/ Remixing in Reverse – 65daysofstatic schreiben Zukunftsmusik zwischen Dystopie und Hoffnungsschimmern
Bei ihrem letzten Abstecher in Luxemburg (vor elf Jahren) waren 65daysofstatic die Headliner des „Out of the Crowd“-Festivals in der Kulturfabrik. An diesem Wochenende schlossen sie das Multiplica ab – das Festival für Digital Arts in den Rotunden. In den elf Jahren dazwischen hat die Band einen unendlichen Soundtrack zum unendlichen Videospiel „No Man’s Sky“ geschrieben und das Decomposition-Theory-Projekt gestartet. In diesem schreibt die Band Algorithmen, die Maschinen produzieren Musik, die die Band dann live begleitet. Mit Keyboarder Paul Wolinski haben wir uns über den Entstehungsprozess und die Hinterfragung des Bandkonzepts im Zeitalter seiner wirtschaftlichen Reproduzierbarkeit unterhalten.
Am Anfang steht ein Sprachsample aus dem Film „Singles“: „This negative energy just makes me stronger. We will not retreat. This band is unstoppable.“ Darauf folgt der energische Headbanger „Retreat! Retreat!“ Typischer Wagemut von Jungspunden, von denen man in drei Jahren nur noch auf den Band-Nekrologie-Seiten sterbender Musikzeitungen lesen wird, dass sie sich aufgelöst haben, hätte ein zynischer Musikjournalist sich damals vielleicht denken können. Aber wenn dieser sich dann das Album „The Fall of Math“ ganz anhörte, hätte er wohl erst mal den Hut gezogen und hätte darauf gespannt sein können, was da noch kommen könnte. Und danach kam noch sehr viel.
Das Quartett aus Sheffield gilt heute als eine der einflussreichsten Bands des Post-Rock-Genres, obwohl die vier Briten sich selbst nicht wirklich als Post-Rock-Band betrachten. Angesichts ihrer Karriere kann man nachvollziehen, wieso sie diese Kategorisierung verwerfen: Ihre Musik passt nicht nur in keine Schublade – sie entwickelt sich von Platte zu Platte so radikal weiter, dass Fans der ersten Stunde, die den Math-Rock von den Platten „The Fall of Math“ und „One Time for All Time“ mochten, dem elektrolastigen Material von „We Were Exploding Anyway“ manchmal nur noch wenig abgewinnen konnten.
Dabei gelingt 65dos der Spagat, den so wenige vollbringen können: Auf jedem Album erfindet die Band sich neu, doch stets bleiben klassische Erkennungsmuster – prägnantes Klavier, Beats, atmosphärische Synthies und verkopfte, emotional ergreifende, aber immer auch tanzbare Musik.
Abenteuerlustige Band
65daysofstatic gehören auch zu den abenteuerlustigsten und hungrigsten Bands überhaupt: Im Laufe ihrer Karriere haben sie in einem Museum in Sheffield den Soundtrack zu einer Installation geschrieben, den Science-Fiction-Klassiker „Silent Running“ neu vertont und vor kurzem einen unendlichen Soundtrack für ein unendliches Videospiel komponiert („No Man’s Sky“).
