Psychologin Martine Hoffmann / „Senioren werden in eine passive Opferrolle gedrängt“
Die Corona-Krise hat niemand kommen sehen. Alle waren unvorbereitet, es gab keine Erfahrungen. Psychologisch gesehen gehört sie in die Kategorie „unerwartetes kritisches Lebensereignis“. Das ist das Forschungsgebiet von Martine Hoffmann (43) am „Center fir Alterfroen” in Itzig. Ein Gespräch über Kollateralschäden und „Honeymoon”.
Tageblatt: Haben Sie gerade mehr zu tun als sonst? Sie sind Psychologin und werden verstärkt gebraucht. Stichwort: einsame Senioren …
Martine Hoffmann: Ich sehe derzeit keine KlientInnen. Deshalb hat sich meine Arbeit in andere Bereiche verlagert. Das „Center fir Altersfroen“ hat gerade zusammen mit der Universität Luxemburg ein Forschungsprojekt beantragt, das sich mit der Frage beschäftigt: Was brauchen Senioren, um Krisen wie diese mit Kontaktsperren gut zu bewältigen? Mich stört generell die Darstellung von Senioren als „vulnerable“ Gruppe. Das ist mir zu undifferenziert.
Inwiefern?
Ich finde das stigmatisierend. Alter per se ist kein Risikofaktor. Als „vulnerable“ Gruppe werden Senioren in eine passive Opferrolle gedrängt. Sie müssen geschützt werden, können selbst nichts tun. Damit verzerren wir den Blick auf diese Gruppe, die sehr krisenerfahren ist und viele Ressourcen hat. Da werden Ängste geschürt.
Bei den Senioren oder bei den Angehörigen?
Generell. Das gilt insbesondere für Menschen, die von ihrem Naturell her eher ängstlich oder sensibler sind – egal wie alt.
Die Zahlen sprechen doch aber für sich. Die gängige These ist, ab einem bestimmten Alter sind sie gefährdeter als andere, warum auch immer …
Das „Warum auch immer“ ist genau das Problem. Im höheren Alter kommen häufiger Vorerkrankungen vor, die den Körper schwächen. Das stimmt. Aber „vulnerabel“ kann genauso jemand sein, der Mitte 30 ist, eine Vorerkrankung hat und dessen Immunsystem schwächer ist als bei anderen Gleichaltrigen. Die einseitige Sicht auf das reine Lebensalter schafft ein falsches Problembewusstsein. Und stigmatisiert.
Viele Angehörige hadern damit, dass sie ihre älteren Familienmitglieder in Heimen nicht sehen dürfen. Und umgekehrt.
Ich verstehe einerseits die Sicherheitsmaßnahmen und die Überlegungen, die dahinter stehen. Andererseits verursacht das Kollateralschäden.
Welche?
Ich denke an Menschen im Altersheim und vor allem auf Palliativstationen oder in Hospizen. Sie sind allein und isoliert. Was sie sich aber am meisten wünschen, wäre menschlicher Kontakt und ihre Angehörigen zu sehen oder zu spüren.
Das geht aber gerade nicht …
Genau. Für Angehörige, die sich nicht verabschieden können, hat das weitreichende Konsequenzen für den danach folgenden Trauerprozess. Das wurde nicht mitbedacht oder vielleicht auch unterschätzt. Berührung zählt zu den wichtigsten Bedürfnissen von Schwerkranken und Sterbenden.
Das gilt auch für ältere Menschen …
Das gilt für uns alle. Wir Menschen brauchen das Gefühl, „in touch“ zu sein mit anderen.
Viele ältere Menschen brechen aus. Sie bekommen alles geliefert, brauchen nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Manche halten das nicht lange durch und gehen trotzdem raus. Angehörigen macht das Angst. Wie sollen sie damit umgehen?
Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstbestimmung. Wenn ich 65 oder 70 Jahre alt bin und kerngesund, warum soll ich da unter Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen nicht einkaufen gehen? Die Frage ist die nach dem Schaden, wenn ich Menschen einsperre. „Gut gemeint“ ist oft nicht „gut“. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ist das, was Priorität haben sollte.
Was lernen wir als Gesellschaft aus Corona?
Ich kann nur sagen, was ich mir erhoffe. Was ich spüre, ist der Wunsch vieler nach der alten Normalität. Die Normalität, wie sie mal war, gibt es aber so nicht mehr. Es gibt in dem Sinn kein Zurück mehr. Das ist die wichtigste Lektion. Was wir noch lernen sollten, ist, nach vorne zu leben. Wir müssen Strategien entwickeln, für das, was jetzt kommt. Und nicht wieder blindlings so weitermachen wie bisher.
