Liebe ist eine Minutenfrage / „Rote Nelken für Herkul Grün“ in einer Bühnenversion von Serge Tonnar
Zehn Jahre nach Roger Manderscheids Tod begleicht das Kasemattentheater eine offene Rechnung mit dem Luxemburger Schriftsteller und inszeniert die Originalfassung eines damals verworfenen Auftragsstücks. Das Problem: Die Uhrfassung von 1974 ist teilweise stark veraltet – und die neue Bühnenfassung weiß nicht so recht, was sie dem damals provokanten Stück hinzufügen soll.
Die Idee ist so verlockend wie halsbrecherisch: Nachdem Roger Manderscheid 1974 die Auftragsarbeit „Rote Nelken für Herkul Grün“ für das Kasemattentheater schrieb, wurde diese abgelehnt. Dass Manderscheid die Absage als demütigend empfand, geht aus der 1983 bei „éditions Phi“ erschienenen Erstauflage deutlich hervor: Noch vor der ersten Szene reproduziert Manderscheid in kleingedrucktem Text die Beweggründe des Ensembles – und beim Lesen dieser Zeilen kann man sich die Fassungslosigkeit des Schriftstellers förmlich vorstellen: „Verschiedene Mitglieder des Ensembles meinten, mit der Vorführung eines solchen Stücks laufe die Truppe Gefahr, vor leeren Stühlen zu spielen, das Stück sei zu modern, zu schwierig“; andere gaben zu bedenken, es wäre auf der „engen Bühne der Kasematten nicht aufzuführen“.
Um die offene Rechnung zu begleichen, entschied sich das Kasemattentheater, den Originaltext, der bisher in einer Schublade des Literaturarchivs Staub fing, zehn Jahre nach Manderscheids Tod uraufzuführen – und rekrutierte dafür mit Serge Tonnar ein weiteres „enfant terrible“ der Luxemburger Kulturszene. Der Musiker, der nach seiner Übersetzungsarbeit von Lao-Tse nun eine Regiearbeit übernimmt und sich so als Allround-Künstler positionieren möchte, erkannte recht schnell, dass der Originaltext „mit seinen gesellschaftlichen Seitenhieben auf die bürgerliche Moral“ knapp 50 Jahre später „kaum noch eine Provokation“ darstellt.
Selbst das konservative Luxemburg ist heutzutage nicht mehr so leicht zu schockieren – und die Geschichte um zwei gelangweilte Pärchen, deren Alltag zwischen Ennui, teurem Wein, Vivaldi, Landhaus, Rassismus, Gossip, Ehestreit und Partnertausch durch das Auftauchen des Radfahrers Hull auf den Kopf gestellt wird, kann man 2020 kaum 1:1 aufführen, zumal Themen wie Scheidung und Abtreibung, die in Manderscheids Text eine zentrale Rolle spielen, heute keine Tabuthemen mehr sind.
Pinocchio und Pendelsack
Der Lösungsansatz? Wilde Dekonstruktion und Metatheater: Nach einer ziemlich radikalen Tabula rasa hat man bei null angesetzt und die übrig gebliebenen Textfetzen werden in ein zeitgenössisches, fast postdramatisches, sprich relativ handlungsfreies Korsett gezwängt. Manderscheid im Remix, sozusagen. Die Figurenzeichnung wirkt dabei bewusst austauschbar: Zu Beginn des Stücks sehen wir ein gelangweiltes Paar, das sich auf mit weißen Tüchern bedeckten Sitzgelegenheiten (Covid oblige) zu Tode langweilt und lustlos beschimpft. Nach dem Austausch zwischen dem Lederwarenhändler Eric (Nickel Bösenberg) und seiner Gattin Barbara Hollenfels (Marie Jung) greifen der Arzt Werner (Pitt Simon) und dessen Ehefrau Claire (Nora Koenig) ähnliche Leitmotive auf.
Die beiden Pärchen führen identische Gespräche, leben in den gleichen Prunkvillen, trinken den gleichen Wein, schauen dieselben Serien, haben identische Vorurteile gegenüber Ausländern, äußern ähnliche Belanglosigkeiten zur politischen Aktualität und sind eigentlich nur noch kreativ, wenn es darum geht, den Partner aufs Äußerste zu verletzen: Werner wirft seiner Frau vor, sie habe ein Doppelkinn, einen Pferdearsch und Hängebrüste, Claire entgegnet, sein „legendärer Mundgeruch“, „sein Pendelsack“ und seine „prophylaktischen Unterhosen“ seien Schuld daran, dass sie kaum mehr miteinander schlafen würden. Die Gesprächsfetzen, die vom Originaltext übriggeblieben sind, sind zusammenhanglos, absurd – jede Figur ist so dünn gezeichnet, dass es kaum von Belang ist, dass sich die jeweiligen Identitäten im orgiastischen, lustlosen Partnertausch in der Mitte auflösen.
