Interview / Rhetorisches Aufrüsten für den sozialen Frieden: Patrick Dury zur neuen Gewerkschaftsfront

LCGB-Präsident Patrick Dury
LCGB-Präsident Patrick Dury sieht im Vorpreschen von Regierung und Patronat den größten Angriff auf die sozialen Errungenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg. Am Samstag will sich Dury erneut zum Präsidenten an der Spitze des LCGB wählen lassen – und fühlt sich zusammen mit Nora Back vom OGBL gerüstet für die anstehenden Herausforderungen.
Tageblatt: Patrick Dury, nichts weniger als einen historischen Zusammenschluss haben wir Ende Januar erlebt. Wie sind wir an diesem Punkt angelangt?
Patrick Dury: Man sollte wissen, dass wir Gewerkschaften auf gewissen Dossiers immer wieder zusammengearbeitet haben. An diesem Punkt sind wir, weil es eine Reihe an neuen Herausforderungen gibt, die auf uns Gewerkschaften zukommen. Das Verhandlungs- und Signaturrecht der Gewerkschaften bei den Kollektivverträgen wird infrage gestellt, das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgehebelt. Dabei geht es um die Errungenschaften der Arbeitnehmer: Bezahlung, Arbeitszeiten. Diese Punkte von den Kollektivverträgen loszulösen, steht für uns nicht zur Debatte. Und wenn ich dann auf die Rentendebatte blicke, ist es nicht nur notwendig, sondern schon fast ein Muss, dass OGBL und LCGB zusammenarbeiten. Es geht hier um die Errungenschaften der Menschen, da ist es ein No-Go, nicht zusammenzuarbeiten. Aus dem Grund haben wir uns in der *Gewerkschaftsfront* zusammengetan. Und wenn wir Erfolg haben wollen und nicht nur die sozialen Errungenschaften verteidigen, sondern auch den sozialen Fortschritt vorantreiben wollen, haben wir keine andere Wahl. Das ist meine Überzeugung und glücklicherweise sieht meine Homologin vom OGBL, Nora Back, das genauso.
Von wem ging denn die Initiative aus, die Gewerkschaftsfront zu bilden?
Als die Rentendebatte losging, hatte ich Kontakt zu Nora Back aufgenommen. Damals hatten wir dann schon entschieden, gemeinsam auf diesem Dossier zu arbeiten. In der Zwischenzeit haben wir uns durch die verschiedenen Themen so oft gesehen, dass ich ehrlich gesagt nicht mehr sagen kann, von wem genau die Idee letztendlich kam. Wir wollten die Zusammenarbeit aufgrund der Kollektivvertragsproblematik, im Rahmen der Sozialversicherung, die Probleme der Grenzgänger, die Öffnungszeiten auf andere Thematiken ausweiten. Was ich damit sagen will: Von wem die Initiative ausging, ist nicht wichtig – wichtig ist, dass wir zusammenarbeiten. Wir wollen auf unserem Kongress eine gemeinsame Resolution von OGBL und LCGB, von der Gewerkschaftsfront, stimmen lassen, um genau in die Richtung zu gehen, wie ich sie gerade erläutert habe.
Ich hätte mir diese Herangehensweise weder unter einem Jean-Claude Juncker noch unter einem Xavier Bettel vorstellen könnenLCGB-Präsident
Sie haben zahlreiche Themen aufgezählt, die Chronik seit dem 8. Oktober bekannt. Rückblickend ist die Diskussion seit der CPTE-Sitzung immer weiter eskaliert, anstelle dass man sich irgendwann wieder angenähert hätte?
Wir haben am 8. Oktober ein starkes Signal gesetzt. Das haben wir auch nicht leichtfertig gemacht, da uns der Sozialdialog wichtig ist. Es gab Initiativen, um wieder zueinander zu finden. Es gab Termine beim Premierminister, wo uns versichert wurde, dass das Verhandlungs- und Signaturrecht bei den Kollektivverträgen bei den Gewerkschaften bleibt. Öffentlich wird dann jedoch in Interviews gesagt, dass die Inhalte der Kollektivverträge zur Diskussion stehen. Ob das eine Eskalation ist? Wir ziehen unsere gemeinsame Linie jedenfalls durch. „De Lëtzebuerger Sozialmodell ass net an deem Geescht gestréckt.“ Das ist ein Paradigmenwechsel seitens der Regierung, der zu einer Frontalkollision mit den Gewerkschaften führt.
