Migration / „Sans-papiers“: Leben im Schatten – ASTI fordert Legalisierung
Wenn Pascal Onana (36) nicht so gerne singen würde, wäre er heute womöglich noch immer einer der Unsichtbaren. Es sind Menschen am Rande der Gesellschaft, die ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, ohne Krankenversicherung und immer auf der Hut vor einer Kontrolle leben. Die „Association de soutien aux travailleurs immigrés“(ASTI) mahnt seit Jahren, diese Menschen zu „legalisieren“.
Die Geschichte der Flucht von Pascal Onana klingt wie das Drehbuch zu einem Film. Elend, Armut und in europäischen Augen ungeordnete politische Verhältnisse haben in Afrika ein „Business“ hervorgebracht, das unter den Augen der Weltöffentlichkeit tagtäglich Bestätigung erfährt. Diejenigen, die es in Anspruch nehmen, brauchen Geld, Geduld, Gottvertrauen und einen, der einen kennt. Diejenigen, die davon profitieren, sind mit unverfrorener Gier und Skrupellosigkeit ausgestattet.
Onana schildert ein innerafrikanisches Netzwerk, das im Verborgenen funktioniert und gut vom Elend anderer lebt. Viele unfreiwillige Stopps und Neuanfänge liegen hinter dem 36-Jährigen, um die Reise nach Europa zu ermöglichen. Manche „Chefs“ im „Business“ kaufen die Fluchtwilligen gleich ganz mit Haut und Haaren. Das „payment pour la tête“ müssen sie abarbeiten. Als jemand für Onana zahlt, ist er in Agadez und schon mehrere Wochen unterwegs.
Die Stadt im Niger lebt vom Schleusergeschäft und kennt nur zwei Richtungen heraus: Libyen oder Marokko. Seine Geschichte beginnt in seiner Heimat, in Kamerun. Er ist Christ und wird von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram gekidnappt. Zum Zeitpunkt des Überfalls arbeitet er als Elektriker im Norden des Landes auf einer Baustelle. Es passiert nachts. Im Umerziehungslager, in das er verschleppt wird, muss er nach islamischen Religionsregeln leben.
Mehr als zwölf Monate von Kamerun bis Spanien
Die „Gehirnwäsche“, wie er es nennt, erträgt er kaum. Ihm und drei weiteren Kamerunern gelingt die Flucht. Danach beginnt eine Odyssee durch mehrere afrikanische Länder und immer nach demselben Prinzip. Gerade irgendwo angekommen, muss er arbeiten, um Geld für die Schleuser zur Weiterreise aufzutreiben. Kano (Nigeria), Lagos (Nigeria), Agadez (Niger), Tamanrasset (Algerien) und Tanger (Marokko) sind seine Stationen. Schlussendlich landet er zu Fuß, per Lkw und Boot in einem Flüchtlingscamp in Spanien.
Bis dahin sind zwölf Monate seit seinem Aufbruch vergangen. Eine spanische NGO nimmt ihn unter ihre Fittiche. Er wird registriert und darf sechs Monate im gefühlt x-ten Flüchtlingscamp bleiben. Etwas mehr als einen Monat arbeitet er in dieser Zeit als Erntehelfer, ohne Vertrag oder soziale Absicherung, und hilft Obst- und Gemüsehändlern auf dem Markt. Er spart, so viel es geht. Von Luxemburg hat er noch nie gehört. Aber als ein Landsmann ihm davon erzählt, entscheidet er sich dafür.
Er landet mit seinem Freund in Schifflingen. In der Kirche dort trifft er auf Luxemburger, die ihm einen Prospekt des Kirchenchores in die Hand drücken. Er geht zur Chorprobe. „Ich war erstaunt, dass dort nur ältere Menschen singen“, sagt er. „Bei uns in den Kirchen ist das ganz anders.“ Er fällt auf und als die luxemburgischen Prospektverteiler seine Geschichte hören, erzählen sie ihm von der ASTI. Zwischenzeitlich wird seine Identität bestätigt.
