Esch/Hiehl / Quoth the Raven: Nevermore: Zum Tode von Gast Rollinger (1946-2024)
Den jüngeren Generationen mag der Name Gast Rollinger kein Begriff mehr sein, aber jenen, die in den Achtzigerjahren „Hei elei, kuck elei“ verfolgten, schon. Am vergangenen Freitag ist „de Gast“, der seit Jahren in seinem Escher Viertel Hiehl zurückgezogen lebte und die Öffentlichkeit mied wie der Vampyr das Sonnenlicht (es ist nicht despektierlich, das über einen Freund der schwarzen Romantik zu sagen), im Alter von 78 Jahren gestorben. Ein persönlicher Rückblick auf einen Pionier.
Flashback: Irgendwann im Jahr 1980, im Klassensaal einer besonders renitenten Cinquième im Escher „Jongelycée“. Die Klasse hatte sich soeben kollektiv blamiert und es ging darum, die letzte Klassenarbeit zu wiederholen. Zu viele schlechte Noten, zu viele schlechte Vibes. Worum es genau ging und was der Anlass dazu war (außer dem, besser abzuschneiden), ist in den erinnerungsunsicheren Korridoren des persönlichen Gehirns verloren gegangen. Während die Klasse (und vor allem die Mädchen, so scheint es mir – danke euch allen!) energisch mit dem Professor Rollinger um eine zweite Chance, also eine Wiederholung der desaströsen Prüfung, stritt, saß ich in einer der letzten Reihen und zeichnete Karikaturen: von Gast Rollinger, mit nacktem Oberkörper, Glöckner-von-Notre-Dame-mäßig. Seine buckelige Gestalt und der herabhängende Schnauzbart luden sozusagen dazu ein. Der „Proff“ mit grimmigem Henkersgesicht, ein blutiges Beil in Händen, vor ihm ein bibberndes Schülerlein, den Kopf schon auf dem Block. Und als es fast so weit war, dass Gast Rollinger sich umstimmen ließ, kicherte mein Sitznachbar wohl etwas zu laut über die Karikatur. Gast Rollinger stürmte herbei, sah, was es zu sehen gab, und rastete aus. Es regnete eine Kaskade rustikaler Backpfeifen, die mich umso erstaunter zurückließen, als unser „Deutschprofessor“ dem Makabren doch nicht abgeneigt zu sein schien. Immerhin hatte er uns, bei ausgeschaltetem Klassenzimmerlicht (gerne zündete er auch eine Kerze an), eine Kostprobe exquisiter Schauerliteratur vorgetragen, darunter Gedichte Georg Trakls und die gruselige Erzählung „Das verräterische Herz“ des von ihm verehrten Edgar Allan Poe (in der Wollschläger-Übersetzung aus der zehnbändigen Pawlak-Ausgabe von 1980, sandfarben, mit blutrot serigraphiertem Poe-Portät, die ich 27 Jahre später, als ich ihn wegen einer A.S.-Jeunesse-Jubiläumsreportage in der „Hiehl“ aufsuchte, auf einem Regal des „Atelier Kazebierg“, wie er seine home-made Produktionswerkstatt unter dem Dach der rue de la Lorraine nannte, erspähte. Noch einmal zehn Jahre später sollte ich die Werkausgabe in der Bibliothek eines Gymnasiums in Kaiserslautern, im Rahmen eines Schülerprojekts, in den Händen halten … wo ich sie fast gestohlen hätte). Diese mit gruftiger Vincent-Price-Stimme vorgetragenen Literatur-Destillate haben meine Sicht auf die Möglichkeiten der Literatur nachhaltig beeinflusst. Nun ja, in dem Alter wollte ich eigentlich Mumienforscher werden – eine gewisse Affinität war wohl schon vorhanden. (Als Gast Rollinger 2018, entgegen aller Erwartungen, meine Einladung zu einem Leseabend bei mir Zuhause annahm, musste ich ihn nicht lange bitten, die Poe-Geschichte noch einmal vorzulesen.)
Der Mann hinter der Kamera
Gast Rollingers Liebe und Leidenschaft galt der Literatur, dem Film und der Natur. Der von ihm verehrte Bargfelder Eremit und Sprachkünstler Arno Schmidt (den er in der Lüneburger Heide aufsuchte und porträtierte, wenn auch auf indirektem Wege), der klinisch-kalte Expressionist Gottfried Benn und der todessehnsüchtige Österreicher Georg Trakl waren Teil seines Kanons.
Doch dafür ist Gast Rollinger außerhalb Eschs und des LGE nicht bekannt. Mit den RTL-Produktionen „E Fall fir sech“ (1984), „Déi zwéi vum Bierg“ (1985) und „De falschen Hond“ (1989), wo er als Kameramann, Bild- und Tontechniker und Co-Regisseur mitwirkte, wurde sein Name dagegen in die Welt (will sagen: über Esch hinaus) getragen.
Mehrmals arbeitete er auch mit dem Berufskollegen und Dramatiker Fernand ‚Joe’ Barnich (1939-2010) zusammen, um den Niedergang der Kulturlandschaft Minett in entsprechende (RTL-) Bilder und Musik zu gießen. Allgemein ließ er die Lokalhistoriker, Förster, Handwerker und Bauersleute in seinen Dokumentarfilmen zu Wort kommen, interessierte sich für die von der Fortschrittswalze überrollten Käuze, Arbeiter und Unsichtbaren, ließ sie zu Wort kommen und holte sie vor die Kamera.
