die meisten Demonstranten skandierten, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich daran, wie einer anfing, „Viva la Revolución“ zu rufen, und fand das ziemlich blöd. Denn eines war die Demo sicherlich nicht: eine Revolution. Eher eine große Party.
Es war jedenfalls die Großdemo gegen den G7-Gipfel der Staatschefs der sieben größten Industrienationen, oder WWG (Weltwirtschaftsgipfel), die sich an dem Wochenende vom 6. bis 8. Juli 1992 in der Münchner Residenz versammelt hatten. Rund 15.000 Demonstranten, die sich schon damals Globalisierungsgegner nannten, waren bereits Tage zuvor angereist, um an einem Gegenkongress in der Münchner Universität teilzunehmen oder einfach nur dabei zu sein, um friedlich gegen George Bush Senior, Helmut Kohl und François Mitterand & Co. zu demonstrieren. Dagegen waren 6.000 Polizisten aus ganz Deutschland im Einsatz. Soweit ich mich noch erinnern kann, wurde an jedem Tag demonstriert.
Am 6. Juli erreichte das geballte Aufeinandertreffen von Staatsmacht und Protestbewegung seinen Tiefpunkt. Ein Demonstrant hatte von irgendwoher eine Eisenstange und warf sie gegen die Beamten. Schnell wurde ein Eisengitter umgeworfen, bevor die Polizisten überhaupt reagieren konnten. Doch diese kamen uns plötzlich entgegen. Ich weiß noch, dass es so richtig hinter dem Rathaus losging. Die Polizisten nahmen ihre Schlagstöcke und knüppelten, was das Zeug hielt. Schmerzens- und Wutschreie waren zu hören. Ich ging zu Boden und bekam einen Polizeistiefel in die Magengrube.
Ein paar Polizisten stürzten sich auf einen Demonstranten, eine junge Frau hatten sie im Schwitzkasten. Die Polizei hatte uns schnell umzingelt. Ein Passant rief: „Haut sie zusammen!“ Er meinte damit ohne Zweifel uns. Einem Fotografen nahmen die Polizisten die Kamera weg. Während ich mich in Richtung Marienplatz davonmachen wollte, sah ich eine junge Frau auf dem Bordstein vor dem Dallmayr-Haus sitzen. Ich kannte sie von der Uni. Sie weinte. Derweil dauerte die Einkesselung gefühlte Stunden. Ein Demonstrant nach dem anderen wurde in Handschellen abgeführt oder weggezerrt. Der eine oder andere bekam noch eine Tracht Prügel. Das ganze Geschehen sollte als „Münchner Kessel“ in die deutsche Geschichte eingehen. Insgesamt sollen 480 Demonstranten festgenommen worden sein. Keiner wurde verurteilt. Aber die Polizei hatte mit dem Übergriff gezeigt, wer das Gewaltmonopol besaß. Bayerns damaliger Ministerpräsident Max Streibl sagte, dass das harte Hinlangen eben „bayerische Art“ sei. Es war jedoch die wohl prägendste Demo für ihn, neben der Lichterkette von München am 6. Dezember 1992 gegen Fremdenhass und Rassismus. Denn sie zeigte sowohl Macht als auch Ohnmacht der Demonstranten.
Der Autor hat darüber hinaus an zahlreichen Demonstrationen in mehreren Ländern teilgenommen: etwa gegen Atomkraft, die Räumung besetzter Häuser und polizeiliche Übergriffe sowie an einem Sternmarsch der brasilianischen Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (1997), einer Demo der linken peronistischen Jugend und einem sogenannten Cacerolazo in Argentinien (beide 2001) sowie an den genannten Großdemos in Luxemburg gegen den Irakkrieg (2003) und Sozialabbau (2009).
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Einfaches, billiges Hobby. Man braucht keine Mitgliedkarte, keine besondere Schuhe, es sind keine Klamtten vorgeschrieben und kein teures Material. Wenn man will kann man sich nachher in die Kneipe „Gegenüber“ besaufen gehen, wo sich das link grüne Publikum trifft.
Brandgeruch liegt seit 1933 in der luxemburger Luft. Damals haben die Herren BECH, DUPONG, MARGUE, REUTER … von der rechtsextremen „Rechtspartei“ die explosive Führerpolitik von jenseits der Mosel in Luxemburg begrüsst und bejaht.
MfG
Robert Hottua
Danke für den interessanten Beitrag Herr Kunzmann.
Eine funktionierende Demokratie muss immer von neuem erstritten werden, auch mit dem Druck der Strasse, wie viele Beispiele im Bericht ja aufzeigen. In einer Demokratie zu leben ist kein Selbstläufer, es bedingt der Mitarbeit unserer manigfaltigen Gesellschaft.
1968 wurde ich bei den Globus-Krawallen in Zürich an meiner ersten Demo auch ziemlich übel zugerichtet. Es folgten dann noch viele Demos, immer mit dem Gefühl, dass Solidarität gezeigt werden soll.