Meldeadresse, Arbeit und Aufenthaltsgenehmigung
Sein Pass kommt nach eingehender Prüfung durch die kamerunische Botschaft in Madrid per Post nach Luxemburg. Wenn von „Sans-papiers“ die Rede ist, geht es in den allermeisten Fällen nicht um den Identitätsnachweis. Es sind Menschen, deren Touristenvisum, mit dem sie eingereist sind, abgelaufen ist. Oder ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Oder sie reisen irregulär aus anderen Ländern Europas ein, wie Onana. „Sans-papiers“ steht für eine fehlende Aufenthalts- und die damit verbundene Arbeitsgenehmigung.
Onana bekommt sie fünf Jahre, nachdem er in Luxemburg angekommen ist. Das war im Januar 2021. Heute arbeitet er als „ouvrier polyvalent“ im Parc Le’h in Düdelingen. Er ist eine Ausnahme. „In Luxemburg gibt es keine Möglichkeit, eine Migrationsanfrage zu machen, wenn man schon hier ist“, sagt Jessica Lopes (31). „Das muss passieren, bevor man einreist, sonst wird sie automatisch abgelehnt.“ Die „Assistante sociale“ bei der ASTI berät Migranten und ist Mitglied des Verwaltungsrates.
Die Frage danach, wie viele Menschen das betrifft, ist schwer zu beantworten. Es gibt nur Schätzungen, da diese Menschen naturgemäß lieber unentdeckt bleiben wollen. Allerdings gibt es Anhaltspunkte. Als die ASTI während des Lockdowns Bons für Essen verteilt, kommen 600 Leute. „Sans-papiers“ können kein Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld beantragen. Ihre Arbeitsverhältnisse sind illegal und oft prekär.
ASTI: Flexibilisierung des Gesetzes
„Ich habe noch nie jemanden gesehen, der nicht ausgebeutet wird“, sagt Lopes. „In unseren Augen generiert das bestehende Gesetz diese Unregelmäßigkeiten.“ Von denen gibt es einige. Den Status „sans-papiers“ hat auch derjenige, der nach der Einwanderung ins Land seine Arbeit verliert. Damit ist die Aufenthaltsgenehmigung ebenfalls weg. Ein weiteres Beispiel ist die Tatsache, dass bei Familiennachzug der Ehepartner das erste Jahr im Land nicht arbeiten darf.
„Wie will man die Leute integrieren, wenn man sie nicht arbeiten lässt?“, fragt Lopes und hat ein aktuelles Gegenbeispiel. „Wir haben bei den Flüchtlingen aus der Ukraine doch gesehen, dass es auch anders geht.“ Seit langem fordert die ASTI Änderungen am Migrationsgesetz. Getan hat sich bislang nichts, aber 2023 sind Nationalwahlen. Andere politische Mehrheiten sind möglich. „Wir wollen eine Öffnung und Flexibilisierung des Gesetzes und dabei mit unserer Expertise einbezogen werden“, sagt Lopez stellvertretend für die NGO.
Ausbeutung oder gar Menschenhandel sind nur Beispiele dafür, wie sich die bestehende Einwanderungsregelung für Menschen aus Drittstaaten auswirkt. Daraus gibt es nur wenige Auswege. „Wir wollen die Legalisierung derer erreichen, die schon hier sind“, sagt Lopes. Eine weitere Forderung ist, dass die Möglichkeit geschaffen wird, Anfragen zur Migration stellen zu dürfen, wenn man schon eingereist ist. Onana hatte Glück. Er konnte nachweisen, dass er Wohnung und Arbeit hat, einen gültigen Pass und damit in der Lage ist, selbstständig in Luxemburg zu leben. Er hat mittlerweile eine Aufenthaltsgenehmigung. Das schaffen nur ganz wenige.
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