Vergessenes Handwerk / Schöne Lederstücke: Bei Martine Guy aus Herborn ist alles Handarbeit
Wenn Martine Guy (55) über ihre Arbeit spricht, gebraucht sie gerne ein Bild. „Nach dem Sport fühlen sich die meisten Menschen körperlich erschöpft, aber glücklich“, sagt sie. „So geht es mir auch.“ Die Französin ist gelernte Sattlerin und produziert außerdem für den täglichen Bedarf. In ihrer Werkstatt lagern viele Lederstücke in unterschiedlichen Farben und Stärken auf dem Regal. Sie hat ihr Atelier in Herborn.
Mit Stoff wollte Martine Guy nie arbeiten. Er ist ihr zu weich. Sie liebt den Widerstand des Materials, wie es sich anfühlt, wie es sich biegt und die Arbeit damit. Die ist physisch anstrengend. Die Französin aus Albi arbeitet in der Gastronomie, bevor sie als Quereinsteigerin den Beruf des Sattlers erlernt. „Im Service eines Restaurants zu arbeiten, hinterlässt keine Spuren“, sagt sie.
Das tun ihre Produkte hingegen schon. Sie reitet selbst eine Weile, kennt den Aufbau von Sätteln und Zaumzeug gut. Deswegen weiß sie, wo sie stabileres und wo sie nachgiebigeres Leder einsetzen muss, wenn jemand einen Sattel will. Das ist aber nur eines ihrer Standbeine. „Es gibt nicht mehr viele Sattler“, sagt sie.
Der Beruf ist wie viele andere alte Handwerke ein Opfer von Industrialisierung und Globalisierung. Als sie 1997 nach Luxemburg kommt, findet sie noch Arbeit bei einem Sattler. 14 Jahre arbeitet sie dort, bevor sie 2012 ihr eigenes Atelier in Herborn eröffnet. Ihr Chef handelt hauptsächlich mit Sätteln und fertigt weniger selbst. Bei ihr ist alles handgemacht – vom ersten Entwurf bis zum fertigen Objekt.
Zu dem kleinen Geschäftsraum führen Schilder. „Atout cuir“ steht darauf – und am Eingang „100% artisanale“. Vom Schlüsselanhänger über den Gürtel bis zum Rucksack: Die Palette ist groß und die Produkte haben ihren Preis. Guy legt Wert auf Qualität. Mit ihr über Leder zu sprechen, ist, als frage man ein Lexikon der Lederarten auf zwei Beinen.
Jedes Leder hat andere Eigenschaften
Jedes Lederstück hat je nach Herkunft beim Tier andere Eigenschaften. „Damit muss man sich auskennen, das ist eine Voraussetzung für die Arbeit mit dem Material“, ist einer ihrer Grundsätze. Eines aber ist bei allen Tieren gleich. Die Haut von Tieren, die im Norden leben, ist dicker, weil es dort für gewöhnlich kälter ist. Im Süden ist sie wegen der Hitze dünner.
Ihr Lieblingsleder stammt vom Kalb. „Es ist weich, fasst sich schön an und es gibt mehr Auswahl bei den Farben“, sagt sie. Ein gutes Stück Leder zu bekommen, ist heute nicht mehr einfach. „Ich will erste Wahl und da weiß ich, wo das Leder herkommt“, sagt sie. Guy kauft nur bei Gerbereien, die sie kennt. Und die werden immer weniger.
Die meisten Gerbereien arbeiten heute mit Großabnehmern zusammen oder werden gleich ganz aufgekauft wie ihr Lieferant für Kalbsleder. Es kommt aus dem Elsass. Die Gerberei Degermann war eine der letzten unabhängigen Gerbereien in Frankreich. 2019 übernimmt der Luxuskonzern Chanel den Familienbetrieb. Sie pflegt den Kontakt mit ihren Zulieferern. Den braucht sie, denn sie kauft zwischen 200 und 250 Quadratmeter jährlich für ihre Produktion.
„Ich bin froh, dass ich dort noch kaufen kann“, sagt Martine Guy. „In Frankreich haben es die Gerbereien schwer, unabhängig zu bleiben.“ Die Lederrollen in ihrem Atelier haben zusammen mit den Gürtelschnallen und anderem Zubehör einen geschätzten Wert von etwa 20.000 Euro. In Luxemburg gibt es gar keine Gerberei mehr. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es welche, nämlich in Wiltz.
Gutes Leder finden wird immer schwieriger
Ein anderer Lieferant liefert ihr das robuste Leder für Sättel aus der Nähe von Hamburg. Im Haushalt von ihr finden sich viele Produkte aus Leder. Die schwarzen Tischsetzer auf dem Esszimmertisch haben leichte Rillen. „Das ist vom Hals einer Kuh“, sagt sie. Der Hals eines gehäuteten Tieres ergibt ungefähr 1,3 Quadratmeter Leder.
Guy verkauft hauptsächlich auf Kunsthandwerkermärkten in Luxemburg und Trier. Dort findet sie die Klientel, die ihre Arbeiten schätzt. Rund 20 dieser Märkte besucht sie jährlich mit ihren Produkten und wenn jemand zu ihr sagt, er kaufe nur noch bei ihr und werfe die anderen Gürtel im Schrank weg, freut sie sich.
„Viele wissen nicht, dass viele Markengürtel zwar aussehen, als wären sie aus Leder“, sagt sie. „Der Kern ist aber aus Pappe.“ Ihre sind aus 100 Prozent Leder und halten eine halbe Ewigkeit. Ihre Kunden haben sich noch nicht den Gesetzen der Wegwerfgesellschaft unterworfen, schätzen „made in Luxembourg“ und meiden asiatische Billigware.
Die Zukunft ihres Berufes sieht sie differenziert. „Das hängt von der Nachfrage ab“, sagt sie. Im Sattlerbereich wird es immer eine geben, solange geritten wird. Bei ihren Lederprodukten ist es nicht so sicher. „Solange die Menschen nur auf den Preis schauen, kaufen und wegwerfen, was nicht mehr passt, und damit Berge von Abfall produzieren, sieht es schlecht aus“, sagt sie. Die Lösung liegt auch hier bei der Kundschaft.
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