Ukraine-Krieg / Russland und der ukrainische Vorstoß in Kursk: „Wir wollten doch die Ukrainer befreien, warum besetzen sie nun uns?“
Der Krieg hat längst russisches Territorium erreicht. Präsident Wladimir Putin spielt den ukrainischen Vorstoß in der Region Kursk allerdings herunter. Auch die meisten Russinnen und Russen reagieren mit Gleichmut auf das Desaster auf eigenem Territorium.
Der Mann mit den gegelten Haaren legt den Arm um seine Tanzpartnerin, und los geht’s im Takt der Musik. Cha-Cha-Cha, Mazurka, Walzer. Die Brise der Newa weht den Tanzenden ins Gesicht, die Touristen schlendern an ihnen vorbei, die einen fotografieren, die anderen tanzen gleich mit. Hier, an der Strelka in Sankt Petersburg, dem Touristenmagnet an der Ostspitze der Wassili-Insel, herrscht Leichtigkeit. Kursk? „Nein, warum sollte ich mir Sorgen machen?“ Krieg im eigenen Land? „Weit weg.“ Und überhaupt: „Ich bin in den Ferien.“ Die entspannt wirkenden Flaneure von Petersburg scheuchen die schlechten Nachrichten beiseite, sie haben sich an den Krieg längst gewöhnt, egal, wie sie im Einzelnen darüber denken. In der Region Kursk ertönen derweil die Sirenen, Raketen schlagen ein.
In Petersburg genießen die Menschen die Abendsonne und gehen weiter ihrer Wege. Dass nur 1.200 Kilometer von der einstigen russischen Hauptstadt entfernt die ukrainische Armee russisches Territorium erobert hat, dass mehr als Hunderttausend Menschen ihre Häuser verlassen mussten, um ihr Leben zu retten und nun mit dem, was sie anhatten, in der Regionalhauptstadt Kursk für ein paar Kissen und etwas Brot in Schlangen anstehen, das interessiert außerhalb der beschossenen Region kaum jemanden. Das hat bereits in der Grenzregion Belgorod nicht interessiert. „Warum sieht denn der Rest des Landes nicht, was hier mit uns passiert“, beklagen sich die Opfer von Belgorod immer wieder verbittert und sehen die Verantwortung für ihr Leid im Westen. Von Armee und dem Kreml fordern sie eine „härtere Gangart“ gegenüber der Ukraine.
Wir wollten doch die Ukrainer befreien, warum besetzen die Ukrainer nun uns?
Der Unmut, der durchaus geäußert wird, richtet sich meist allerdings nicht gegen den Kreml, sondern höchstens gegen die Beamten vor Ort oder gegen das Verteidigungsministerium, dem die Menschen Korruption vorwerfen. Auch in Kursk rufen die Menschen: „Wo ist der Staat? Warum zeigt sich uns der Staat nicht? Warum sagt er nicht die Wahrheit?“ Russlands Präsident Wladimir Putin ist nicht damit gemeint. Seinen Rückhalt in der Bevölkerung scheint nichts zu erschüttern, selbst wenn die eigenen Verwandten im Kampf gefallen sind, wenn das eigene Haus zerbombt wird. Schuld ist immer der Westen. Er habe auch den ukrainischen Vorstoß in der Region Kursk geplant, so sind viele überzeugt. Die Ukraine sei lediglich ausführendes Organ, das den „Befehlen ihrer Herren“ folge, wie Putin es nennt.
Putin will keine Friedensgespräche
Die vergangenen zweieinhalb Jahre, seit Putin den Marschbefehl zum Überfall der Ukraine gab, den er nach wie vor „militärische Spezialoperation“ nennt – in russischer Abkürzung „SWO“ – haben den meisten Menschen im Land den Alarmismus genommen. Sie haben sich – auch wegen all der schleunigst beschlossenen Zensurgesetze und Strafmaßnahmen – an das „neue Normal“, wie sie die Zeiten bezeichnen, angepasst. Sie leben. Und sie tanzen. Sie reisen. Sie wollen vergessen. Verdrängen. Doch das Desaster, das jeder Krieg auslöst, ist nicht weg. In der Ukraine schon gar nicht. Und auch in Russland nicht. Es kommt Moskau immer näher. Kursk liegt gerade einmal 500 Kilometer entfernt, im russischen Distanzverständnis ist das um die Ecke. Viele Russinnen und Russen reagieren dabei genauso gleichgültig wie bereits am Anfang der Katastrophe. Sie tun das aus dem Gefühl heraus, nichts dagegen ausrichten zu können. „Von mir hängt nichts ab“, lernen sie bereits als Kind.
