Wirtschaft / Selbstständige: Ein letzter Hilfeschrei vor der Pleite
Zu wenig und zu spät oder gar nicht ausgezahlte Hilfen brechen den Selbstständigen das Genick. Viele stehen vor dem existenziellen Aus. Das sagt Giovanni Patri (45). Während des ersten Lockdowns gründet er die Facebook-Gruppe „Rescue Independents & Startups“. Sie ist mittlerweile auf 8.000 Mitglieder angewachsen. Wut, Frust und Verbitterung wachsen unter den Mitgliedern.
Andrien Anthony (34) geht es so. Die offiziell angekündigten Hilfen hören sich gut an. Sie werden aber schlecht umgesetzt. Der „Chômage partiel” für seine beiden Angestellten wird nur schleppend ausgezahlt. Am 3. Februar trudelte rückwirkend die Zahlung für den Monat Dezember 2020 ein. Sein Gastronomiebetrieb, den er nach zehn Jahren als Angestellter in der Branche endlich in der Nähe von Mersch eröffnet hat, ist seit dem 26. November geschlossen.
Nebenkosten, Gehälter, Sozialabgaben aber laufen weiter. „Wir sind kurz vor dem Konkurs“, sagt er. „Meine Angestellten wollen nicht mehr arbeiten kommen, weil ich sie nicht bezahlen kann.“ Er ist bitter enttäuscht. Sein letztes Gehalt hat er sich im Oktober ausgezahlt. Seitdem lebt er von Ersparnissen.
Er ist nicht der Einzige, der die zugesagten Hilfen ausgerechnet von demjenigen bekommt, der gleichzeitig irgendwann der größte Gläubiger wird: der Staat. „Sie finden hunderte von ähnlichen Beispielen“, sagt Anthony. Giovanni Patri, der als Präsident der „AlliancUp” Asbl rund 700 Betroffene vertritt, hat in dieser Funktion am 24. Januar einen Brief an Premier Xavier Bettel (DP) geschrieben.
Darin heißt es: „Als die Schließung Ende November 2020 verhängt wurde, musste die Horeca-Welt bis Ende Dezember 2020, also fast einen Monat, warten, bis sich ein Hauch von Hilfe abzeichnete, der bis heute nur spärlich ankommt. Ganz zu schweigen vom „Chômage partiel”, der verspätet eintrifft oder unter mehr als fragwürdigen Vorwänden rundweg abgelehnt wird.“
Erspartes aufgebraucht und kurz vor der Pleite
Das kann Audrey Barbosa (38) nur bestätigen. Sie verkauft seit 2018 mit ihrem Mann, der ihr Angestellter ist, portugiesische und spanische Spezialitäten an einem Stand. „Schueberfouer“, „Salon des Vins“, die Fatima-Wallfahrt, Dorffeste oder Weihnachtsmärkte quer durch das Land sind ihre Haupteinnahmequellen. Das ist ersatzlos weggefallen.
Bislang hat sie im Juli 2020 eine staatliche Hilfe von 5.000 Euro bekommen. Sonst nichts. „Sie haben mir gesagt, ich müsse eine andere Verkaufslösung finden“, sagt sie. Da die meisten ihren Schinken beispielsweise nicht kiloweise kaufen, sondern nur in kleinen Mengen, ergibt ein Internetverkauf keinen Sinn.
Das Gleiche gilt für die anderen Spezialitäten. Nach einem kleinen Lieferwagen für den „Porte-à-porte“-Verkauf hat sie sich erkundigt. „Das kostet 10.000 bis 15.000 Euro“, sagt sie. „Abgesehen davon, dass wir das Geld nicht haben, dauert die Genehmigung der Gemeinden für einen solchen Verkauf ein Jahr.“ Sie hat mehrere Rathäuser abgeklappert.
Die alternative Verkaufslösung ist die offizielle Begründung dafür, dass ihr Mann seit November in der Teilzeitarbeitslosigkeit von 80 auf 15 Prozent seines früheren Gehaltes zurückgestuft wurde. Das sind aktuell 400 Euro im Monat. Hinzu kommt: „Vor dem zweiten Lockdown bin ich auf 4.000 Euro für Waren, die ich für die Weihnachtsmärkte in Esch und der Hauptstadt bestellt hatte, sitzen geblieben“, sagt sie. Und jetzt? „Wir haben keine Ersparnisse mehr und stehen kurz vor dem Konkurs.“
Patri selbst sagt: „Wir Selbstständigen stehen unter enormem Druck.“ Kaum oder keine Aufträge bei laufenden Sozialabgaben und anderen Nebenkosten führen immer mehr dazu, dass der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht und das Sofa mitnimmt. Von diesen Fällen kennt er einige.
