Luxemburg / „Putin, nicht Russland“ – Russische Expats berichten von Drohungen nach Ukraine-Invasion
Nach Putins Invasion in der Ukraine sehen sich russische Staatsbürger in Luxemburg vermehrt Drohungen ausgesetzt. Zwei russische Expats haben sich dem Tageblatt anvertraut. „Es ist nicht Russland, es ist Putin“, lautet ihr Appell.
„Hey, are you the journalist?“, fragt ein Mann in perfektem Englisch, als er das Paname-Café in Luxemburg-Stadt betritt. Alexander* ist der Erste von zwei russischen Staatsbürgern, die sich dem Tageblatt am Mittwochmorgen anvertrauen. Ein Dritter hat kurz vor dem Treffen abgesagt – aus Angst. Ein kurzer Plausch über die Arbeit eines Journalisten während Pandemie- und Kriegszeiten überbrückt die Zeit, bis Anastasija* durch die Ecktür am Ende der Zitha-Straße eintritt. Auch sie spricht fließend Englisch, wenngleich der russische Akzent stärker durchschlägt.
Alexander und Anastasija, die ihre Namen aus Sicherheitsgründen nicht in der Zeitung lesen wollen, haben sich zu einem Gespräch mit dem Tageblatt entschieden, weil sich ihr Leben in den letzten sieben Tagen grundsätzlich geändert hat. „Vor ein paar Tagen habe ich Post erhalten“, beginnt Alexander seine Erzählung. Ein weißer Umschlag, ohne Adressat oder Absender, direkt in den Briefkasten geworfen. Ein richtiger Schock sei es gewesen, als er gesehen habe, was darauf stand. „Eine Aufforderung an alle Russen, Luxemburg zu verlassen.“ Fotos des angesprochenen Zettels haben am Mittwochmorgen bereits die Runde in den sozialen Medien gemacht. Darauf zu sehen ist eine ukrainische Flagge, darüber steht auf Luxemburgisch geschrieben „Russen, raus aus Lëtzebuerg! D’Welt wäert et ni vergiessen“.
Alexander wohnt in einer multikulturellen Nachbarschaft, wie er selbst vorgibt, zählt Italiener, Belgier, Deutsche, Luxemburger, Schweden, Dänen, Polen und auch Ukrainer zu seinen Nachbarn und Freunden. Einen Familiennamen, von dem sich seine russische Herkunft eventuell ableiten ließe, hat er nicht auf dem Briefkasten – „wie so vieles, was meine Frau mir geraten hat, habe ich das nicht gemacht“, erzählt er mit einem verschmitzten Lächeln. Dass er den Autor der Botschaft vielleicht kennen könnte, darüber will er nicht spekulieren. Seine Freundschaft zu seinen ukrainischen Freunden haben sich durch den Krieg jedenfalls nicht zum Schlechteren gewandt. Im Gegenteil: „Ich habe den Brief zuerst ukrainischen Freunden gezeigt.“ Diese hätten ihn dann beruhigt.
Bekannte Leidensgeschichte
Wohl auch, weil Alexander weiß, was es bedeutet, einen Krieg mitzuerleben. „Mein Vater ist Russe, meine Mutter ist Armenierin“, erzählt der russische Expat. „Als ich 18 Jahre alt war, musste meine Familie zu Kriegsbeginn aus Georgien flüchten – weil wir russisch waren.“ Einen Koffer habe man packen dürfen, das restliche Hab und Gut zurücklassen müssen. Erinnerungen an diese Zeit wurden mit dem Fund im Briefkasten wieder wach. „Solche Aussagen wurden in den 1930er Jahren auch gegenüber der jüdischen Bevölkerung gemacht“, sagt Alexander, der von sich selbst sagt, jüdische Vorfahren zu haben. Solche Ressentiments würden nun wieder geschürt werden – er erlebe es nach seiner Flucht aus Georgien nun bereits zum zweiten Mal.
„Es wirkt vielleicht so, als führe Russland Krieg gegen den Westen – doch es ist nicht Russland, es ist Putin“, führt Alexander, dessen Frau selbst ukrainischer Abstammung ist, weiter aus. Man dürfe die Bürger eines Landes nicht zwangsläufig mit ihrem Leader assoziieren. „Für mich ist das, was gerade passiert, ein Bürgerkrieg! Absolut schrecklich. Unsere Völker sind miteinander verbunden.“ Auf Putin angesprochen, gibt sich Alexander reflektiert. „Natürlich haben wir eine Verantwortung als russische Bürger, wir haben ihn ja damals gewählt“, meint er mit ruhiger Stimme. Seitdem habe er sich aber an der Macht gehalten, auch wenn das nicht dem Willen des russischen Volkes entsprochen habe. „Russland ist zu einer Diktatur mutiert.“
Angst um ihre Kinder
Eine Aussage, die Anastasija so nicht treffen kann. Anastasija ist von Moskau nach Luxemburg gezogen und hat durch die gegenüber der russischen Bevölkerung feindselige Stimmung nun Angst um ihre Kinder. „Ich habe als Frau eine etwas andere Perspektive“, gibt sie zu Protokoll. „Ich fürchte, dass das der Beginn von etwas sehr Schlimmen sein kann.“ In den Schulen würden russische Kinder bereits gemobbt werden, weil sie russischer Abstammung seien. „Ich spreche hier von Kindern, nicht einmal Erwachsenen.“ Wenn man nicht aktiv etwas unternehme, werde man sofort als Putin-Apologet abgestempelt.
