Literatur / Schreiben, wie man denkt, weil viele reden, wie man gar nicht denkt
Um was geht es? Es geht um die Schweinereien im späten Kapitalismus und um die verpasste Chance einer besseren Zukunft, es geht um den Sozialismus und um Science-Fiction als Denkmaschine, es geht um die möglichen Welten der Fiktion und unsere Wissensorganisation, es geht um den Tod des Feuilleton und um mathematische Beweisführung, es geht um Rassismus, um die Nazis und um ermordete Genies. Wem der Kopf jetzt schon dreht, sollte besser etwas anderes lesen: Das Kopfzerbrechen, das Dath das Schreiben dieses wundersamen, mutigen Avantgarde-Romans bereitete, kann man beim Lesen durchaus nachempfinden. Trotzdem lohnt es sich, am Ball zu bleiben.
Anfang August, 1945: Der deutsche Mathematiker Gerhard Gentzen verhungert im Kreisgefängnis am Karlsplatz in Prag. Durch seine Arbeit an der Grundlagentheorie und der Widerspruchsfreiheit der Mathematik gehört er zu den Menschen, die uns „leichteres, wahreres, schöneres und schlimmeres Handeln, besseres Forschen, andere Kunst und Politik ermöglicht haben“. Dank Menschen wie Gentzen können wir verifizieren, ob die Computerprogramme, die unseren Alltag steuern und ermöglichen, das, was sie tun sollen, auch gut tun. Um an seinen Theorien weiterarbeiten zu dürfen, hat Gentzen einige Grenzen überschritten: „Er trat sogar in einen Verein von Arschlöchern namens Sturmabteilung ein, abgekürzt SA, weil er sich selbst einredete, dass man in ‚Deutschlands Größe‘ wohl gar nicht mehr zum Rechnen, Denken, Arbeiten kommen würde, wenn man nicht einem Arschlochverein angehörte, der die genannten Wahnideen mit Gewalt gegen zusehends Wehrlose propagierte und umsetzte.“
Februar, 2035. Europa liegt in Schutt und Asche. Vier Jahren davor hat der „hässlichste Krieg der Weltgeschichte“ begonnen. So wie einst der literarische Modernismus(1) ist die menschliche Zivilisation „erschöpft“. Die natürlichen Ressourcen sind es ebenso. „Man kann die Welt ja nicht ewig verarschen“, meint Soldat Benjamin Diehl, der mit zehn Jahren unfreiwillig mitbekam, wie sein Vater bei Siemens durch einen Roboter ersetzt wurde. In dieser Zukunft gab es einen vierten Golfkrieg und gibt es die „falschen Farben“, vor denen sich alle fürchten – wie das alles genau zusammenhängt, erschließt sich dem Leser erst, wie vieles in diesem Roman, sehr spät. Was recht schnell (sprich: nach 200 Seiten) deutlich wird, ist Folgendes: Die Kommandantin Rima Abadi, die Biologen Hossein und Xiaowei sowie der Versicherungsmathematiker Oyewusi sind unterwegs nach Prag, wo sie, wie in einem Roman von Philip K. Dick, den „Mann mit der Maschine“ suchen, der in einem Video erklärt, er könne mithilfe dieser Maschine das Ende der Welt as they know it rückgängig machen.
Zwischen diesen zwei Zeitebenen, in der fiktionalen Gegenwart des Buches, stehen drei Menschen vor einem Rätsel. Urplötzlich ist ein Mann verschwunden. Dieser Mann ist so sehr verschwunden, dass sich niemand an ihn erinnern kann, abgesehen von seiner Geliebten. Es ist, als hätte er nie existiert. Der Verschwundene, so viel wird klar, ist das Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der dystopischen Zukunft. Jan Imhof, Laura Giarizzo und Dietmar Dath versuchen zusammen, das Rätsel um den Verschwundenen zu lösen. Auf dem Spiel steht nichts weniger als die Zukunft der Menschheit.