Staat vergibt Hilfen und ist der größte Gläubiger
Diese Praxis ist auch beim „Centre commun de la Sécurité sociale” (CCSS) bekannt, das auf diese Art offensichtlich ausstehende Sozialbeiträge eintreibt. Am 4. Februar hat das CCSS neue Regeln für Selbstständige auf seiner Webseite veröffentlicht. Darin kündigt es an, die „Zwangseintreibung“ von Sozialversicherungsbeiträgen für Arbeitgeber im Horeca-Sektor bis Ende März 2021 auszusetzen.
Das muss von den Betroffenen beantragt werden. Im Falle verspäteter Zahlungen verzichtet die CCSS bis zum 30. Juni 2021 auf Verzugszinsen. „So etwas hätte gleich am 26. November geschehen müssen“, sagt Patri, der insgesamt eine Langzeitstrategie der Regierung in Sachen Covid-19 vermisst.
Wo soll das Geld herkommen, um Sozialbeiträge zu bezahlen, wenn Selbstständige nicht arbeiten dürfen, weil ihre Betriebe geschlossen sind? Oder weil die Regierung gleichzeitig davor warnt, viele Geschäfte zu frequentieren, weil man sich infizieren könnte. „Das macht keinen Sinn“, sagt der Präsident von „AlliancUp“.
Der Verein ist ein Ableger der Facebook-Gruppe, in dem sich Betroffene seit letztem Jahr organisieren. Deren Mitglieder reagieren noch härter. „Das ist ein Witz“, sagt einer aus der Gruppe, der nicht genannt werden will. „Wir haben eine Krise, da muss man doch mal Ausnahmen machen und schnell reagieren.“
In seinem Brief an Premier Bettel bittet Patri um ein Treffen, um die Praxis zu schildern. Zu der gehört ein viel zu formeller und aufwändiger Formularkrieg, um an Hilfen zu kommen. Bis jetzt hat er nur eine Bestätigung, dass sein Schreiben angekommen ist – mehr nicht.
Wut, Verbitterung, Frust
Darin warnt er sehr eindrücklich vor einer Pleitewelle, die dieses Jahr mit kleinen und mittleren Betrieben auf das Land zurollt. Und er warnt vor dem Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Betrieben, deren Gründer mit Unternehmergeist Arbeitsplätze erst geschaffen haben.
Am Schluss des Briefes zitiert er Rechtsanwalt Gaston Vogel, der letztes Jahr einen offenen Brief an Premier Xavier Bettel geschickt hat, mit dem Satz: „Hören Sie dieses dumpfe Geräusch, es ist die Wut des Landes, die rumort.“ Mitten im zweiten Lockdown und einer eventuell bevorstehenden dritten Welle ist es kein dumpfes Geräusch mehr.
Seit Wochen machen die Betroffenen ihrem Frust auf der Straße Luft. Das nächste „Piquet“ ist für diesen Samstag um 15.30 Uhr auf der place Guillaume geplant. Dann machen die Selbstständigen ihrer Angst und Verbitterung Luft angesichts des immer wieder betonten politischen Willens, die Wirtschaft des Landes zu diversifizieren. Diversität heißt Vielfalt.
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Einige der Hauptmerkmale des Kapitalismus sind man schnell reich werden , gerade so schnell pleite gehen kann . In kommunistischen, sozialistischen Systemen wird man weder reich, noch geht man pleite. Beide haben etwas gemeinsam, gejammert wird immer auf hohem Niveau .
Unternehmerisches Risiko scheint ein Fremdwort hierzulande zu sein.
… sagt vermutlich jemand, der in einem sicheren Angestelltenverhältnis arbeitet 🙄 ein Jahr Pandemie, eine Regierung, die keinen strukturierten Plan hat – wie soll man sich dagegen absichern?! Ich finde eher, dass es von gutem Haushalten zeugt, dass bislang so viele Einzelselbständige und kleine Betriebe durchgehalten haben.
„Porte-à-porte“-Verkauf hat sie sich erkundigt. „Das kostet 10.000 bis 15.000 Euro“, sagt sie. „Abgesehen davon, dass wir das Geld nicht haben, dauert die Genehmigung der Gemeinden für einen solchen Verkauf ein Jahr.“
@tageblatt
Waat soll daat fier eng Genemegung sinn? Kann et sinn dass do Gemengen hier Kompetenzen wäit iwwerspannen?
@martin w-d
‚„Porte-à-porte“-Verkauf hat sie sich erkundigt. „Das kostet 10.000 bis 15.000 Euro“, sagt sie.‘
Das nennt man Hausieren gehen, das Geld sind wahrscheinlich die Strafen wenn man die Schilder ‚pas de colportage‘ übersieht.