Großbritannien / Rennen um Vorsitz der geschlagenen Konservativen verspricht amüsant zu werden
Seit der folgenschweren Brexit-Entscheidung im Juni 2016 haben die einst disziplinierten britischen Torys mindestens so viel Zeit auf innerparteilichen Streit verwendet wie auf das Regieren der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt.
Liberalkonservative Internationalisten, rechte Law&Order-Freunde, nationalistische Hardliner – die Partei zerfiel in Gruppen und Grüppchen, die sich albernerweise „Forschungseinheiten“ oder sogar à la Mafia „Familien“ nannten. Lustvoll prügelten die jeweiligen Sprecherinnen auf das verfeindete Lager ein, dabei eifrig angespornt von den britischen Medien, die jede anonym verbreitete Sottise zur Nachricht aufbliesen.
Schluss damit, findet der neue Chef des 1922-Clubs, dem sämtliche Tory-Hinterbänkler angehören. Davon gibt es seit der jüngsten Unterhauswahl Anfang Juli deutlich weniger: Gerade 23,7 Prozent der Wählenden mochten sich noch für die einst stolze Regierungspartei unter ihrem Premier Rishi Sunak entscheiden; ihre 121 Mandate im Unterhaus stellen nicht einmal ein Drittel der Zahl dar, die 2019 unter Boris Johnson gewonnen werden konnte. Diese deutlich überschaubarere Schar will Bob Blackman mittels „gelber Karten“ disziplinieren: Wer bei Boshaftigkeiten über Parteifeinde erwischt wird, soll öffentlich bloßgestellt werden.
Mit der Jagd nach Übeltätern dürfte der 66-Jährige in nächster Zeit gut beschäftigt sein. Am Montagnachmittag bestätigte Blackman nämlich gleichzeitig die Liste von zwei Frauen und vier Männern, die sich um Sunaks Nachfolge bewerben. Nach dem Schaulaufen in den Ortsvereinen über den Sommer, Bewerbungsgesprächen in der Fraktion und Ansprachen auf dem Parteitag in Birmingham, geht am Ende ein Duo in die Urwahl der rund 150.000 Parteimitglieder. Anfang November soll endlich der oder die neue Vorsitzende feststehen.
Rechte Hardliner und harte Hunde
Gewiss geht es bei dem gut drei Monate währenden Prozess auch um Inhaltliches. Am Wochenende appellierten beispielsweise drei frühere Parteivorsitzende an die noch zu wählende neue Führung, diese dürfe keinesfalls die ehrgeizigen britischen Klimaziele verwässern. Da wird das Trio bei der Favoritin Kemi Badenoch auf Granit beißen: Die frühere Handels- und Wirtschaftsministerin will die Entkarbonisierung der britischen Wirtschaft jenseits der bisher geltenden Marke 2050 hinausschieben. Die andere rechte Hardlinerin im Rennen, Ex-Innenministerin Priti Patel, plädierte kürzlich sogar für eine Pause in der Klimapolitik.
Ganz auf seinen Ruf als harter Hund in der Asylfrage setzt der dritte Rechtsaußen im Rennen, der frühere Staatssekretär Robert Jenrick. Weil dieser seit Monaten für sich wirbt, im Wahlkampf aber loyal blieb, sind viele Nationalisten zu ihm übergelaufen, die zuvor Suella Braverman die Stange hielten. Diese verabschiedete sich mit einer Kolumne im Tory-Hausblatt Telegraph aus dem Rennen: Da man ihr immer übel nachrede, wolle sie die Partei auch nicht führen. In Wirklichkeit besaß die zweimal gefeuerte Ministerin schon deshalb keine Chance, weil sie Sunak mehrfach im Wahlkampf kritisiert hatte. Das gilt selbst unter den an Grabenkämpfen gewohnten Konservativen als unverzeihlich.
Cleverly, ein Liebling des Parteivolks
Im britischen Mehrheitswahlrecht werden Wahlen in der Mitte gewonnen – an dieses eherne Gesetz erinnern die Liberalkonservativen Tom Tugendhat und Melvyn Stride und werben damit um die Stimmen der Gemäßigten in der Fraktion. Als Versöhner in der Mitte gibt sich der frühere Außen- und Innenminister James Cleverly, das dritte Einwandererkind im Rennen und als Oberstleutnant der Reserve ein Liebling des Parteivolks.
Ob aber Blackmans Appelle an Fairness sowie die Drohung mit der gelben Karte fruchten werden? Das darf bezweifeln, wer in den vergangenen Tagen die britischen Zeitungen studiert hat. Gern wird dort an Jenricks ungeklärte Rolle bei der Vergabe eines betrügerischen Millionenauftrags in der Covid-Pandemie erinnert. „Kemi überquert auf der Suche nach einem Streit eine mehrspurige Straße“, ätzte ein Fraktionskollege über die als streitlustig bekannte Badenoch. Ein anderer ließ sich mit der Einschätzung zitieren, Patel habe wegen ihrer liberalen Einwanderungspolitik die Wahlniederlage mitzuverantworten: „Jetzt kommt sie als verurteilte Brandstifterin daher und will die Rosen wässern.“ Frohe Aussichten für Journalisten, viele graue Haare für Blackman.
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