Gesellschaft / Saarbrücken: „Wir sind die rote Linie“ – 2.200 Demonstranten bei schlechtem Wetter
Während in Luxemburg die Anti-Corona-Demonstrationen merklich geschrumpft sind, gehen im benachbarten deutschen Saarbrücken seit Dezember 2021 sonntags Tausende angemeldet auf die Straße. Wegen des Wetters an diesem Sonntag waren es nach Schätzungen der Polizei 2.200 Demonstranten. Laut den Beamten sind die Teilnehmer „zum Großteil dem bürgerlichen Spektrum zuzuordnen“. Das berichtete der Saarländische Rundfunk (SR) am selben Tag. Die Veranstalter sprechen von 4.000 Demonstranten. Das Motto ist: „Wir sind die rote Linie“.
Es ist eine breite Mischung von „echten Antifaschisten“ bis bürgerliche Mitte, die es seit Dezember 2021 jeden Sonntag in Saarbrücken auf die Straße treibt. Heute sind nur 2.200 gekommen, eine Woche zuvor berichtete der SR von 5.800 Teilnehmer. „Das ist das Wetter“, sagt ein Teilnehmer. Gregor* geht regelmäßig mit – auch wenn es regnet. Das tut es an diesem Sonntag heftig und es windet.
Hätte man den ruhig und besonnen wirkenden Familienvater vor Corona gefragt, wie er sich politisch einschätzt, hätte er „links-grün“ geantwortet. Jetzt ist er nur noch enttäuscht. Von der Politik, von den Corona-Maßnahmen, von weiten Teilen der Gesellschaft. Wie viele will er seinen richtigen Namen nicht sagen und fotografiert werden schon gar nicht.
Er ist genesen, aber ungeimpft, fühlt sich auf der Arbeit ausgegrenzt. „Meine Kollegen reden zwar mit mir, aber ich merke ihre Zurückhaltung, weil ich nicht geimpft bin“, sagt er. Er passt nicht ins Bild, so wie viele der Demonstranten, deren plakative Botschaften eindeutig sind. „Kriminalisierung der Ungeimpften“ tragen zwei Teilnehmer auf Pappschildern über der Sträflingskleidung, die sie sich für den „Spaziergang“ angezogen haben.
Stigmatisiert, ausgegrenzt, missverstanden
Mit Druck, Vorwürfen, Ausgrenzung und bevorstehendem Jobverlust haben die meisten hier Erfahrung. Gehört werden ihre Argumente oder Bedenken nirgendwo. Irgendwann haben sie angefangen zu schweigen, sich zurückgezogen. Seit Dezember 2021 jedoch machen sie ihrem Ärger Luft. Mit Hupen, Trommeln, Trillerpfeifen oder Megafonen und Musikboxen. „Mittlerweile treffe ich hier auch Geimpfte“, sagt Gregor. „Die haben die Nase voll vom Boostern, fühlen sich von der Politik belogen und finden die Spaltung unerträglich.“
Gefördert hat Gefühle wie diese der von den Medien als „Lockdown für Ungeimpfte“ bezeichnete Ausschluss der Ungeimpften von vielen Bereichen, den CDU-Ministerpräsident Tobias Hans (44) im November 2021 im Saarland verhängt hat. „Der ist in der CDU, das ,C‘ steht für christlich“, schimpft eine Teilnehmerin. Gregor hat vor allem Angst um seine Kinder.
Sein jüngster Sohn wird nach dem ersten Lockdown 2020 eingeschult. Von seinen Freunden in der Kindertagesstätte kann er sich nach Jahren der Gemeinsamkeit nicht verabschieden. Was „social distancing“ genau heißt, weiß der angehende Erstklässler nicht. Er wird es erfahren, mit Quarantäne, geschlossener Schule und Freunden, die nicht mehr kommen. Seine neuen Lehrer kennt er nur mit Maske genauso wie seine neuen Klassenkameraden.
„Schämt ihr euch nicht?“
Gregors ein Jahr ältere Tochter hatte nach Monaten des permanenten Masketragens im Unterricht und auf dem Schulhof im Freien Ausschläge um Mund und Nase. Bei beiden Kindern half zwischenzeitlich nur noch eine medizinische Salbe gegen die rissige Haut an den Händen vom vielen Waschen mit Hygienemitteln. „Eine unbeschwerte Schulzeit sieht anders aus“, sagt der Vater. Mit der Meinung steht er nicht alleine da.