„Lesen ist die Aufwärmübung zum Denken oder Schreiben“
In der Gegenwart, auf einer anderen Wirklichkeitsebene, die sich mit der Wirklichkeitsebene der fiktionalen Welt mehr oder weniger metaleptisch vermischt, versucht Vielschreiber Dietmar Dath seit mehr als einer Dekade, ein Buch über den Mathematiker Gentzen zu schreiben. Er hört dabei wiederholt „das ohrenbetäubend hirnfremde Echo einer Epoche, in und an der Gerhard Gentzen, Francis Skinner, Albert Lautman und Felix Hausdorff, die ja, als sterbliche Menschen, so oder so und früher oder später einmal haben sterben müssen, auf erheblich schlimmere, beleidigendere und herzvergiftende Weise gestorben sind, als sie in einer Zeit gestorben wären, in der die Leute die Erst-, Best- und Einzigleistungen ihrer seltensten Mitmenschen verständiger würdigen als in der durch und durch verdorbenen Zeit der Massengräber“.
Die Probleme von Daths Unterfangen sind mannigfaltig und beginnen bereits damit, dass er, wenn er Redaktionskollegen der FAZ von seinem Romanprojekt erzählt, meist nur auf Gähnen stößt. Eine noch größere Frage als die nach dem Unterhaltungswert einer Fiktion über mathematische Beweise (die Thomas Pynchons „Against the Day“ auf seinen 1.000 Seiten ansatzweise gelöst hat) ist die der strukturellen und formalen Organisation eines solch epochalen Werkes, das gleichzeitig Beweissatz, Programmiercode und moralische Erzählung sein will – und an sich selbst die Herausforderung stellt, dass Form, Struktur und Semantik nicht nur eine symbiotische Beziehung eingehen, sondern in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie die verschiedenen Elemente einer mathematischen Gleichung. Dath löst das Problem in mehreren Anläufen, indem er die von seinem Erzählprogramm ausgespuckten Resultate immer wieder zergliedert, neu sortiert, hinterfragt.
Das Resultat ist, um es mit den klischeebefangenen Worten des Rezensenten, der es auf den Buchdeckel der Taschenbuchausgabe schaffen möchte, zu sagen, ein überaus anspruchsvoller Roman. So wie es in David Foster Wallaces „Infinite Jest“ ein paar Seiten (manche würden schreiben: hunderte) zu viel über Tennis gibt, so werden die vielen Kapitel über nicht-euklidische Geometrie, Kurt Gödels Theorem der Unvollständigkeit, Kolmogorows Wahrscheinlichkeitsdenken, Biosemantik, durch Selbstbezüglichkeit ausgelöste Paradoxe, Modallogik und ihre zermürbende Analysen über Notwendigkeit und Möglichkeit, Rekursivität und Unzuverlässigkeit einige Leser erst mal abschrecken.
Was weiterhin abschreckt, ist, dass sich dieser Roman nicht mit den im Feuilleton oder der Literaturwissenschaft gängigen Methoden der Kritik zerpflücken lässt. Der französische Schriftsteller Antoine Volodine, Schöpfer des Postexotismus, in Deutschland weitestgehend unübersetzt, weil der Autor unter dem (berechtigten) Verdacht stand, linksradikale Meinungen zu vertreten, schreibt Romane, deren Analyse sich den allgemeinen Kategorien der Literaturkritik widersetzt – so umschifft er eine narratologische Herangehensweise, die Erzählungen in bürgerliche Kategorien wie Teleologie (die im Neoliberalismus immer der Selbstverwirklichung des Individuums entspricht) zerlegt und die Ideologie des späten Kapitalismus widerspiegelt. Wenn der Roman immer noch der sprichwörtliche Stendhal’sche Spiegel, den man entlang einer Straße führt, ist, dann zeigt der zeitgenössische Roman halt immer nur die ölgeteerten, von Abgasen ganz verwackelten Straßen des kapitalistischen Realismus.
