Pandemie / Senioren finden ganz eigene Wege, mit der Krise umzugehen
Wie erleben Senioren die Krise? Und das, was um sie herum vorgeht? Sie erleben es anders als angenommen. Das gilt für Cleophine di Ronco (92) und Emile „de Mulles“ Calmes (87), wie ein Besuch im „Home pour personnes âgées“ (HPPA) in Grevenmacher zeigt.
Auf Corona angesprochen, sagt Cleophine di Ronco (92), dass sie Angst vor dem Virus hat. Aber er ist nun mal da. „Da muss man sich fügen“, ist ihre Haltung. Sofort danach kommt die fast schon stolze Aussage, dass sie alle zwei Impfungen hat. Di Ronco ist mit fünf Brüdern aufgewachsen und ein absoluter Familienmensch.
Sie bekommt regelmäßig Besuch. Neun Enkelkinder und drei eigene Kinder, die Familie ist groß und „gut“, ihr ganzer Stolz und ihr Halt. Wenn gar nichts mehr geht, hat sie ihre Western, die sie leidenschaftlich gerne liest oder schaut. Terence Hill und Bud Spencer? „Ja klar, die spielen doch toll“, sagt sie. Oder sie geht spazieren. Das habe geholfen, sagt die rüstige, viel jünger wirkende Heimbewohnerin.
In ihrer langen Biografie klingt Corona nach einer Episode. In ihren Augen waren andere Sachen viel einschneidender. So wie der Krieg. Sie ist 12 Jahre alt, als es losgeht. Oder die Rückkehr aus der Evakuierung in Beckerich zu ihrem Elternhaus in Ettelbrück, das nicht mehr existiert.
Restaurantbesuche mit der Familie fehlen
Dann die Heirat mit einem italienischen Steinmetz, die Geburt ihrer drei Kinder, ihre eigene Kindheit. „Unsere Eltern haben uns beigebracht, immer fein mit unseren Kunden zu sein“, sagt die Metzgerstochter, die schon von klein auf im Laden mithilft. Später führt sie einen großen Haushalt, hilft ihrem Mann, arbeitet viel und bleibt dabei immer gut gelaunt.
„Ich bin mit allem, was kommt, zufrieden“, sagt sie. Und das HPPA? „Top“, sagt sie. „Das ist hier wie in einem gehobenen Hotel.“ Fünf Jahre wohnt sie schon dort und noch immer gerät sie ins Schwärmen. Erzählt von Filmvorführungen, Konzerten, dem guten Essen, dem schönen Zimmer und dass sie alles hat, was sie braucht. Das Einzige, was sie wirklich vermisst, sind die Restaurantbesuche mit ihrer Familie. „Das war immer so schön“, sagt sie.
Emile Calmes, den alle „de Mulles“ nennen, wohnt erst seit zwei Jahren im HPPA. Das Heim ist seine freie Entscheidung, genau wie für Di Ronco. Nach einem Sturz in seinem großen Haus mit einem ebenso großen Garten trennt er sich von beidem und meldet sich selbst an.
Corona ist in der langen Biografie Nebensache
Das war ein Einschnitt in seinem bewegten Leben. Von Beruf Schreiner, später Weichensteller bei der CFL, Schiedsrichter bei 1.000 Spielen, Gründer der Amiperas in Biwer, wo das CSV-Mitglied zwölf Jahre Bürgermeister ist, Lokalkorrespondent beim Wort und dann 12 Operationen: Sein Leben ist so prall gefüllt wie die drei schwarzen Kladden, die er als Gedächtnisstütze mitbringt.
Dazwischen wirkt Corona ungefähr so wie: Ach ja, gibt es auch noch. Die Maske ist lästig, acht Tests hat er schon gemacht. Einer war positiv. Aber da ist er schon wieder bei seiner letzten Operation, dem harten Bauch, der ihn quält, dem Stück Dünndarm, das entfernt wird. Dabei hat er einen schweren Corona-Verlauf.
