Luxemburg / Schmuckstück mit Mission: Der „Mutferter Haff“ beschäftigt 50 Menschen mit psychischer Erkrankung
Auf den ersten Blick ist der „Mutferter Haff“ ein idyllisch gelegenes Ausflugslokal. Mitten im Grünen gelegen, mit einem Blick über die Moselgegend bis nach Deutschland, ist er der ideale Platz für eine Pause. Auf den zweiten Blick ist er ein „Atelier thérapeutique et protégé”. 50 Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben nach einem oft langen Leidensweg auf dem Hof ein Stück Normalität gefunden.
Stefani Pawlowski (35) hat gerade eine therapeutische Reitstunde begleitet. Das Pferd führen, beim Bürsten helfen, satteln oder selbstständig longieren sind ihre Aufgaben. Reittherapeutin Julie Juncker (23) hat ein Auge darauf. Das Besondere: Reiterin Clementine (14) ist Autistin und Stefani von Kindesalter an Epileptikerin. Jetzt steht Therapiepferd Sheila wieder im Stall und alle sind zufrieden: Pferd, Reiterin und Stefani.
„Der Mutferter Haff gibt mir Sicherheit“, sagt sie. „Mein Leben ist geregelt“. Sie ist eine von den „alten“, im Sinne von langjährigsten, Mitarbeitern des Hofes und praktisch seit der Gründung als „Atelier thérapeutique et protégé” dort. Das war vor elf Jahren. Im Alter von fünf Jahren wird bei ihr Epilepsie diagnostiziert. Die „Neuvième” hat sie in der Schule noch abgeschlossen, eine 10e in Gartenbau bleibt unvollendet.
Da geht sie schon mit dem Statut „Mensch mit Behinderung” durchs Leben. Depressionen und Essstörungen kommen im Laufe der Jahre hinzu. Als sie in Moutfort anfängt zu arbeiten, wiegt sie 145 Kilo. Sie nimmt ab und hält bis heute ein Gewicht von 99 Kilo. Dass man ihr nichts zutraut, ist sie gewöhnt. Jahrelang hört sie aus ihrem Umfeld, „du kannst das nicht“.
Vertrauen in sich selbst
Die Therapeuten im Mutferter Haff ermutigen sie, sich darüber hinwegzusetzen, wieder an einen ihrer Grundsätze zu glauben. „Man lernt nie aus“, sagt sie. Mittlerweile hat sie ein Zertifikat als „Assistante en thérapie équestre” in der Reittherapie und macht das mit tiefer innerer Befriedigung. „Mit Pferden zu arbeiten, war schon immer mein Traum“, sagt Stefani. Es ist ihr anzumerken, dass sie stolz darauf ist, ihr Leben wieder im Griff zu haben und einen Arbeitsvertrag zeigen zu können.
Als sie sich damals vorstellt, geht es noch schnell mit einer Arbeit auf dem Hof. Heute gibt es Wartelisten mit bis zu 35 Personen. Die Nachfrage für einen der 50 Plätze auf dem in der Psychiatrieszene bestens vernetzten Hof ist groß. Das Konzept baut gleichzeitig Vorurteile ab. Sätze von Restaurantgästen wie „das sieht man ja gar nicht“ zeigen, wie groß die Berührungsängste zwischen Gesunden und Betroffenen sind.
Thierry Ries (42) hört das öfter. Der systemische Familienberater und klinische Psychologe ist Direktor des Mutferter Haff. Alle seiner Mitarbeiter haben eine chronische psychische Krankheit und bemühen sich nach ihren Möglichkeiten. Es sind sie, die den Betrieb mit Restauration und Einstellen von Privatpferden sowie die Reittherapie stemmen. Im Stall mit Misten, Einstreuen der Boxen oder Füttern der Tiere fängt auch Stefani seinerzeit an.
Vorurteile und Tabus abbauen
Sie ist eine von denen, die kommen, weil sie keinen Halt mehr im Leben haben, oft wegen ihrer Erkrankung sozial isoliert sind und sich nichts mehr zutrauen. Stefani muss wegen ihrer Epilepsie Medikamente nehmen. „Wir versuchen in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten, die Medikamenteneinnahme so weit wie möglich zu senken”, sagt Ries. „Die Menschen, die hier arbeiten, sollen wieder einen Sinn im Leben finden.“
Psychisch krank zu sein, gilt vielen noch immer als Tabu. Deshalb spart Ries nicht mit Kritik an der Tatsache, dass die Übernahme der Kosten für eine psychotherapeutische Behandlung in Luxemburg noch immer nicht geregelt ist. Der Mutferter Haff bietet Normalität für psychisch kranke Menschen – je nach ihrer persönlichen Belastbarkeit. Dafür sorgen 13 Psychologen, graduierte Erzieherinnen, Buchhalter, Köche und Pferdewirte.
Voraussetzung für eine Festanstellung ist, dass sie mindestens 20 Stunden pro Woche arbeiten können. Die Arbeit mit ihnen verlangt allen Fingerspitzengefühl, Einfühlungsvermögen und Organisationstalent ab. „Wir schalten uns präventiv ein, wenn die Tagesform mal schlecht ist“, sagt „Haff“-Direktorv Ries. Rehabilitation durch Arbeit ist die Mission des Hofes. Wer keine 20 Stunden arbeiten kann, arbeitet unter den Bestimmungen einer „convention thérapeutique“.
„Wir wollen diese Menschen wieder aufbauen – wohnungstechnisch, finanziell, sozial und gesundheitlich“, sagt Ries. Der Hof zeigt überall auf dem fünf Hektar großen Gelände, was sich mit psychisch kranken Menschen umsetzen lässt – trotz oder gerade deswegen. Und er zeigt, wie sich Vorurteile über die Begegnung von Gesunden mit psychisch Kranken relativieren. „Dafür brenne ich und mein Team“, sagt Ries. Integration und Inklusion sind hier täglich gelebte Wirklichkeit.
„Porte ouverte“
Am Samstag, 11. Juni ist die „Porte ouverte“ des Mutferter Haff, von 11.30 bis 20.00 Uhr. Auf dem Programm stehen Pferdeshow, ein Konzert mit DJ Lungo & Mil, Ponyreiten, Kutschfahrten, Dosenwerfen, Kinderschminken und ein „Springschloss“.
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