Besonders beunruhigend sei der Umstand, dass ihr Name auf einer Liste in einer Facebook-Gruppe aufgetaucht sei, bei der russische Staatsbürger als „pro-russisch“ – lies pro Putin – abgestempelt werden. „Ich habe richtig Angst.“ Sie habe nichts getan, um als „pro-russisch“ beschimpft zu werden – dabei habe auch sie viele ukrainische Freunde in Luxemburg. „Menschen, die mich kennen, wissen, wer ich wirklich bin“, sagt die Mutter im Gespräch mit dem Tageblatt. Screenshots belegen die Aussage Anastasijas.**
Russisch-Sein genüge mittlerweile, um kritisiert zu werden. Dem stimmt auch Alexander zu. „Einige Personen haben uns aufgefordert, uns für unsere Herkunft zu entschuldigen“, sagt er. „Mir tut es aber nicht leid, Russe zu sein, mir tut einfach nur leid, dass …“ Kurz sucht Alexander nach den richtigen Worten. „Es tut mir einfach nur wahnsinnig leid, was gerade passiert.“ Das, was gerade passiere, könne nicht den russischen Staatsbürgern angelastet werden. Auch in Russland formiere sich Widerstand, obwohl sie sich allesamt vor den Konsequenzen fürchten würden. „Meine russischen Freunde haben Angst, irgendetwas gegen diesen Krieg zu sagen“, erzählt Alexander. Die Verrücktheit des Regimes dürfe man nicht unterschätzen. „Ihnen droht der Knast.“
Alexander arbeitet im Finanzbereich, erzählt der russische Staatsbürger zu Beginn des Gespräches. Ob seiner Meinung nach seine Arbeit, der oft eine gewisse Nähe zum russischen Establishment nachgesagt wird, eventuell etwas mit den Anfeindungen zu tun haben könnten? „Nein, ich bin kein hochrangiger Angestellter“, antwortet Alexander. „Meine Arbeit hat auch nichts mit Russland zu tun.“ Auch Anastasija glaubt eher, dass es sich nur um eine Frage der Nationalität handelt.
„Regierung muss agieren“
Anastasija ist auch der Meinung, dass die Kinder gänzlich aus diesem Konflikt herausgehalten werden sollten. „Die Lehrer sollten keine Politik mit kleinen Kindern besprechen“, sagt sie. „Der neunjährige Sohn meiner Freundin konnte tagelang nicht schlafen, weil der Lehrer im Unterricht über Atombomben gesprochen hat, und was passieren könnte, wenn Putin auf den Knopf drücken würde.“ Die Lehrer sollten den Kindern doch beibringen, wie man liebevoll miteinander umgehe, rechnen, lesen – aber doch keine Politik. Ab dem Moment, wo sie ihre Kinder und sich selbst nicht mehr in Sicherheit wähne, würde sie auch einen Umzug in Betracht ziehen.
Ein Gedanke, mit dem sich Alexander noch nicht beschäftigt hat. „Ich bin aber der Meinung, dass auch die Luxemburger Regierung ein klares Zeichen setzen muss“, sagt er. „Man hat ja auch nicht alle Iraker mit Saddam Hussein, Türken mit Erdogan gleichgesetzt.“ Man lebe in Luxemburg schließlich in einem multikulturellen und multinationalem Land.
Die Aussicht auf Versöhnung scheint für Alexander aber mit fortwährender Kriegsdauer zu schwinden. „Je mehr Leute getötet werden, desto schwieriger wird es“, meint er. Die Angriffe und Drohungen gegen russische Staatsbürger würden jedoch das Narrativ von Putin, wenn auch ungewollt, unterstreichen, der sich als Heilsbringer des russischen Volkes sehe. Obwohl er sich das Ende des Krieges herbeisehne, fürchte er sich davor. Die von der EU angewandte Strategie der wirtschaftlichen Sanktionen sehe er deshalb mit gemischten Gefühlen. „Die Sanktionen werden auch die normale Bevölkerung treffen – und in absehbarer Zeit in die Armut treiben“, sagt der russische Auslandsbürger. Bestehe dann nicht die Gefahr, dass diese Menschen sich hinter Putin vereinen?
Bis dahin werde man jedoch alles tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen. Viele der russischen Expat-Gemeinde in Luxemburg würden Decken, Essen und Kleidung sammeln, um in die Ukraine zu schicken. Auch in den Schulen werde alles Mögliche gesammelt, um die Menschen in der Ukraine zu unterstützen. „Ich bin erschrocken, bin wütend, habe aber keine Angst“, sagt Alexander während des Gesprächs. „Luxemburg ist unser Zuhause, wir haben die doppelte Staatsbürgerschaft und planen unsere Zukunft hier.“ Auch Anastasijas Familie sei fest in Luxemburg verankert. „Ich habe noch Probleme mit dem Luxemburgischen, nur mein Französisch ist noch schlechter“, lacht Alexander. „Unsere Kinder aber sprechen fließend Luxemburgisch.“
* Die Namen der beiden Gesprächspartner wurden von der Redaktion geändert, sind ihr allerdings bekannt.
** Um die Anonymität der Person zu wahren, haben wir uns gegen eine Publikation der Screenshots entschieden.
- Von Dynamik und Statik: Xavier Bettels Europa- und Außenpolitik braucht neue Akzente - 19. November 2024.
- CSV und DP blicken auf ereignisreiches Jahr zurück - 18. November 2024.
- „déi Lénk“ sieht von „Interessenkonflikten durchsetzte“ Institution - 13. November 2024.
Dat do muss direkt ophalen. Den Eenzelnen ka nët fir engem Putin seng Verrecktheet responsabiliséiert gin. Hien as gewielt gin well d’Leit e falscht Bild vun him haten. Keen hätt e Putin gewielt den eng Ukrain iwwerfällt a mat Atomwaffen dréit. Dat falscht Bild haten awer och sämtlech westlech Politiker déi bei hien gepilgert sin. Do sin eis politesch Genieën och dobäi.