Mit seinen Professorenkollegen vom LGE Ed. Maroldt (Dramaturgie und Regie) und Ad. Deville (Bühnenbild) verhalf er der jungen Studentenbühne des „Jongelycée“ zu einmaliger Größe. Zwischen 1975 und 1984 wurde hier anspruchsvolles „Schülertheater“ geboten: ob es sich um Adaptationen von Ödon von Horvath („Kasimir und Karoline“), Ken Campbell („Fazz und Zwoo“) oder die von Ed. Maroldt verfassten Stücke „Männer aus Eisen“ und „D’Preise sinn do“ handelte – eine ganze Generation von Schauspielern wie Steve Karier, Christian Kmiotek, Michel Clees oder Rosario Grasso erlernten in dieser „moralischen Anstalt“ mit historischen Stoffen, Schelmenstücken oder sozialkritischem Volkstheater nach lateinamerikanischem Vorbild umzugehen.
1979 kam mit dem Mockumentary „Meng Schoul“ ein abendfüllender Spielfilm in Zusammenarbeit mit Schülern und Lehrern des LGE zustande, dessen Popularitätswerte (intra muros) denen eines „Young Frankenstein“ von Mel Brooks oder der Monthy Pythons, die im Ciné-Club des LGE für Begeisterungsstürme sorgten, in nichts nachstanden.
Es ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie weit die künstlerische Freiheit des damaligen Octave-RTL reichte. Natürlich auch, weil „nicht so viel los war“. Muss man wohl so sehen. Dennoch: Während Gast Rollinger also feuchtfaulige „Dëmpel“, die herbstlich gefärbte Waldlichtung, die nebelverhangene Flurlandschaft – ob Zolverknapp, Widdebierg oder Freckeisen – mit seiner Kamera festhielt und den elegischen Ton handhabte wie kein anderer, war der vorprogrammierte Aufprall umso heftiger. Als die Ära Jean Octave bei RTL zu Ende ging, und somit auch der Gast ausgebootet wurde („Nicht mehr zeitgemäß“, werden die neuen Macher wohl gesagt haben – oder, schlimmer noch, „nicht professionell genug“), hinterließ das tiefe Verletzungen, die nie mehr richtig heilen wollten. In einem Brief an mich schrieb er noch zwanzig Jahre danach von einem „Vernichtungswillen“. Man stelle sich auch vor, was „der“ Zuschauer, dreißig Jahre nach dieser unrühmlichen Episode, denken würde, wenn ihm, statt der üblichen „professionellen“ Cyclocross-Reportagen, ein kurzer poetischer Filmessai über das „Boufferdanger Mouer“ gegönnt würde. Es würde möglicherweise zu einem Shitstorm kommen, die Rede von der „Verschwendung von Steuergeldern“ würde schnell die Runde machen.
Saturnisch
Anfang der Achtziger drehte ich mit den befreundeten Zwillingen Patrick und Christian Bauer (die in den Theaterproduktionen des LGE verschiedene Rolle besetzten) einen Hitchcock-inspirierten, im Super-8-Format gedrehten Suspense-Thriller genannt „The Chair“ (Der Stuhl), für den wir uns Gast Rollinger in einem Cameo-Auftritt wünschten. Alles, was das Drehbuch hergab, war, dass er als zerstreuter Passant in Luxemburg-Stadt, von der Adolphe-Brücke kommend, mit dem Gesicht in eine Telefonkabine knallte, Blutspritzer inklusive. Er willigte ein, kam zu uns und tat seinen Job. Der Film wartet immer noch auf eine Tonspur und eine Weltpremiere. Vielleicht liegt es auch an der grottenschlechten Performance des Hauptdarstellers Jérôme Netgen. Gast aber war „impeccable“.
Hätte Gast Rollinger auf einem anderen Planeten als dem „Planet Hiehl“ leben müssen, wäre es wohl der Saturn gewesen. Angestrahlt von der schwarzen Sonne der Melancholie.
Mein Versuch, ihn für einen Trakl-Abend in der Kulturfabrik einzuladen (vorgestellt wurde die von Jean Back verfasste Doku-Novelle „Trakl Blues“), blieb ohne Erfolg. Auch eine angedachte Retrospektive seiner Kurzfilme im Kinosch der Kulturfabrik wurde schon im Keim erstickt. Der Mikrokosmiker schien seinen Radius noch mehr eingeschränkt zu haben; fortan gab es kein Entkommen mehr aus der Hiehl, ein Baden in der Menge schon gar nicht, hatte er doch in diesem „Locus Solus“ zwischen Bahnschranke und „Kazebierg“ alles, was er brauchte, um seinen Kalmäuser (für „Stubengelehrter“, ein Gattungsname, der ihn besonders inspirierte und zu einer schönen Erzählung, gedruckt im Jahrbuch der Professorenvereinigung APESS, der „recré 16“, führte) von der Leine zu lassen.
„Ach, vergeblich das Fahren!/Spät erst erfahren Sie sich:/bleiben und stille bewahren/das sich umgrenzende Ich.“ (Gottfried Benn)
Was ist mir nicht vorzustellen wage, ist, wie das ganze Erbe in diesem Haus in der Lorraine-Straße demnächst in einem Container vor der Haustür landet. Vielleicht kommt es ja nicht dazu. Das CNA in Düdelingen und das CNL in Mersch sind vielleicht schon alarmiert. Vielleicht. Und da die Lorraine nun Grand Est heißt, kann man die Straße auch in Gast-Rollinger-Straße umbennen.
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