Staatliche Hysterie / Russland jagt Kinder in Tierkleidung: Wie „Quadrobing“ zur Bedrohung stilisiert wird
„Quadrobics“ nennt sich ein Trend, bei dem sich vor allem Kinder und Jugendliche mit Masken wie Tiere bewegen. Russland sieht darin „Faschismus“ und „Entmenschlichung“. Die Lösung: wie immer – verbieten!
Vielleicht ist Sergej Lawrow im Kindergarten nie auf allen Vieren gekrochen und hat, leise unterm Tisch, miaut. Vielleicht hat sich auch Wjatscheslaw Wolodin als Kind nie in der Gestalt eines Hundes, eines Fuchses oder eines Pferdes versucht. Kinder sind ja Meister im Verkleiden und Imitieren von allem Möglichen. Sehr beliebt: Tiere.
Doch Tiere, oh ja, die sind gefährlich, zumal, wenn sich Menschen als Tiere verkleiden, miauen, bellen, auf allen Vieren durch irgendwelche Parks laufen. „Gott bewahre!“, sagen derzeit viele Russen in offiziellen Funktionen. Kinder auf allen Vieren? Mit Masken und Stoffpfoten und am Rücken baumelnden bunten Schwänzen? Nein, solch ein Verhalten dürfe nicht geduldet werden. Lawrow und Wolodin, seit Jahren Russlands Außenminister und Russlands Parlamentssprecher, sind sich sicher: Dieses „Projekt zur Entmenschlichung“, so Wolodin, diese „krankhafte Beschäftigung“, so Lawrow – in ihren Augen natürlich aus dem Westen heraus ihr geliebtes Russland unterwandernd –, müsse weg.
Die beiden sind nicht allein mit ihrer Meinung, dass „Quadrobing“ oder „Quadrobics“, wie das Hobby einiger Kinder und Jugendlicher weltweit genannt wird, nichts auf Russlands Straßen und auch nicht in Russlands Haushalten zu suchen habe. Ähnlich wie die – nicht vorhandene – „LGBT-Bewegung“ oder die – ebenfalls nicht vorhandene – „Childfree-Bewegung“ soll nun auch „Quadrobing“ per Gesetz als „extremistische, destruktive Ideologie“ verboten werden. Ein Gesetzesentwurf liegt bereits der Staatsduma vor. Unter Russlands Abgeordneten hat sich längst ein anderer Trend etabliert: Gefahren dort zu sehen, wo keine sind. Schon veranstalten Schulen Elternabende, Kliniken verteilen Merkblätter zur „Gefahr durch Quadrober“. Und der Staat droht mit dem Entzug des Sorgerechts, sollte ein Kind Hund oder Katze spielen.
„Wahrung von traditionellen Werten“
Bei „Quadrobics“ – einer Art Aerobics auf allen Vieren – ziehen sich Kinder und Jugendliche, meist zwischen sieben und 14 Jahren, Masken und Tierkostüme an und imitieren Bewegungen des jeweiligen Tieres. Die Subkultur geht auf den japanischen Sprinter Kenichi Ito zurück, der es im Jahr 2008 auf allen Vieren laufend ins Guinessbuch der Rekorde schaffte. In Russland steigt der Verkauf von Tiermasken seit Monaten an.
Seit Monaten ist auch die beamtliche Hysterie in Sachen Quadrobics entbrannt. Es kam allerdings eher zufällig. Die russische Sängerin Mia Boyko hatte auf einem ihrer Konzerte eine Achtjährige, die in der Menschenmasse verloren gegangen war, auf die Bühne geholt – und machte sich, kaum hatte sie deren Katzenmaske gesehen, lustig über das Kind. Viele warfen der Sängerin öffentliche Erniedrigung des Mädchens vor, Boyko wehrte sich: „Das sind fremde Einflüsse aus dem Westen, wo das Brechen von Normen zum Trend geworden ist. Das ist nicht normal. Ich will unsere Gesellschaft vor der Zerstörung bewahren.“ Auf diesen Zug der „Wahrung von traditionellen Werten“ sprangen plötzlich auch Funktionäre auf. Und Russlands Außenminister Lawrow brachte die Quadrober auf die internationale Bühne, als er seinen armenischen Kollegen plötzlich fragte, ob in Armenien „so etwas“ auch bekannt sei. Der Armenier verstand nicht recht, worum es geht.
Russlands Abgeordnete sehen in den verkleideten Kindern einen „Virus“ und arbeiteten bereits an „Maßnahmen zur Prophylaxe und Heilung“, wie es Gennadi Skljar von der Regierungspartei „Einiges Russland“ ausdrückt. Russlands Kirche erkennt darin eine „Anti-Werte-Bewegung“, und Russlands Propagandisten befürchten, das Tor zu „Unzucht und Faschismus“, wie es der einstige Filmemacher Nikita Michalkow ausdrückt, sei geöffnet.
Manche Eltern sind verunsichert: „Meine Tochter spielt Katze. Ein völlig harmloses Spiel. Ich habe Angst, dass sie so in die Schule geht“, berichtet eine Mutter in einer YouTube-Sendung. „Als Fuchs fühle ich mich freier. Die Realität ist mir zuwider. Ja, ich flüchte“, erzählt ein 14-Jähriger in einer anderen Sendung. Es ist offenbar ein Weg des jungen Quadrobers, genau der Welt zu entfliehen, die Lawrow, Wolodin und all die anderen aufbauen.
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