Geldpolitik / Rekord-Inflation zwingt EZB zu Kurswechsel – Zinserhöhungen ab Juli
Die wegen der extrem hohen Inflation unter Druck stehende Europäische Zentralbank will nach mehr als einem Jahrzehnt der äußerst lockeren Geldpolitik nun den Stecker ziehen. Zuvor hatte sie lange Zeit gezögert.
Die EZB kündigte am Donnerstag nach ihrer Ratssitzung in Amsterdam an, die wichtigsten Zinssätze im Juli um jeweils 0,25 Prozentpunkte anheben zu wollen. Es wäre die erste Erhöhung seit 2011. Weitere Schritte nach oben sind bereits fest eingeplant. Die umstrittenen Anleihenkäufe werden zum 1. Juli eingestellt. Kritiker warfen der Notenbank trotzdem vor, viel zu zögerlich zu handeln. An der Börse gaben als Reaktion Aktien deutlich nach, der Euro verlor nach anfänglichen Gewinnen an Boden.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte, die beschlossenen Maßnahmen seien einstimmig gebilligt worden. „Die hohe Inflation ist eine gewaltige Herausforderung für uns alle.“ Sie habe sich zuletzt verstärkt und ausgebreitet, sei „unerwünscht hoch“. Die EZB werde sicherstellen, dass das Ziel der Notenbank von zwei Prozent Inflation mittelfristig erreicht werde. Im Mai lag die Teuerungsrate im Euro-Raum auf dem Rekordniveau von 8,1 Prozent.
Experten fürchten, dass es immer schwerer wird, die Inflation wieder in normale Bereiche zu drücken, wenn erst eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt wurde. In den USA und Großbritannien wurden die Zinsen auch deswegen bereits deutlich angehoben.
Lagarde sagte, in den nächsten Jahren sei mit einer allmählichen Normalisierung der Inflation zu rechnen, unter anderem weil die Energiekosten moderater ausfallen und sich Lieferkettenprobleme langsam auflösen dürften. Sie räumte aber ein, dass es stärkere Lohnzuwächse gebe, aber keine Spirale. Man müsse geduldig sein. „Erwarten wir, dass die Zinserhöhung im Juli unmittelbare Auswirkungen auf die Inflation haben wird? Die Antwort lautet: Nein.“
Lagarde sprach mehrmals von einer Reise, auf die sich die Notenbank nun begebe. Die EZB plant bei ihrer September-Sitzung einen zweiten Schritt nach oben. Wie stark dieser ausfallen wird, ist noch offen. Ein größerer Schritt sei angebracht, sollte der mittelfristige Inflationsausblick bis dahin schlecht bleiben oder sogar noch düsterer ausfallen, so die Währungshüter. Konkret bedeutet dies, dass die hauseigenen Prognosen für die Inflationsrate im Jahr 2024 bei mindestens 2,1 Prozent liegen müssten. Dann liefe die EZB Gefahr, ihr Zwei-Prozent-Ziel im vierten Jahr in Folge zu verfehlen. Nach September rechnet die EZB mit weiteren, aber eher kleineren Schritten nach oben.
Kritik an zu langsamer Reaktion
Der Leitzins in der Eurozone liegt seit längerem bei 0,0 Prozent, der als Strafzins bekannte Satz für Einlagen von Geschäftsbanken bei der EZB bei minus 0,5 Prozent. Diese Sätze wurden am Donnerstag abermals bestätigt. Zuletzt wurde spekuliert, dass die EZB zunächst nur die Negativ-Zinsen beenden könnte, den eigentlichen Leitzins aber nicht anrühren könnte. Das ist nun vom Tisch. Lagarde sagte, ob die EZB im September auch alle Sätze anpassen werde, sei noch nicht entschieden.
„Das Ende der Wertpapierkäufe war überfällig und kommt mindestens drei Monate zu spät“, sagte Friedrich Heinemann vom Mannheimer Forschungsinstitut ZEW. „Eine zu geringe Inflation hat die EZB immer rasch und mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft. Der jetzt viel zu hohen Inflation begegnet Europas Notenbank hingegen sehr langsam.“ Es gebe die Angst vor einer neuen Euro-Schuldenkrise, das lähme die EZB und schade ihrer Glaubwürdigkeit.
Seit Jahren ist die EZB nach der globalen Finanzkrise, der Staatsschuldenkrise um Griechenland und der Coronavirus-Pandemie im Notfallmodus gewesen – mit noch immer historisch niedrigen Zinsen und Anleihenkäufen, die einst gedacht waren, um für mehr Inflation zu sorgen. Insgesamt besitzt die Notenbank derzeit durch mehrere Programme öffentliche und private Schuldtitel im Umfang von rund fünf Billionen Euro.
Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sagte, die EZB riskiere mit ihrem Zögern, dass sich die hohe Inflation dauerhaft festsetze. Trippelschritte reichten nicht aus. „Die EZB sollte ihren Leitzins rasch auf das neutrale Niveau anheben, das wir zwischen zweieinhalb und drei Prozent sehen. Im Zweifel muss sie sogar darüber hinausgehen.“
Inflationsprognose weiter angehoben
Die EZB-Ökonomen hoben abermals ihre Inflationsprognosen kräftig an. Für 2022 wird nun eine durchschnittliche Teuerungsrate in der Währungsunion von 6,8 Prozent erwartet. Noch im März waren hier 5,1 Prozent veranschlagt worden. 2023 dürfte sie dann bei 3,5 (bisher 2,1) Prozent liegen und 2024 auf 2,1 (bisher: 1,9) Prozent nachgeben. Lagarde sagte, alle Experten hätten die Inflation falsch eingeschätzt.
Jahrelang war die Inflation aus EZB-Sicht viel zu niedrig. Mittlerweile hat sich das Bild aber radikal geändert, zuletzt wurden die hohen Energiepreise durch den Krieg in der Ukraine zusätzlich angeheizt. Auch Lebensmittel und viele Rohstoffe sowie Vorprodukte für die Industrie sind deutlich teurer geworden.
Bei steigenden Zinsen könnten vor allem hoch verschuldete Euro-Länder stärker unter Druck geraten. Das lässt sich bereits an den deutlich höheren Risikoaufschlägen für Staatsanleihen aus südeuropäischen Staaten ablesen. Die EZB, die eine Geldpolitik für die ganze Eurozone gestaltet, will eine solche Fragmentierung unbedingt verhindern. Sie würde die Geldpolitik erschweren. „Wenn es notwendig ist, werden wir entweder bestehende angepasste Instrumente oder neue Instrumente einsetzen“, sagte Lagarde, ohne ins Detail zu gehen.
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