Diese Grenzüberschreitung ist für Paul Wolinski (eigentlich Keyboarder und Gitarrist, bei 65daysofstatic gibt es aber kaum mehr feste Posten, denn (fast) jeder macht mittlerweile eigentlich (fast) alles) ein sehr organischer Prozess: „Die Musik steht im Zentrum, immer. Es gibt für uns aber eine Frustration gegenüber den Erwartungen daran, was es heißt, in einer Band zu sein. Wenn du ein Künstler bist – nehmen wir beispielsweise Ai Weiwei –, dann kannst du Installationen oder Filme machen – und niemand hinterfragt diese Grenzüberschreitung. Es gibt einen normativen, etwas ermüdenden Erwartungshorizont, der vorschreibt, was es bedeutet, in einer Band zu sein. Wir sind beispielsweise recht gut im Sounddesign. Und Sounddesign eignet sich nicht bloß für das Albumformat, sondern auch für Filme oder Installationen. Wieso sollten wir uns wegen diesen normativen Erwartungen an ein einziges Format halten? Das war auch der Grundgedanke hinter dem Decomposition-Theory-Projekt.“
Eine andere Grundlage des kompositorischen Prozesses der Band ist die ständige Suche nach Herausforderungen und das Hinterfragen des Schaffensprozesses. Bei 65daysofstatic spürt man den Drang, die Grenzen der musikalischen Möglichkeiten zu sprengen: „Ich denke, in frühen Tagen war es uns wichtig, uns einfach nicht zu wiederholen. Als wir gefragt wurden, Musik für ,No Man’s Sky‘ zu schreiben, meinten die Produzenten, wir sollten einfach das nächste 65daysofstatic-Album schreiben. Wir merkten dann, dass wir eigentlich nicht die geringste Idee hatten, was eigentlich ein archetypisches 65days-Album ausmacht. Und stellten dann auch irgendwann fest, dass die eigentlich nicht das nächste 65days-Album wollten, sondern eine Art Greatest Hits. Es war folglich eine schwierige, aber interessante Aufgabe, selbst herauszufinden, welche unsere Erwartungen gegenüber dem, was unsere Arbeitgeber unter einem 65days-Album verstanden, waren. ,No Man’s Sky‘ hätte folglich anders geklungen, wenn wir entschieden hätten, was wir machen würden. Was wir als Nächstes tun werden, wird sich sehr viel von ,No Man’s Sky‘ unterscheiden.“
Dieser Vorwärtsdrang schlägt auch manchmal in Autokritik über: „Ich bin immer noch stolz auf ,The Fall of Math‘. Wir haben sicher was richtig gemacht, weil die Platte immer noch Leuten gefällt – aber ich kann sie nicht mehr hören ohne zu denken, wie schlecht die Aufnahmen sind oder wie wir genau diese Lieder heute besser schreiben würden. Es ist dumm, so zu denken. Aber ich empfinde das jetzt halt so“, meint Wolinski.
Innovationsgeist
Die beste Platte, die je aufgenommen wurde
Objektiv über 65daysofstatic berichten vermag ich nicht. Ich habe 65daysofstatic in Rom, Leeds, Wien, Paris, Arlon, Luxemburg, Köln, Paris, Boston, Brüssel und Metz gesehen. In vielen dieser Städte gleich mehrmals. Mit Keyboarder Paul Wolinski habe ich nach einem Pariser Konzert im Nouveau Casino eine Flasche Wein getrunken und mich beim liebevollen Pianisten über eine Trennung ausgeheult. (Als ich mich später für mein Auftreten entschuldigte, meinte Wolinski mit trockenem britischen Humor nur: „You paid for the red wine. We’re fine.“). „Wild Light“ ist für mich ganz objektiv die beste Platte, die je geschrieben wurde. Wer das Gegenteil behauptet, hat nichts von Musik verstanden.
Als der Tour-Manager Tom Maddocks mir am Nachmittag vor unserem Interview Paul Wolinski vorstellen will, meint dieser nur mit schiefem Grinsen, wir würden uns schon kennen. Drummer Rob Jones und Bassist Simon Wright konnte man am Vortag bereits durch die Rotondes geistern sehen, um sich das Konzert von Actress anzuschauen.
Am Abend selbst gab es vertrackte, atmosphärische, energische Soundscapes, die von viszeralen Visuals begleitet wurden. 65daysofstatic schreiben Musik, die durch den ganzen Körper dringt und einen dünnhäutig vor der Bühne stehen lässt. Unter den Schichten von Elektronik und Avantgarde liegt ein verzerrter, sperriger emotionaler Kern, eine Schönheit, die weltfremd klingt. Melodien wuchern sich durch das Dickicht an Bass und Krach. 65days praktizieren Avantgarde für Leute, die daran glauben, dass Musik, die mithilfe von Maschinen gemacht wird, einen emotional spüren lassen, was es bedeutet, in einer sinnentleerten Welt zu leben.