Selbst Putin tut in diesen Tagen so, als sei irgendwo ein Fluss über seine Ufer getreten. Die nächste Überschwemmung, irgendwo weit weg. Eine solche Zurückhaltung ist nicht neu. Die Erstarrung ist stets die erste Reaktion, die auf überraschende Herausforderungen folgt.
Bereits bei seiner ersten Bewährungsprobe als Präsident hatte sich Putin Zeit gelassen. Es war ausgerechnet das Atom-U-Boot namens „Kursk“, das am 12. August 2000 in der Barentssee gesunken war. Die Menschen erfuhren davon nur scheibchenweise. Der neue Kreml-Herrscher ließ sich tagelang nicht sehen. Auch nun, da die Souveränität Russlands – mit dieser rechtfertigt das russische Regime seine „Spezialoperation“ in der Ukraine – angegriffen wird, hat Putin mehrere Tage verstreichen lassen, bevor er sich am Montagnachmittag in einer Sitzung mit Gouverneuren der Grenzgebiete sowie den Verantwortlichen aus der Regierung und den Sicherheitsbehörden traf. Das Staatsfernsehen übertrug live.
Geldprämien für den Dienst am Vaterland
Immerhin legte Alexej Smirnow, der Gouverneur der Region Kursk, für all die Fernsehzuschauer dar, dass die ukrainische Armee 28 Ortschaften in der Region kontrolliere und mehr als 120.000 Menschen evakuiert worden seien. Dann unterbrach ihn Putin. „Die Auswertung erfolgt später, von militärischer Seite aus“, sagte er. Putin wirkte bei der Sitzung genervt und unsicher, versuchte allerdings, entschlossen zu sein: „Die aktuelle Aufgabe lautet jetzt: Den Feind aus unserem Territorium zu verdrängen, ihn auszuschalten.“ Den Ukrainern drohte er mit einer „würdigen“ Antwort. Von etwaigen Friedensgesprächen nahm er Abstand und sagte, alle von Russland angesetzten Ziele in der Ukraine würden erreicht werden. Der Zulauf in den Rekrutierungsbüros für Soldaten habe sich in den vergangenen Tagen verstärkt, sagte Putin bei der Sitzung. Was er nicht sagte: Auch Rekruten werden nach Recherchen russischer Nischenmedien im Kampf um Kursk eingesetzt.
Das Regime gibt immer mehr Geld aus, um die Menschen an die Waffen zu bringen. Waren früher vor allem in der Provinz Plakate zu sehen, die offen mit Geldprämien für den Dienst in der Armee oder als Freiwilliger warben, finden sich solche mittlerweile auch in Moskau und Sankt Petersburg. „2.500.000 Rubel (das sind umgerechnet fast 25.000 Euro) sofort und einmalig für deinen Dienst am Vaterland“, steht auf den Werbetafeln.
Im Staatsfernsehen wird vom ukrainischen Vorstoß nicht als solchen berichtet, sondern lediglich von einer „Situation“, die sich in der Region Kursk ergeben habe oder als „Aktivitäten des Feindes an der Grenze“ gesprochen. Evakuierungen heißen „Standortwechsel in sicherere Orte“. Die Evakuierten verstehen meist nicht, wie ihnen geschieht. „Aber warum denn wir? Mein Mann kämpft doch bei der ,SWO‘“, sagen sie oder: „Wir wollten doch die Ukrainer befreien, warum besetzen die Ukrainer nun uns?“ Der Reporter im staatsnahen „Perwyj Kanal“ betont die Hilfe für die Geflüchteten. „An solchen Tagen wird sich gegenseitig gern geholfen“, sagt er. Als seien „solche Tage“ vollkommen alltäglich.
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