„Hände weg von unseren Kindern, schämt ihr euch nicht?“, heißt es auf Plakaten. Das Motto der Demonstration liefert der neue, gerade vereidigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 12. Dezember 2021. An dem Tag zitiert das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) ihn mit den Worten: „Es darf keine roten Linien geben, das hat uns diese Pandemie nun wirklich gezeigt.“ Die Saarbrücker „Linie“ versteht sich als rot und will gesehen werden.
Für die meisten hier Anwesenden ist Deutschland längst eine Bananenrepublik und die Zahlen in ihren Augen nicht verlässlich. Das wird offen zur Schau getragen. Die Banane findet sich denn auch auf Deutschlandfahnen inmitten der Menschenmenge, nachdem ein Urteil deren Verwendung als „nicht strafbare Handlung“ eingestuft hat. Das berichtet die Saarbrücker Zeitung am 14. Januar 2022.
Gregor fragt: „Warum ist keine Kritik, kein Nachfragen erlaubt?“ Er, vor seiner kürzlichen Covid-Erkrankung mit leichtem Verlauf, permanent getestet und für gesund befunden, kann sich nur wundern. „Was bedeutet der Politik eigentlich noch freie Meinungsäußerung?“, fragt er. Den Demonstranten bedeutet sie offensichtlich viel.
Was sie von der Presse halten, verdeutlicht ein Plakat. „ARD/ZDF – Wir schalten euch ab“, steht darauf. Immerhin haben die Proteste es in die Medien geschafft und sie waren Thema im Landesparlament. Zur Schlusskundgebung, da hatte es aufgehört zu regnen, gab es noch Informationen mit auf den Weg. Die Bühne vor der Kongresshalle ist frei für jeden, der den Mut hat, über seine Situation oder Gedanken zu sprechen.
Das „Ausstiegsszenario“ …
Die, die sich nicht trauen, geben Zettel ab, die verlesen werden. Ein aus dem Saarland stammender emeritierter Professor für Soziologie war schon da, es gab Schweigeminuten für die kürzlich in Kusel getöteten Polizisten. An diesem Sonntag weist ein Mitorganisator auf das „Corona-Ausstiegskonzept“ des Vereins „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie“, kurz MWGFD, hin.
Der Blick auf die Webseite verrät, der Verein hat 31 Mitglieder und 17.745 Unterstützer. Die Berufe der 31 Mitglieder lesen sich wie das „Who’s who“ der Medizin: forschende und praktizierende Allgemeinmediziner, Kardiologen, Pathologen, Gynäkologen oder Neurologen, aber auch Informatiker, Rechtsanwälte und Volkswirtschaftler. Lediglich bei drei der 31 fehlt ein Professoren- oder Doktortitel.
Die Bibliografie im Anhang des 38 Seiten langen „Ausstiegskonzepts“ enthält 141 Fußnoten. Es sind Verweise auf wissenschaftliche Publikationen aus Medizin oder Psychologie sowie Artikel medizinischer Fachzeitungen oder Datenbanken wie Pubmed und Jamma. Die Unterstützer des Vereins kommen ebenfalls überwiegend aus der Gesundheitsbranche, wie der nach Postleitzahlen geordneten, öffentlich einsehbaren Liste zu entnehmen ist. Alles „Schwurbler“? Und so viele?
Am 27. März sind Wahlen im Saarland
Faktenchecks scheitern häufig an der für medizinische Laien nicht nachvollziehbaren Fachsprache in den Belegen für die Aussagen. Eines aber fällt auf. Das prominenteste MWGFD-Mitglied ist Sucharit Bhakdi, der bis zu seinem Ruhestand 2012 als Professor an der Universität Mainz Medizinische Mikrobiologie gelehrt hat. Bis Dezember 2020 beteiligte sich der Inhaber zahlreicher Auszeichnungen für seine Forschungsarbeiten als Gastwissenschaftler an Forschungsprojekten der Christian-Albrechts-Universität in Kiel (D).
Bhakdi äußerte sich bereits im März 2020 kritisch zu den Corona-Maßnahmen, ohne damit in den etablierten Medien Gehör zu finden. Spätere Faktenchecks und mehrere, anschließend von ihm veröffentlichte Bücher haben ihn in den Verdacht eines Verschwörungstheoretikers gebracht. Er ist einer von 31 MWGFD-Mitgliedern. Was davon zu halten ist und wie es im Saarland weitergeht, bleibt ungewiss und gleichzeitig spannend. Die Stimmung ist aufgeheizt, denn es ist Wahlkampf. Am 27. März wählen die Saarländer ein neues Parlament.
* Name wurde von der Redaktion geändert.
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„Kriminalisierung der Ungesimpften“ ? Aber sicher doch. Wer mit einer Knarre rumfuchtelt oder mit 80Km/ durch den Ort rast ist auch kriminell. DAS ist die rote Linie.