Komplexe Entstehungsgeschichte
Die Entstehungsgeschichte hinter dem Decomposition-Theory-Projekt ist komplex und spannend. „2013 nahmen wir mit ,Wild Light‘ unser letztes richtiges Album auf. Danach haben wir am Soundtrack zu dem Videospiel ,No Man’s Sky‘ gearbeitet. Das Spiel selbst hatte einen unendlich langen generativen Soundtrack. Wir lernten, non-lineare Musik und Arrangements zu schreiben, die in unerwartete Richtungen gehen. Wir wurden mit algorithmischem Musikschreiben vertraut. Dies nahm uns im Vergleich zu einem regulären Album verdammt viel Zeit – wir werkelten drei Jahre daran. Und weil ,No Man’s Sky‘ das Projekt von jemand anders war, fragten wir uns danach, wie wir all diese neuartigen Techniken in einem autonomen Bandkontext und einer Live-Performance umsetzen könnten“, so Paul Wolinski.
Am Samstag stellte die Band die vierte (und vielleicht finale) Version ihrer Decomposition Theory in Luxemburg vor. „Das Projekt begann als algorithmisch getriebene Show, im Laufe derer die Computer alles generieren und unsere Rolle hauptsächlich die von Kuratoren war. Die ersten Auftritte beruhten am stärksten auf Improvisation – sie waren aber auch am unangenehmsten für uns. Das Gefühl, auf der Bühne zu stehen und nicht zu wissen, was passiert – das war schon ziemlich einschüchternd.“
Nach einem Jahr Pause, in dem die Band die Idee weiterentwickelte, tourte sie im Herbst 2018 durch Europa. „Für diese Shows haben wir den algorithmischen Inhalt heruntergeschraubt und gaben uns selbst wieder mehr Kontrolle. In einer dritten Variante tourten wir dann wieder durch die UK und schliffen weiter an dem Set. Danach dachten wir eigentlich, das Projekt wäre erschöpft – wir haben mittlerweile begonnen, an anderen Sachen zu arbeiten. Aber das ,Multiplica‘ ist genau die Art Festival, für das wir diese Show überhaupt erst konzipiert haben.“
Faszinierendes Werken am Mischpult
Faszinierend ist es definitiv, die drei Musiker (Frontmann Joe Shrewsbury war für die Live-Auftritte nicht dabei) beim Werkeln an Mischpulten und Reglern zu sehen – manchmal merkt man, wie die Band zwischen fertigen Songs und totaler Improvisation pendelt – und sich nicht zwischen den beiden Formen entscheiden muss.
„Funktionieren tut dies nur wegen des Verständnisses, das zwischen uns existiert, weil wir seit vielen Jahren in dieser Band sind. Die Musik, die wir machen, ist nur ein kleiner Teil dessen, was es bedeutet, in einer Band zu sein – daneben gibt es die Art, wie wir auftreten, wie wir uns nach außen präsentieren, die Aussagen, die wir machen. Und dazu befinden wir uns in dem globalen Kreis der Musikindustrie. Diese hat aus unseren Hör- und Konsumfunktionen einen eigentlich relativ rezenten Habitus geformt. Und trotzdem sind wir alle mit diesen Formen aufgewachsen. Alben und Singles sind ein kapitalistisches Konstrukt, ein Konsumgut. Trotzdem ist es die Form, dank der wir Musik zusammen erfahren und die sich in Erwartungshaltungen seitens der Hörerschaft kristallisiert hat. Wenn du all diese Erwartungen sprengst, dann gehst du in diese Welt der Avantgarde. Ich finde diese Welt sehr interessant – aber 65days sehe ich eher als ein Portal, das in diese Welt führen kann. Wir stehen auf dem Rande der Popkultur, versuchen rauszufinden, wie weit man gehen kann, ohne zwecklos obskur zu sein. Wenn jetzt unser Algorithmus eine Menge Schrott, viel Spannendes und was sehr Gutes ausspuckt, stellt sich folgende Frage: Nehmen wir das sehr gute Element oder überlassen wir es dem Zufall, was während der Show herauskommt? Meist entscheiden wir uns für Ersteres – weil wir ein gutes Konzert einer verkopften Show bevorzugen.“