Winnetou oder: Gegen das Mitblasen
Auch Dietmar Daths „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ sprengt herkömmliche Erzählstrukturen und -erwartungen und sieht, wie Volodine, in der Science-Fiction, der er vor einem Jahr den fast tausendseitigen Essay „Niegeschichte“ gewidmet hat, eine Gelegenheit, neue Möglichkeitsräume zu schaffen, die es der Erzählung erlauben, sich über die Trostlosigkeit dessen, was ist, hinwegzusetzen, um sich vorzustellen, was sein könnte. Wer „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ liest, erhält schnell den Eindruck, nicht nur eine, sondern mehrere, teilweise miteinander konkurrierende mögliche Welten zu rezipieren. Das hat wiederum sehr viel mit der zentralen, auf dem Buchdeckel abgedruckte Frage zu tun. Diese lautet: „Warum leben wir bisher noch nicht in der Welt, in der wir leben könnten, wenn wir die technischen Mittel, über die wir verfügen, zum Wohle aller einsetzen können?“ Der Roman bietet zwei mögliche Antwortansätze zu dieser in der Frage implizierten These: die erste ist politisch-gesellschaftlicher Natur, die zweite metasemantisch-poetologischer.
Der politisch-gesellschaftliche Antwortansatz zuerst. „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ stellt eine der wesentlichsten und unbequemsten Fragen unserer Zeit: Wieso wurden in den 90ern die fortschrittlichsten Algorithmen hauptsächlich dazu eingesetzt, wahnwitzige „Dealgeschwindigkeiten zu erreichen, die der größte Scheffelprofi am traditionellen Finanzmarkt sich zuvor nicht hätte vorstellen können“? Daths Antwort ist so präzise wie schonungslos: Damals lebten diejenigen, die den wissenschaftlichen Fortschritt – „wie sich die Welt selber rechnet und wie wir sie rechnen“ – planten, an denjenigen, die sich für die sozialistische Analyse der Ungleichheiten, sprich für Demos, Streik, Wahlen und Machtübernahmen interessierten, vorbei.
„Da war das Richtige falsch aufgeteilt worden, und das war falsch, denn während es so nebeneinander herlief, wurde entschieden, wie es weitergehen sollte, mit der Zukunft, und zwar spätestens in den Neunzigern“, in denen „Markennamen in Menschengestalt“ wie Jeff Bezos Wissen und Macht zusammenführten und damit den weiteren Verlauf der Dinge bestimmten. Von da an war the shape of things to come voraussehbar, ungerecht – und einseitig: Die Arschlöcher kamen an die Macht, wurden immer mächtiger und zeigten ihren Triumph in fadenscheinig-provokanten Mottos wie „Es ist einfacher, die Zukunft zu erfinden, als sie vorauszusagen“.
Um der Trostlosigkeit der Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die immer nur im Interesse von Versicherungsgesellschaften, von Konzernen und Regierungen und Militärs stattfinden – um dieser veritablen Wissensverzerrung etwas entgegenzusetzen, spuckt Daths Roman mögliche Welten aus. Dath weiß, dass wir die Wirklichkeit nur berechnen, bewerten, analysieren und verstehen können, wenn wir sie mit alternativen historischen Verläufen vergleichen – in diesem Prozess gründet nicht nur das Genre der Uchronie (es gibt dafür noch ein deutscheres Wort: Alternativweltgeschichte), sondern auch unsere Fähigkeit zu fiktionalem Denken. Ein Roman, der immer nur nacherzählt, was war, verschenkt das revolutionäre Potenzial der Fiktion. Diesen Fehler begeht „Gentzen“ nicht: Im Mahlstrom der (un)möglichen Welten des Romans kristallisieren sich die verpassten Gelegenheiten heraus – aber auch die Hoffnung, es doch noch mal mit einem alternativen Gesellschaftsentwurf zu versuchen.
Mathematik als Fiktion, Fiktion als Mathematik
Der metasemantisch-poetologische Antwortansatz: Das Problem vieler zeitgenössischer Erzählungen – darunter die Mehrheit der für die Shortlist des Booker Prize und des Deutschen Buchpreises festgehaltenen Romane – liegt darin, dass sie nicht weitsichtig genug sind: Sie beschäftigen sich ausschließlich mit dem, für das sich die Menschen ihrer Zeit interessieren: „Soziale Netzwerke. Kaufen. Verkaufen. Rassismus, Antirassismus. Geschlechterstreit.“ Im fiktionalen Jahr 2130 sagt eine Romanfigur dazu: „Wir sagten damals auch ‚Scheiße‘ dazu und waren eigentlich mit nichts anderem beschäftigt.“ Daths Kalkülroman hat die Weitsichtigkeit guter Science-Fiction, aber auch die Scharfsichtigkeit des Denkers, der einen unerbittlichen Blick auf Gesellschafssysteme und Ausbeutung wirft, ohne dem rein mimetischen Schreiben zu verfallen.