Sie reden von einer Frontalkollision, auf der ersten Pressekonferenz der Gewerkschaftsfront fiel das Wort „soziale Apartheid“. Sowohl Sie als auch Nora Back scheuen nicht vor einer martialischen Rhetorik zurück, Regierung und Patronat werfen Ihnen mal mehr oder weniger direkt eine verbale Eskalation vor.
Wir sehen uns dem größten Angriff auf die gewerkschaftlichen Freiheiten und die sozialen Errungenschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgesetzt. Wenn ich mir veranschauliche, wie Arbeitsminister Georges Mischo (CSV) nach dem 8. Oktober in der Presse agierte, muss klar sein, dass wir darauf antworten werden. Ja, ich habe den Begriff „soziale Apartheid“ im Kontext der Ungleichbehandlung des Öffentlichen und Privaten Sektor gebraucht. Aber wir haben eine Regierung, die gegenüber den Beamten ganz sozial agiert und gegenüber dem Privatsektor sehr kaltherzig agiert. Mit der Rentendebatte ist die soziale Kohäsion nicht von gewerkschaftlicher Seite infrage gestellt worden. Den Arbeitnehmern im Privatsektor kann man das nicht mehr erklären.
Wie kommt diese enge Zusammenarbeit denn bei den Gewerkschaftlern „um Terrain“, bei den Delegierten in den Unternehmen an. „Déi waren sech jo och net ëmmer ganz gréng, fir mateneen ze schaffen“?
Premierminister Frieden spricht immer wieder von Modernisierung. Die beiden Gewerkschaften zeigen, dass wir uns an neue Gegebenheiten anpassen können. Aber ich meine, dass die vergangenen Monate gezeigt haben, dass die jetzige Situation weit über den eigenen Tellerrand hinausgeht. Wenn wir Gewerkschaften jetzt zusammen streiten und martialische Töne anschlagen, dann weil wir den sozialen Frieden wahren wollen. Und bis der gegenteilige Beweis erbracht wurde, werden der OGBL und der LCGB daran festhalten. Die Regierung hat ihrerseits sämtliche Positionen seitens des Patronats übernommen und sich quasi zu dessen Fürsprecher gemacht. Und wenn ich das einem unserer Mitglieder erkläre, kann ich sagen, dass jeder im LCGB diesen Zusammenschluss versteht.

Wie viel Vertrauen ist noch in die Regierung vorhanden, wenn Luc Frieden öffentlich bekundet, am Sozialdialog festhalten zu wollen, dann jedoch eine offensichtlich gegensätzliche Politik betreibt?
Es wurde ein Sozialtisch angekündigt, ein Termin steht jedoch immer noch nicht fest. Im Oktober wird uns bei einem Treffen gesagt, wir halten das Verhandlungs- und Signaturrecht. Kurz darauf wird in der Öffentlichkeit wieder alles relativiert. Wenn jemand so agiert, hält er sich gerne ein Hintertürchen offen. „D’Vertrauen ass schon extrem ugekraazt.“
Wir aber machen weiter unsere Arbeit. Wir haben ja nicht nur die Forderungen, dass diese Themen endlich bereinigt werden. Wir haben natürlich auch Forderungen, um die Kollektivverträge zu verbessern, die Rolle der Gewerkschaften zu stärken und die Obligation für Arbeitgeber, dass diese mit uns verhandeln müssen.
In den vorangegangenen Krisenzeiten hat der Sozialdialog mit drei Tripartiten innerhalb kürzester Zeit jedoch funktioniert. Was hat sich geändert?