Music could be anything
Bei 65daysofstatic steht der Song immer noch im Zentrum: Die Briten möchten keine algorithmische Band werden und machen vor allem das Konzept nicht zur Einschränkung. „Wenn’s darum geht, ein Album zu schreiben, ist es im Endeffekt wenig relevant, wie der Song jetzt entstanden ist. Es ist sehr wohl möglich, dass wir 30 Sekunden eines sehr komplexen algorithmischen Schreibprozesses übernehmen, weil der gerade sehr gut zu einem zukünftigen Song passt. In dem Sinne könnte man uns, wenn wir jetzt im Rahmen von akademischer Forschung arbeiten würden oder eben ein wichtiger Bestandteil der Live-Coding-Gemeinschaft wären, vorwerfen, wir hätten gemogelt. Aber im Endeffekt befinden wir uns in keinem dieser Kontexte: Wir möchten bloß eine gute Live-Show machen.“
Hinter dem Projekt lag aber auch die Idee, das klassische Bandformat zu sprengen – und den herkömmlichen Produktionskreis von Studioaufnahmen und Touren zu hinterfragen. Folglich wird es auch kein „Decomposition Theory“-Album geben – eine solche Platte wäre wohl zu sehr konstruiert, um dem Konzept gerecht zu werden.
„Das Projekt hat eine utopische Grundlage. Musik muss nicht nur in den leicht kodifizierbaren Formaten, die wir alle kennen, existieren. Wir befinden uns in dem, was Marc Fisher ,kapitalistischer Realismus‘ getauft hat und womit er die Alternativlosigkeit des neoliberalen Systems umschreibt. Wir existieren auch als Musiker im kapitalistischen System und es ist echt schwer, sich andere Formate auch nur vorzustellen. Alben bestehen aus musikalischen Einheiten, die man Songs nennt. Dies hat sich nicht einfach so ergeben. Die Musikindustrie hat dazu beigetragen, dies so zu gestalten. Im digitalen Zeitalter könnte Musik eigentlich allmögliche Formate und Gestaltungsmöglichkeiten ausloten – und trotzdem gibt es diese popkulturellen Formate (kurze Songs die man linear gestaltet), die sich immer noch durchsetzen. Du kannst dich dagegen auflehnen, du kannst es akzeptieren oder du entscheidest für dich, welchen Kampf du führen willst.“
„Wir lassen die Maschinen laufen“
Live sollte das Decomposition-Theory-Projekt eigentlich eine Art Non-Performance sein. „Die Idee war, dem Publikum zu vermitteln: Da sind die Visuals (die wir selbst gestaltet haben). Konzentriert euch darauf. Wir sind bloß hier unten und lassen die Maschinen laufen. Ich vermisse natürlich die Interaktion mit dem Publikum.“
Und auch wenn 65daysofstatic instrumentale Musik machen, ist ihnen soziopolitische Kritik sehr wichtig. Dies stellt man beispielsweise in den Bildern, die während der Show ablaufen, fest.
„Die Welt endet gerade. Wenn man die Tageszeitung liest, fragt man sich, wie belanglos das ist, was man gerade macht. Ich tauge zu nichts anderem, als in einer Band zu sein und Musik zu machen. Die Band ist unser bescheidenes Mittel, das wir haben, um Aufmerksamkeit über politische Themen zu schaffen. Wenn diese kleine Plattform in der Subkultur, die wir geschaffen haben, dazu taugt, unser Publikum daran zu erinnern, dass man sich mit dem, was draußen passiert, auseinandersetzen soll, dann müssen wir diese Gelegenheit nutzen. Als Künstler soll man sich mindestens eine bessere Zukunft vorstellen. Wenn wir uns dies nicht mal vorstellen können – wie sollen wir denn da ankommen? Deswegen auch die Frage: Wie machen wir Musik, ohne dass dieser Akt sofort monetarisiert wird.“
Dieses Jahr soll neues Material der Band folgen. Unter welcher Form und unter welchen Bedingungen die Platte entstehen soll, bleibt abzuwarten. Spannend und verblüffend bleiben 65dos auch nach 18 Jahren Existenz noch.
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