Denn zentral im literarischen Diskurs bleibt, auch – oder gerade – im Feld der unmöglichen Welten der Science-Fiction, nach wie vor die Frage: Wie berichten wir über Wirklichkeit? Die meisten Romane wählen zurzeit das Porträtieren gesellschaftlicher Missstände. So lobenswert dies auch ist, so kurzsichtig ist diese Art der Literatur speziell dann, wenn sie die einzige ist, die noch gelesen wird. Die zeitgenössische Welt, stellt Dath fest, beruht mehr denn je „auf der Rechenleistung von Computern: Sie ermöglicht die Flugbuchungen, die Verteilung von Impfstoffen oder Hilfsgütern, die Steuerung der Atomwaffenarsenale oder die detaillierten Abbildungen eines Lebens durch Likes und Kommentare in den sozialen Medien.“
Um dieser zentralen Frage der Wirklichkeitsdarstellung und der Möglichkeitsberechnung einen formalsemantischen Antwortansatz zu geben, um zu zeigen, wie wichtig die Frage nach den Auswirkungen und der Nutzung der Technik, die unser Leben berechnet, ist, wählt Dath die Form eines quasi modallogischen Kalkülromans. Er nähert sich so dem, was Olivier Caïra in „Définir la fiction“ eine mathematische Fiktion nennt. Die Axiomatik der logisch-mathematischen Fiktion schuldet der Wirklichkeit keinerlei Rechtfertigung (den Regeln des Schachspiels entspricht kein Regelwerk der Realität), kann in ihren möglichen Welten aber wegweisend für das sein, was einmal sein könnte. Wenn Daths Roman so erzählt, wie man Code schreibt, geht er einen Schritt weiter als Jose Luis Borges, dessen Fiktionen durch ihre Verschachtelungen, möglichen Welten und Beschreibungen unvorstellbarer Dinge („El Aleph“) auch bereits abstrakt, mathematisch und ungreifbar waren. Dass diese Form in der Literatur eher Seltenheitswert hat, scheint verständlich: Literatur interessiert sich meist mehr für Menschen als für Sachverhalte.
Den meisten Menschen ist es unangenehm, nach irgendeiner Art Wirklichkeit gefragt zu werden, weil so eine Frage sie daran erinnert, dass sie keine haben„Gentzen oder: Betrunken aufräumen“
„Ich werde nie verstehen“, schreibt Dath, „wieso Leute auf der Welt vorhanden sind, die zwar etwas erzählen wollen, aber nicht darüber nachdenken möchten, was das ist, erzählen, und sich keine Hilfe holen bei denen, die darüber nachdenken.“ Bei denen, die darüber nachdenken, „was das ist, erzählen“, gilt seit geraumer Zeit die Überzeugung, dass eine Fiktionswelt eine mögliche Welt darstellen könnte – weswegen Literaturwissenschaftler und Philosophen die möglichen Welten der Modallogik immer wieder mit denen der Fiktion verglichen. Zu erklären, wieso und wo genau dieser Vergleich hinkt, würde den Rahmen dieser Besprechung (falls dies überhaupt noch eine ist) sprengen, die Idee, Wahrscheinlichkeitsberechnungen innerhalb von Fiktionen einzusetzen, ist dennoch fruchtbar – das Genre der Science-Fiction versucht sich seit seiner Geburt daran.
