Asselborn im Interview / Ruanda, Rechtsruck, Migration: „Ich fürchte, wir Europäer haben nichts verstanden“
20 Jahre war Jean Asselborn (LSAP) Außenminister Luxemburgs. Nach dem Regierungswechsel im vergangenen Herbst hing der Steinforter seine politische Karriere an den Nagel. Auf eine Kandidatur bei der Europawahl verzichtete er. Europa liegt ihm trotzdem weiter am Herzen. Auch wenn es manchmal wehtut.
Tageblatt: Zwei Wochen sind es noch bis zu den Europawahlen. Alle Beobachter rechnen mit einem Rechtsruck. Auch deswegen wird diesem Urnengang eine solch besondere Bedeutung zugemessen. Sind es die wichtigsten EU-Wahlen überhaupt?
Jean Asselborn: Europawahlen waren immer wichtig. 2019 sagten wir dasselbe wie heute. Auch da hatte man Angst vor einem Rechtsruck. Diese Tendenz ist also nicht neu. Das soll die Wichtigkeit dieser Wahl nicht schmälern. Aber die wichtigste Wahl für alle in der Welt findet im November statt, in den USA.
Bleiben wir aber bei Europa. Was ist die zentrale Frage für die Europäische Union?
Es gibt die eine Frage: Ob wir in Europa auf der Schiene sind, wo jene, die Europa kaputtmachen wollen, immer mehr Zulauf bekommen. Oder ob wir diesen Trend umkehren können.
Wie lässt sich dieser Zulauf bremsen?
Auf jeden Fall nicht so, wie die Europäische Volkspartei es gerade tut. Wer auf die Rechten zugeht, sich mit ihnen Debatten liefert, wertet sie nur auf. Wer auf sie zugeht und sie umgarnt, normalisiert sie. Das Schlimmste wäre nicht, wenn die Rechten stärker würden. Das Schlimmste wäre, wenn Zentrumsparteien nach den Europawahlen eine Koalition mit ihnen suchen würden. Wenn ich von Ursula von der Leyen höre, dass sie eine Zusammenarbeit mit der „Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer“ (EKR) nicht ausschließen will, läuft es mir kalt den Rücken runter. Das darf nicht sein.
Ursula von der Leyen hat als EU-Kommissionspräsidentin und Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei bei den Europawahlen aber genau das getan. Und sie gilt als aussichtsreichste Kandidatin für den Posten an der Spitze der nächsten EU-Kommission …
Dafür braucht sie aber die Unterstützung anderer Parteien. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute auf der Linken eine Präsidentin oder einen Präsidenten der Kommission akzeptieren werden, die ein Techtelmechtel mit der extremen Rechten betreibt, egal, ob sie jetzt „Identität und Demokratie“ oder „Europäische Konservative und Reformer“ oder wie auch immer heißen. Darüber hinaus kann und will ich mir nicht vorstellen, dass jemand Präsidentin oder Präsident der Europäischen Kommission wird, der in Migrationsfragen diesen „Ruanda“-Weg vorschlägt.
Es ist genau das, worüber ich mich 2018 mit Matteo Salvini gestritten habe. Ich sage nur: ,Merde alors!‘
Der EU-Migrationspakt ist gestimmt. Nach zehnjährigen Verhandlungen. Sie haben diese von Anfang bis fast zum Ende begleitet und mitgeführt. Trotzdem ist Migration ein wichtiges Thema bei der Wahl. Ist der Pakt also trotzdem nicht der große Wurf, als der er verkauft wird?
Die Hauptverhandlung liegt genau ein Jahr zurück. Im Juni 2023 tagten die EU-Innen- und Immigrationsminister hier in Luxemburg. Vier Länder wehrten sich gegen ein totales Abgleiten. Wir wollten Familien mit Kindern nicht in einer fixen Struktur an den EU-Außengrenzen unterbringen. Doch wir konnten uns nicht durchsetzen. Und auch nach zehn Jahren bleibt der Schwachpunkt derselbe: Wenn die Länder nicht solidarisch untereinander sind, werden wir scheitern. Die Länder im Süden, vor allem Griechenland und Italien, müssen wissen, dass die Länder in der Mitte und im Norden Europas ihnen in Krisenzeiten obligatorisch helfen. Tun sie das nicht, werden die Menschen an den Grenzen von Süden nach Norden hin einfach durchgewunken. Dann behalten wir das Chaos, das wir haben. Es geht nicht demnach nicht nur darum, was in dem Pakt drinsteht, sondern wie es umgesetzt wird.
Der Pakt sieht die Möglichkeit für Länder vor, die niemanden aufnehmen wollen, Ausgleichszahlungen zu tätigen. Auch das sei Solidarität. Wie schätzen Sie die Erfolgsmöglichkeiten ein?
