Gesellschaft / „Sans-papiers“: In der Grauzone gestrandet
Wenn das Leben aus den Fugen gerät, alles still steht und offizielle Papiere für vieles notwendig sind, geht für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung nichts mehr. Ihr Leben in der Grauzone steht und fällt mit Normalität und vor allem Unauffälligkeit.
Serena✭ (25) und ihr vierjähriger Sohn haben eine Odyssee hinter sich. Seit zwei Jahren leben sie, ihr Mann und ihr Sohn ohne Aufenthaltsgenehmigung in Luxemburg. Es ist das zweite Mal, dass sie von Albanien, von wo sie stammen, den Weg nach Luxemburg zurückgelegt haben. 2014 reisen sie und ihr Mann das erste Mal ins Land ein und beantragen Asyl.
Kurz bevor der ablehnende Bescheid kommt, wird der Sohn 2016 in Luxemburg geboren, innerhalb von 30 Tagen muss die Familie damals mit dem drei Monate alten Kind das Land verlassen. „Es war schlimm, als wir zurückkamen“, sagt Serena in gebrochenem Französisch. Richtig Fuß fassen können sie nicht in ihrer Heimat. Ihr Mann wird darüber hinaus immer wieder krank. Sie reisen aus. Wieder heißt das Ziel Luxemburg.
Chancen auf Bleiberecht ausloten
2018 hier angekommen, richten sie sich in einem Leben in der Illegalität ein. Sie wissen, ein zweiter Asylantrag ist nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung nahezu aussichtslos. Ihr Mann, gelernter Anstreicher, findet Arbeit als Spüler in einer Großküche. Sie mieten ein Apartment im Osten des Landes. Familien wie Serenas sind keine Ausnahme. Im Gegenteil: Viele der Betroffenen führen ein ganz „normales“ Leben. Es läuft, solange niemand nach der Aufenthaltsgenehmigung fragt.
Laurence Hever (41) kennt viele dieser Menschen im Land. Die „Assistante sociale“ arbeitet seit 20 Jahren bei der „Association de soutien aux travailleurs immigrés“, kurz ASTI. Dort berät sie am „Guichet info migrants“ Menschen zu Fragen der Immigration. Unter den 1.000 Beratungen, die allein sie im Jahr 2019 gemacht hat, waren 200 für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. „Wir loten die Chancen aus, ob sie bleiben können, aber oft müssen wir ihnen sagen, es hat keinen Zweck“, sagt sie.
Prekäre Arbeitsverhältnisse
Die meisten dieser Einwanderer stammen aus Nicht-EU-Ländern und arbeiten in prekären Arbeitsverhältnissen. „Gastronomie, Hausarbeit und der Bau sind die Branchen, wo viele dieser Menschen unterkommen“, sagt Hever. Die Bezahlung liegt meistens unter dem Mindestlohn und die Betroffenen haben keine Sozialversicherung. Sie leben in einer Grauzone.
Trotzdem scheinen selbst diese Umstände besser zu sein als ein Leben im Herkunftsland. Was genau in Albanien passiert ist, das ihnen das Leben dort unmöglich macht, kann die junge Albanerin nicht sagen. Zu schlecht ist ihr Französisch. Immer wieder sucht sie nach Worten und ringt um Fassung. Eines ist jedoch klar: Zurück wollen sie und ihr Mann auf gar keinen Fall.
Bon zum Einkaufen lindert Not
Durch Corona hat sich die Lage der „Sans-papiers” jedoch dramatisch verschlechtert. In den Branchen, in denen sie Arbeit finden, ging während des „Lockdowns“ gar nichts mehr. Außerdem können Serena und ihr Mann weder Familienzulagen beantragen noch profitieren sie von den Hilfen für die Kurzarbeit noch wäre ein „Congö familial“ möglich, wie viele ihn in der Krise in Anspruch genommen haben. Der Bon für Lebensmittel von der ASTI im Wert von 50 Euro, um in einem „Cent-Buttek“ einzukaufen, ist in dieser Situation eine willkommene Hilfe.
Deshalb hat sich die junge Albanerin auf den Weg in die Stadt gemacht und sich ins Büro der NGO getraut. Rund 30.000 Euro hat ASTI über die „Œuvre nationale de secours Grande-Duchesse Charlotte“ und bei privaten Spendern gesammelt, um Menschen wie Serena zu helfen. Seit dem 10. April läuft die Aktion. 19.000 Euro sind in Form von Bons bereits verteilt.
Schon mehrere Jahre ohne Papiere im Land
Über die Grauzone, in der sich das Leben der „Sans-papiers” abspielt, wird naturgemäß wenig gesprochen. Sie stehen am unteren Ende der sozialen Leiter. An deren Spitze ziehen Digitalisierung, der ICTC-Sektor und die Finanzindustrie mit hoch qualifizierten Arbeitskräften und gutem Einkommen das Licht der Öffentlichkeit auf sich.
Die meisten kommen derzeit aus Brasilien, von den Kapverdischen Inseln oder aus Kamerun. „Wir sehen hier Menschen, die teilweise schon mehrere Jahre ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land leben“, sagt Hever. In der ASTI-internen Statistik liegt der Anteil derer, die zwischen sechs Monaten und zwei Jahren, und denjenigen, die zwischen zwei und vier Jahren so im Land leben, bei jeweils bei 32 Prozent. 15 Prozent beträgt der Anteil derjenigen, die vier Jahre und länger ohne Papiere im Land leben.
Rechtslage ist komplex
Zuständig für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung ist das Außenministerium, die Abteilung Migration. Je nach Rechtslage müssen deren Beamte entscheiden, ob der Status dieser Menschen legalisiert wird oder ob sie ausgewiesen werden. Den letzten Versuch, das Problem aus der Welt zu schaffen, gab es 2013. Die damalige Regierung leitete eine Art „Amnesie“ in die Wege. Von den 670 Anträgen auf Aufenthaltsgenehmigung wurden damals laut ASTI 400 bewilligt.
Die größte Chance darauf, den Aufenthalt im Land zu legalisieren, haben Familien mit Kindern. In Luxemburg herrscht Schulpflicht. Sie gilt auch für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Wenn die Kinder vier Jahre lang eine Schule in Luxemburg besucht haben, ist ein Antrag am aussichtsreichsten. Es sei denn, sie haben nach einem abgelehnten Asylantrag das Land nicht verlassen wie vorgeschrieben. Das zumindest ist die Erfahrung der ASTI-Mitarbeiterin. „Alle Fälle sind individuell und das Immigrationsgesetz ist komplex“, sagt Hever.
Die „Sans-papiers“ haben keine Lobby. Sie stehen wenig bis gar nicht im Licht einer politischen Debatte geschweige denn sozialer Hilfsmaßnahmen. Organisationen wie die ASTI kämpfen seit Jahren dafür, dass sich das ändert. „Wir fordern zwei Dinge: eine kurzfristige Regelung für diejenigen, die jetzt schon hier sind“, sagt Hever. „Und wir fordern eine allgemeine gesetzliche Möglichkeit, zukünftig den Aufenthalt zu legalisieren.“ Genau das hat ASTI-Präsidentin Laura Zuccoli zuletzt gerade wieder in einem Brief an die Redaktionen erklärt.
✭ Der Name wurde von der Redaktion geändert
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