Eine der großen Herausforderungen von Daths Roman ist es, mathematische Beweise in erzählerischer Form unterzubringen. Wer mathematisch schreiben will, muss sich mit der Ungenauigkeit der Sprache auseinandersetzen, sobald sie aus dem Solipsismus des Privatgebrauchs oder der formallinguistischen Präzision ausbricht, um sich im Rahmen der konsensuellen Vergesellschaftung, u.a. theorisiert durch Searles Sprechakte, an den kommunikativen Austausch anzupassen. Im Buch denkt der noch junge Gerhard Gentzen: „Spielen geht, ist akzeptabel, wenn man ein Kind ist, Schreien wie ein Irrsinniger als tobender Junge, das geht auch, aber sich wundern, dass alle so reden, wie sie gar nicht denken, sobald sie alt genug für das Spiel sind, so zu reden, wie man nicht denkt, das geht nicht.“ Hume wollte mit den leeren Worthülsen der philosophischen Begriffe aufräumen, der junge Gentzen will gleich die ganze Sprache von ihrer intrinsischen Ungenauigkeit säubern. Demnach scheint die Kluft zwischen Programmiersprache und literarischer Sprache schwer überbrückbar, was schade ist: Da „Mathe […] eigentlich vom ewig veränderlichen Machen [handelt]“, ist sie äußerst geeignet, die Weltgeschehnisse einzufangen, zu beschreiben. Gen Ende des Romans fragt Dath: „Ist das Leben eher Beweis oder Erzählung?“
Dath-a Ich, Data Du, Data Wir(2)
Die Erzählstruktur dieses 600-seitigen ULOs (Unidentified Literary Object) ist (notwendigerweise) zerfahren, die Handlung erst mal schwer auszumachen, fast jedes der 140 Kapitel ist, wie bei Italo Calvinos „Se una notte d’inverno un viaggiatore“, ein fragmentierter Neuanfang, die drei Haupterzählstränge entfalten sich sehr langsam, überall eckt man an, wenn man versucht, in gemeingültigen erzähltechnischen Kategorien zu sagen, um was es hier geht – nach 154 Seiten erklärt eine Erzählinstanz, die vielleicht Dath, vielleicht ein allwissender Erzähler, vielleicht ein Computerprogramm ist: „Dieses Buch ist nur ein zeitweiliges Gehäuse für deine Seele, oder vielleicht ist deine Seele nur ein zeitweiliger Behälter für die Ideen in diesem Buch. Aber wie du spielen sollst, sagt dir beides nicht. Du willst nicht geduzt werden. Ich duze dich nicht gern. Es gibt aber zwingende Gründe dafür. Sie stehen nach und nach im Buch.“ Oft erhält man den Eindruck, Dath würde einen oulipotischen Roman schreiben, dessen formaler Zwang sich nicht ganz erschließen ließe (aber das haben die ersten Leser von Perecs „La disparition“ vielleicht auch gedacht).
„Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ wirkt zu Beginn wie das, was man auf Französisch einen roman fourre-tout nennen würde – also ein Roman, der wie ein wildes Sammelsurium wirken mag. Lady Gaga trifft sich mit dem Mathematiker Gerhard Gentzen, Jeff Bezos starrt ins Leere (betrachtet also sein Spiegelbild), ein Unbekannter will sich umbringen, ein Mann verliebt sich gleich zweimal, ein lesbisches Pärchen liest sich Bücher von Kathy Acker vor, die Dath so beschreibt, dass man sich fragt, ob er den Leser jetzt wieder in einer der selbstbezüglichen Schleifen dieses Buches einsperren will. Der Roman erinnert mit seinen losen zusammenhängenden Kapiteln immer wieder an David Foster Wallaces „Infinite Jest“: Künstlerin Saskia Mählerts Überlegungen über Kunst ähneln den in den Endnoten des Romans aufgelisteten filmischen Avantgarde-Arbeiten von James Orin Incandenza – und Elemente von Daths Wahlplakatanalyse der Grünen findet man so ähnlich in Foster Wallaces Essay „E Unibus Pluram“.
Dath schreibt einen Roman, der formal und strukturell das widerspiegelt, worüber er schreibt, weil er weiß, dass sich im Wissen immer auch die Arbeits- oder Kommunikationsorganisation der Forschenden widerspiegelt. Implizit fragt er: Kann man heute überhaupt noch Fiktionen schreiben, die nicht auch Metafiktionen sind? Soll man das? Hat sich die Metadimension – das Trademark der Postmoderne – nicht, wie Foster Wallace schreibt, im kommerziellen Fernsehen erschöpft, hat sie ihr subversives Potenzial nicht längst eingebüßt?