Wir hatten mit Xavier Bettel einen Premierminister, der bereits während der Pandemie auf die Herausforderungen reagiert hat, indem er Entscheidungen wie zum Beispiel die des „chômage partiel“ mit den Sozialpartnern gemeinsam genommen hat. Es wurde mit substanziellen Mitteln und zu dritt entschieden, die Menschen nicht abrutschen zu lassen. Auch deswegen ist es trotz sanitärer Krise nicht zu einem sozialen Bruch gekommen. Trotz Konsequenzen der Pandemie und der Folgen des Krieges in der Ukraine hat es Bettel durch die Einberufung der Tripartite geschafft, das Luxemburger Sozialmodell zu stärken. Die Entscheidungen, die in der Tripartite getroffen wurden, haben geholfen, die Inflation in den Griff zu bekommen. Die Regierung hat sich in die Tradition dessen gesetzt, was Staatsminister Gaston Thorn zusammen mit OGBL-Präsident Jean Castegnaro in den 70er Jahren erschaffen hat. Premierminister wie Jacques Santer und Jean-Claude Juncker haben diese Tradition fortgeführt. Und die Tradition dieses Sozialmodells sollte weitergeführt werden, weil er den sozialen Frieden über Jahrzehnte garantiert hat und letzten Endes die Gesellschaft geschaffen hat, in der wir leben. Deswegen lassen wir dieses Modell nicht einfach zu Grunde gehen. Ich bedauere, dass es so weit gekommen ist. Aber bedauern alleine reicht nicht. Die Antwort muss Solidarität und Engagement lauten.
Sie haben es angesprochen: Ein liberaler Premierminister hat das Sozialmodell gestärkt. Mit Luc Frieden ist jemand aus den Reihen der CSV am Ruder. Den LCGB und die CSV verbindet historisch gesehen so einiges, die Namen Juncker und Spautz fallen einem da spontan ein. Sind Sie enttäuscht vom Vorgehen der CSV oder fühlen Sie sich im Stich gelassen?
Natürlich gibt es bestimmte historische Entwicklungen, die uns verbinden. Jedoch will ich darauf verweisen, dass wir uns spätestens seit 2010 von der Parteipolitik gelöst haben. Mitglieder der Direktion dürfen sich noch immer politischen Wahlen stellen. Im Falle eines Einzuges in die Chamber aber gilt: Entweder man ist Abgeordneter oder Gewerkschafter. Ich bin deswegen viel eher enttäuscht vom Regierungsprogramm. Ich habe eigentlich Möglichkeiten gesehen, viele Leute mit dem Programm zu erreichen – „dat Klénggedrockten, wat net derbäi stoung, war dann awer ganz anescht.“
Unsere Beziehungen zur Regierung, den politischen Parteien und zu unseren Freunden des OGBL ordnen sich der Frage unter, was wir für die Menschen erreichen können. Wir stehen nicht mehr zu einer bestimmten Partei. In dem Sinne könnte ich mir meine Arbeit als Gewerkschafter nicht vorstellen. Die national repräsentativen Gewerkschaften müssen immer im Sinne ihrer Mitglieder, der Arbeitnehmer hier im Land, agieren.
Monatelang waren die Gewerkschaften in der Defensive. Mit der Gründung der Gewerkschaftsfront könnte das Momentum erstmals kippen. Ist es Zeit, in die Offensive zu gehen?
Es war noch immer so, dass wir durch das Bewältigen von Krisen unser Sozialmodell gestärkt haben: Denken Sie an die Frührente, die Steuerkredite zur Stärkung des Mindestlohnes. Dadurch konnte beispielsweise die Kaufkraft der Arbeitnehmer ohne zusätzliche Kosten für die Arbeitgeber gestärkt werden. Aber das vergisst das Patronat. Und das hier ist ebenfalls eine solche Krise – eine Krise, die die Regierung selbst herbeigeführt hat. Und ich kann der Regierung eigentlich nur ans Herz legen, diese schnellstmöglich zu bereinigen, da mit Arbeitslosigkeit, Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz eine ganze Reihe an Problematiken auf Luxemburg zukommen, über die wir diskutieren und im konstruktiven Sinne streiten werden. Wir haben einen sozialen Frieden hierzulande, der seinesgleichen sucht. Und deshalb frage ich mich, warum dieser Streit vom Zaun gebrochen wurde. Und das kann ja dann nur aus rein ideologischen Gründen der Fall sein.

Wird diese Ideologie dadurch vorangetrieben, dass die Gewerkschaften und die Arbeitnehmerbewegung nicht mehr so wie früher in der Politik vertreten sind?