Er muss ins Krankenhaus, die Chancen stehen 50:50. „Jetzt bin ich wieder besser drauf“, sagt er. „Da habe ich gleich für das Interview zugesagt.“ Zumal er auf das Haus nichts kommen lässt. „Toller Direktor, tolles Personal, als ich hier ankam, war ich ehrlich erstaunt“, sagt er. Das Heim wird während seiner Amtszeit als Bürgermeister gebaut.
Am 23. Oktober 2020 beginnt eine „Apokalypse“
Er sichert der Gemeinde Biwer Belegbetten. Eines davon ist nun für ihn. Grevenmacher mit seinen Geschäften ist die richtige Wahl. Beim „Chocolatier“ kehrt er oft ein. Er outet sich als „Süßschnüss“ und hat selbstverständlich zwei Schokoriegel mitgebracht.
Was sich bei den beiden Senioren angesichts ihres langen Lebens relativ gelassen anhört, hat HPPA-Chef Dirk Willems (50) ganz anders erlebt. Der erste Lockdown, Besuchsverbot, Vorschriften und der Anspruch, eine gewisse Normalität für die Bewohner zu garantieren, strengen an. Sie verändern den Berufsalltag des gelernten Ergotherapeuten gewaltig. Nicht nur seinen. „Wir haben ein Jahr voller Druck hinter uns“, sagt Priscilla Fosso (31), die als Erzieherin Demenzkranke im Heim betreut. „Aus Angst, jemanden anzustecken, schränken wir uns alle privat extrem ein.“
Sie spricht von großer Müdigkeit. Für Heimchef Willems hingegen beginnt eine „Apokalypse“, wie er es nennt, als am 23. Oktober 2020 das Virus im Heim ausbricht. Die Nachricht eines Mitarbeiters, dass er positiv getestet ist, erreicht ihn an einem Freitagabend zu Hause. Alarmiert fährt er in sein Büro und leitet über das Wochenende Tests für alle Mitarbeiter und Bewohner ein.
Gepackte Koffer und Telefonnotdienst
Montags darauf steht fest, das Heim ist ein „Cluster“. Es wird abgeriegelt. Die Bewohner dürfen ihre Zimmer für zehn Tage nicht mehr verlassen. Mehr als die Hälfte ist infiziert und ein Drittel des Personals. Willems hat die Verantwortung für 110 Mitarbeiter und 115 Bewohner. Den Betrieb zu garantieren, wird plötzlich zur täglich neuen Koordinationsaufgabe in einem ansonsten eingespielten Team.
Andere Häuser der Gruppe entsenden Personal, er muss einteilen und einweisen. Trotzdem sterben 14 Bewohner des Heims. „Da sitzt man vor seinem Computer und fragt sich, was kann man jetzt noch tun“, sagt er. Die Mitarbeiter tun ihr Möglichstes. „Wir alle haben Koffer für zwei Wochen gepackt und hier im Haus deponiert, um im Notfall bei unseren Bewohnern bleiben zu können“, sagt Erzieherin Fosso.
Für die, die unter der Quarantäne extrem leiden, richten die Mitarbeiter einen Telefondienst ein. „So hatten sie jemanden zum ‚Schnëssen’“, sagt sie – und erkrankt schließlich selbst. Wieder zurück im Dienst, bestätigt sie eine Beobachtung ihres Chefs. „Im letzten Jahr ist das Gemeinschaftsgefühl unter den Bewohnern sehr gewachsen“, stellen beide fest.
Die Familie ersetzt das nicht, aber es hilft. Letztendlich bestätigt dies Aussagen von Altenforschern: Ältere Menschen sind krisenerprobter als oft angenommen. Sie haben eine lange Lebenserfahrung, die sie gelehrt hat, aus allem das Beste zu machen. Vor allem dann, wenn es richtig schwierig wird.
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Ein andere Ansicht älterer Menschen: Am Ende eines langen Lebens und den Beschwerden, welche das Alter ohnehin mit sich bringt, hätte man auf den zusätzlichen Corona-Stress gerne verzichtet.
Uns hat man den Unruhestand komplett verdorben. Wir fühlen uns wie Zugvögel welche man eingesperrt hat, und zusätzlich noch die Flügel gestutzt hat. Fehlt nur noch, dass man uns ein Bein amputiert.