Ich will nicht vorpreschen, aber ich bin nicht optimistisch. Wenn von 27 Ländern zehn oder mehr lieber bezahlen, als Menschen aufzunehmen, ist der Pakt gescheitert. Man hätte das besser machen können und man kann es jetzt noch besser machen – aber doch bitte nicht, indem man noch eine Schippe drauflegt und sagt, dass wir Menschen an den Grenzen abfangen und sie zurück nach Afrika oder sonst wohin bringen.
Die sogenannte „Ruanda“-Lösung wird aber immer populärer, mehr und mehr Staaten wünschen sich eine solche Herangehensweise. Zudem plant die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni von der post-faschistischen Partei Fratelli d’Italia ein Abkommen mit Albanien und nicht mit Ruanda. Wäre das realistischer?
Ruanda oder Albanien, das ist doch wurscht, darum geht es nicht. Als Europäer sind wir verpflichtet, jedem, der an unsere Tür klopft, die Möglichkeit zu bieten, Asyl anzufragen. Das muss dann nicht jeder bekommen. Aber die EU selbst und auch jedes Land der EU haben unterschrieben, dass sie die Genfer Konvention respektieren. Jetzt kannst du doch nicht plötzlich daherkommen und sagen: So, unsere Tür ist zu – wir setzen dich in ein Schiff oder Flugzeug und schicken dich nach Afrika und schauen, wie es weitergeht. Ohne eine Rückkehrmöglichkeit anzubieten! Lassen Sie mich an eines erinnern: Es ist genau das, worüber ich mich 2018 mit Matteo Salvini gestritten habe. Salvini sagte, die Genfer Konvention passt mir nicht mehr, also schmeißen wir sie weg. Aber die Genfer Konvention wurde für die Europäer gemacht, nach dem Zweiten Weltkrieg, sie ist Schutz und Lehre zugleich. Das war damals mein „Merde alors“-Moment, einige dürften sich erinnern.
Ihr „Merde alors“ richtete sich damals gegen den extrem rechten Politiker Matteo Salvini. Was Salvini forderte, ist inzwischen europäische Mainstream-Politik.
Ja, ich fürchte, wir Europäer haben nichts verstanden. Dass eine Kommissionspräsidentin mit auf den Weg geht, in das Wahlprogramm ihrer Partei einzuschreiben, was vor sechs Jahren nur Leute wie Salvini forderten, ist dramatisch. Ich sehe, dass sich die CSV dagegen wehrt. Aber das ist nicht das Problem. Die CSV ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die CSV in einer politischen Familie in Europa ist, die das in ihrem Wahlprogramm stehen hat. Aber es geht nicht nur um die Konservativen. Auch liberale Parteien verlieren den Kompass. Werfen Sie nur einen Blick auf das, was in den Niederlanden vor sich geht.
In den Niederlanden hat der extrem rechte Geert Wilders von der Partij voor de Vrijheid mit der Unterstützung von unter anderem der liberalkonservativen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie von Ex-Regierungschef Mark Rutte kürzlich nach langen Verhandlungen eine Regierung auf die Beine gestellt bekommen.
Und jetzt haben wir mit den Niederlanden und Italien zwei von sechs Gründungsstaaten der Europäischen Union, die plötzlich Sachen sagen wie: So, jetzt gehört Holland endlich wieder uns. Was für eine Vorstellung von der eigenen Stärke und Macht und politischen Handlungsmöglichkeiten ist das bitte schön! Keine Frage, Holland ist ein wichtiges Land. Aber was ist Holland, wenn es allein dasteht? Wenn es allein die Fragen der Migration lösen muss? Wenn es allein gegen den Klimawandel ankämpfen muss? Gegen die organisierte Kriminalität? Dann ist es gar nichts! Das ist die Negation der Union, das ist die Negation von Europa.
Wenige Wochen vor den Chamber-Wahlen im vergangenen Herbst trafen Sie eine für viele überraschende, weil nicht zu Ihrem Image passende Entscheidung. Damals beschlossen Sie, allein reisenden männlichen Flüchtlingen kein Bett in einer Einrichtung in Luxemburg mehr anzubieten. Als Grund nannten Sie akuten Platzmangel. Bereuen Sie die Entscheidung manchmal?
Antwort: Nein. Wir hatten keinen Platz mehr. Das ist ein Fakt. Die Angst war, Eltern mit Kindern keinen sicheren Ort mehr bieten zu können. Deswegen musste ich eine Wahl treffen. Es tat mir leid, aber alles andere wäre unverantwortlich gewesen, auch gegenüber den Leuten, die beim „Office national de l’accueil“ (ONA) arbeiten. Es hat mich aufgerieben, ich habe schlecht geschlafen. Ich hätte die Augen vor der Wirklichkeit verschließen können. Aber das ist nicht mein Charakter. Es gibt Momente in der Politik, in denen man sich zwischen zwei schlechten Möglichkeiten entscheiden muss. Das war so ein Moment.
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