Politik und Gewerkschaften, das sind zwei verschiedene Dinge. Stellen Sie sich vor, es sei ein Gewerkschaftsvertreter des Front syndical, sei es OGBL oder LCGB, zu diesem Moment in der Chamber. „Dat wär eng drolech Geschicht.“ Das bedeutet ja nicht, dass die Gewerkschaften nicht mehr gut vernetzt sind. Vielmehr ist es zu einem grundlegenden Umdenken bei den verantwortlichen Politikern gekommen. Ich hätte mir diese Herangehensweise weder unter einem Jean-Claude Juncker noch unter einem Xavier Bettel vorstellen können. Die Verantwortung für die jetzige Situation liegt nicht bei den Gewerkschaften. Sie liegt bei denen, die eine politische Agenda umsetzen wollen, die mit diesem Land nicht kompatibel ist.
Bei den Kollektivverträgen mahnt das Patronat immer wieder an, dass die Gewerkschaften besonders in den kleineren und mittleren Unternehmen nicht vertreten sind. Was müsste sich ändern, damit die Gewerkschaften auch da Fuß fassen?
Zwei Drittel der Luxemburger Arbeitnehmer arbeiten in Unternehmen, in denen Gewerkschaften mit Personalvertretungen präsent sind. Im Gegenzug stelle ich fest, dass zahlreiche Unternehmen, die in der „Fédération des artisans“ vertreten sind, und von Aufträgen von Gemeinden und Staat profitieren, sich immer wieder am Feldzug gegen die Kollektivverträge beteiligen. Sie wollen also nur vom sozialen Frieden hierzulande profitieren und setzen gleichzeitig darauf, dass die Gewerkschaften bei Dissens nicht streiken. Mit solchen Überlegungen sind die nächsten Sozialkonflikte vorprogrammiert. Das war bei der Cargolux der Fall – und wenn der Bogen weiter überspannt wird, passiert das noch in anderen Unternehmen. Das ist auch ein Grund, weswegen wir die Schlichtungsprozedur vereinfachen wollen.
Apropos Streik: Die Gewerkschaftsfront hat für den 28. Juni eine große gewerkschaftliche Aktion angekündigt. Details gibt es noch keine, ein Streik ist aber zurzeit nicht vom Tisch?
„Mir ginn eis net, bis dat doten berengegt ass.“ Wir verhandeln jeden Tag in den einzelnen Unternehmen, passen die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer an und finden moderne Lösungen. Der Sozialdialog kann also funktionieren. Wenn aber diese atmosphärische Störung nicht behoben wird, kriegen wir überall Probleme. Wenn uns aber der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dann haben wir noch nicht martialisch genug reagiert. Den Sozialdialog wiederherzustellen, ist ein Marathon, der auch am 28. Juni noch nicht vorbei ist. Streikaktionen oder sogar ein Generalstreik stehen also durchaus im Raum.
Sie stellen sich noch einmal als LCGB-Präsident zur Wahl. Ist das Hier und Jetzt die bisher herausforderndste Zeit an der Spitze der Gewerkschaft?
Jede Herausforderung hat ihre eigene Dynamik. Ich habe als Delegierter die Umstrukturierung in der Stahlindustrie miterlebt. Im Nachhinein kann man sagen, es ist alles gut gegangen. Es gab aber durchaus auch schwierige Momente zu der Zeit. Was mich aber besonders beschäftigt, ist diese Allianz aus Regierung und Patronat, die ich in diesem Land nicht für möglich gehalten habe. Die nächsten Jahre werden demnach auf jeden Fall herausfordernd. Aber wir sind zusammen mit unseren Freunden des OGBL entschieden, uns dem im Sinne der Menschen entgegenzustellen. Und wir werden alles daran setzen, die Errungenschaften der Arbeitnehmer und die gewerkschaftlichen Freiheiten zu verteidigen.
Sie haben bei der Präsentation der Gewerkschaftsfront gesagt, dass die „informelle Zusammenarbeit in Zukunft eventuell anders strukturiert werde“. Das wurde schon dahingehend interpretiert, dass wir derzeit Zeuge eines möglichen Vorläufers einer Einheitsgewerkschaft sind. Wie sind diese Worte zu interpretieren?
Die Priorität hat derzeit unser gemeinsames Engagement, für das diese Ad-hoc-Zusammenarbeit gewählt wurde. Ich habe nicht ausgeschlossen, dass dies in Zukunft noch anders strukturiert wird. Das wird ein Weg sein, den wir gemeinsam beschreiten werden. Ich bin aber alleine hier, die Präsidentin des OGBL ist nicht anwesend, weswegen ich nicht mehr dazu sagen kann. Ich kann nur sagen: Lasst euch überraschen …

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