Leider ist Tonnars Bühnenfassung ähnlich belanglos: Es wirkt streckenweise so, als hätte man Manderscheids in die Jahre gekommenen Text dekonstruiert und danach nicht so recht gewusst, wie man die einzelnen Bausteine wieder zusammenfügen solle. Das Resultat sind redundante Satzfetzen, die ad nauseam wiederholt werden – so wird ein und derselbe Satz mal gleichgültig, mal wutschnaubend, dann wieder leidenschaftlich vorgetragen, als würde man einem Workshop für Schauspieler beisitzen, die man gebeten hätte, ihre Emotionspalette unter Beweis zu stellen. Das bürgerliche Ennui wird nur gespiegelt, nicht etwa transzendiert – dafür ist vom Text und seinen zynischen One-Linern zu wenig übriggeblieben, dafür fehlt die im Originaltext durchaus vorhandene politische Dimension, dafür sind auch die Regieeinfälle oftmals zu offensichtlich.
Minimalistische Elektro-Beats
Des Weiteren ist vieles äußerst plakativ: Wenn Konstantin Rommelfangens Herkul Grün die beiden Pärchen nach ihrer Zufriedenheit ausfragt und über das Glücklichsein fachsimpelt (denn Reichtum macht nicht unbedingt glücklich, lehrt uns das Stück), fühlt man sich streckenweise an Charles Meders „De Cabinet vum Dokter Menasse“ erinnert – immerhin bleibt uns hier der Sesamstraße-Song erspart. Im Hintergrund flirren zeitgleich glückliche Emojis herum – das Bühnenbild von Dagmar Weitze unterstreicht oftmals zu sehr, was Text und Schauspiel bereits überdeutlich suggerieren.
Damit auch jeder versteht, dass man Manderscheids Stück in die Gegenwart übertragen hat, defilieren vor der ersten Szene Textnachrichten und Smartphone-Ikone, später setzen die Schauspieler immer wieder Masken auf. Die Nachricht ist klar: Bereits vor Covid-19 waren wir entfremdet, haben wir die zwischenmenschliche Wärme gegen die Hitze der Serverfarm ausgetauscht, das Tragen der Masken ist nur noch das letzte Sinnbild eines kontinuierlichen Auseinanderdriftens, die vollendete Einsamkeit.
„Sauereien kann man auch elegant vortragen“, sagt Werner zu Beginn von Manderscheids 1983 abgedruckten Textfassung. Doch auch wenn sich das Ensemble bemüht, dieser sowohl sinnfreien als auch bedeutungsschwangeren Stunde Theater eine gewisse Eleganz zu verleihen, so ist Tonnars Fassung vor allem an Menschen gerichtet, die auch mit 50 noch beim Verb „ficken“ loskichern und sich bei Ausdrücken wie „penis penibilis“ nicht fremdschämen. Da können auch die an und für sich ausgezeichneten Darsteller nicht viel retten – Talente wie Marie Jung, Nora Koenig, Nickel Bösenberg, Konstantin Rommelfangen und Pitt Simon wirken oftmals gnadenlos unterfordert.
Toll ist hingegen die musikalische Untermalung, die aus der Feder von Tonnar selbst stammt. Der minimalistische Elektro lässt vermuten, dass Tonnar viel Das Radial gehört hat: Auf pulsierende Synthies und Beats legen sich verzerrte Textfragmente, der Twin-Peaks-Moment gegen Ende ist nicht nur ästhetisch reüssiert, sondern sagt mehr aus als so mancher Regieeinfall – wenn die verzerrten Stimmen plötzlich rückwärts laufen, wird der Ausbruch aus der luxuriösen Sackgasse, zu der das eigene Leben geworden ist, nicht nur suggeriert, sondern schmerzlich greifbar.
Weitere Vorstellungen im Kasemattentheater: 9., 10., 13., 14., 16., 17., 20., 21., 23. und 24. Oktober um 20.00 Uhr
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