Ein Buch über die Mathematik und die Metamathematik kann nicht auf Metadiskurs und Metalepsen verzichten, weswegen das Auftauchen von Dietmar Dath in diesem Roman keineswegs autofiktionale Nabelschau, sondern eine weitere Funktion in einem literarisch-mathematischen Beweis ist, der sich, wie Dath es schreibt, erst nach und nach, sehr langsam entfaltet. Dafür muss der Leser Geduld mitbringen, er muss sich auf den Beweissatz, der dieser Roman auch ist, einlassen, ohne genau zu wissen, was eigentlich bewiesen werden soll. Schließlich sind wir in einer Fiktion, und die muss der Wirklichkeit an sich rein gar nichts beweisen.
Sich mit Scheiße beschäftigen
Sie kann es aber. Und Daths Roman will es auch. So beweist der Autor die Notwendigkeit seiner mathematisch-politischen Fiktion folgendermaßen: Weil ein „Kunstschaffen, in dem man nichts über die Gesetze des Elektromagnetismus, der Schwerkraft und der Quantenmechanik findet, nichts über die physischen Grundlagen des Bewusstseins und nichts über den Prozess, mittels dessen wir die Regeln gelernt haben, die alles um uns her regieren“, ähnlich wäre wie eine Kunst, die „keine Erwähnung irgendeines menschlichen Gesetzes oder einer menschlichen Sitte enthielte, keine Spannung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft und keine Darstellung einer Stadt, eines Dorfes, eines Wades oder eines Flusses“, sind einige der ersten Erzählkapitel so abstrakt, dass die Figuren namenlos durch die (verwüstete) Welt wandern. Erst nach und nach, weil Dath sowohl die mathematischen Gesetze, die unsere digitale Welt bestimmen, als auch die politischen Spannungsfelder zwischen Individuum und Kapital ausmalt, gewinnt die dargestellte Welt an Klarheit, entsteht sie progressiv, als würde man den Code, das Programm des Buches, auf einmal – langsam – entziffern.
Am tollsten (oder am zugänglichsten) ist dieses Buch aber, wenn Dath wütet – über die Nazis, die Rassisten, aber auch über die Modernisierung des Feuilleton: Nachdem ein Readerscan, eine „neue Idiotie von einer Firma aus der Schweiz“(3), die eine ausgewählte Anzahl an Zeitungslesern digital markieren lässt, was diese lesen und wann sie aussteigen, bestimmt hat, dass „das alte Rezensionenfeuilleton […] erledigt“ ist und bestimmt wird, dass „Leben in die Bude muss“, schlussfolgert Dath: „Es dummt immer dümmer.“ Am schönsten ist dieses Buch, wenn es das macht, was es sich aufs komplexe Programmheft geschrieben hat – wenn man dem Menschen Dath zuguckt, wie er betrunken aufräumt – und mit den „faulen, zufällig im Westen geborenen Schweinen“ abrechnet.
(1) Vgl. John Barth, „The Literature of Exhaustion“
(2) Das Wortspiel führt auf den Track „Data_Ich“ von Das Radial zurück.
(3) Eine Idiotie, die im Übrigen auch dafür verantwortlich ist, dass weniger Kultur im Feuilleton der Luxemburger Tageszeitungen zu finden ist.
Info
„Gentzen oder: Betrunken aufräumen“, von Dietmar Dath, 608 Seiten, 2021 Matthes & Seitz, 26 Euro
Die Shortlist des Deutschen Buchpreises (ohne Dath, dafür aber mit (Euro)trash)
Weil die Jury des Deutschen Buchpreises 2021 mutige Literatur nicht zu schätzen wusste und spannende Avantgarde-Literatur mittlerweile einem neonaturalistischen Konsensbrei gewichen ist, liest sich die Shortlist des Preises wie folgt: Norbert Gstrein: „Der zweite Jakob“; Monika Helfer: „Vati“, Christian Kracht: „Eurotrash“, Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“, Mithu Sanyal: „Identitti“, Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“.
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