Was heißt das?
Vorher war es vielen zu hektisch. Höher, schneller, weiter. Die Krise hat eine Entschleunigung gebracht, auch wenn sie nicht dem entspricht, was wir uns unter entschleunigtem Leben vorstellen. Die Frage ist: Was wollen wir? Wie müssen wir unsere Zukunft gestalten? Jetzt gibt es die Chance, neue Wege einzuschlagen, wenn man sich entrümpelt.
Haben unsere Gesellschaften ein Problem mit Endlichkeit, Sterben und Tod?
Ganz sicher. Das, was wir gerade erleben, bietet vielleicht die Chance, andere Prioritäten zu setzen und das Leben anders zu gestalten. Es ist die Chance, Dinge wegzulassen, die einen belasten, und zu überlegen, was einem guttut.
Kommen wir zu einem vorhersehbaren „kritischen Lebensereignis“, die Rente. Warum ist da „kritisch“?
Es ist ein Ausstieg aus einer organisierten und strukturierten Normalität und ein Neuanfang. Es ist mehr Zeit da, als während der Berufstätigkeit, was man sich immer gewünscht hat. Manche überfordert das allerdings, weil sie nicht wissen, wie sie sie ausfüllen sollen. Der Übergang ist der kritische Moment.
Dann ist der in der Werbung gezeigte braun gebrannte „Silver Ager“ eine Illusion?
Es ist eine Mogelpackung. Es sieht sehr verlockend aus und viele erleben in der Tat eine „Honeymoon-Phase“ nach dem Ende des Berufslebens. Das gibt es, aber es ist nicht die Regel und nicht von Dauer. Die Rentenphase dauert 20 bis 30 Jahre und da verändert sich einiges.
Dem widerspricht die Anti-Aging-Industrie. Außer ein paar Falten ändert sich fast nichts …
Das ist ein Ideal, das sehr lebensfremd ist. Es birgt das Risiko des Scheiterns. Wenn ich dann doch sichtbar altere oder sogar krank werde, bin ich gescheitert, wenn ich mich an diesem Ideal messe.
Sind die Corona-Krise und das Home-Office nicht schon ein Vorgeschmack auf die Rente für ältere
Arbeitnehmer?
Ein bittersüßer, würde ich sagen. Für die, die es schaffen, diese Krise für sich positiv zu bewältigen, ist das sicherlich ein Gewinn. Wer diese Hürde nimmt, für den ist alles, was danach kommt, vergleichsweise einfacher.
Wie kann man dem Kater nach dem „Honeymoon” vorbeugen?
Indem man sich auf den Renteneintritt vorbereitet. Soziale Kontakte außerhalb des Büros sind sehr wichtig. Ein Hobby pflegen, das als Rentner Befriedigung bringt, eine Aufgabe suchen wie ein Ehrenamt oder ein Projekt starten, für das vorher keine Zeit da war.
Sie sind 43 Jahre alt. Wissen Sie schon, was Sie als Rentnerin machen wollen?
Ich werde Bücher schreiben.
Bevölkerung und Senioren
2020 leben in Luxemburg 22.060 Menschen im Alter zwischen 70 und 74 Jahren. 16.292 Menschen sind zwischen 75 und 79 Jahre alt, 12.668 zwischen 80 und 84, 8.006 zwischen 85 und 89 Jahre und 4.251 sind 90 Jahre und älter. Das sind 63.277 Einwohner des Landes, Luxemburger und Nicht-Luxemburger, die älter als 70 Jahre sind. Bei 626.108 Einwohnern insgesamt entspricht der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe 10,1 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Die absoluten Zahlen stammen von Statec.
Zur Person: Martine Hoffmann
Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Martine Hoffmann (43) ist Psychologin und Psychotherapeutin. Die Luxemburgerin leitet die Abteilung für angewandte Forschung („Cellule de recherche“) am „Center fir Altersfroen“ in Itzig. Sie hat an der Universität Luxemburg studiert und ihre Doktorarbeit über „Mortalitätssalienz und Angstbewältigung bei Krebspatienten“ geschrieben. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Bewältigung kritischer Lebensereignisse.
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Richtig. Weil wir Alten automatisch die höchste Sterblichkeitsrate haben(wer hätte das gedacht?) gehören wir automatisch zur Risikogruppe und weil man es gut mit uns meint,werden wir von der Außenwelt isoliert und zwar alle. Ob nun ein sportlicher,gesunder 70-er oder ein angeschlagener 80-er der Kettenraucher war,beide kommen in den Korb der faulen Äpfel. Psyche hin oder her.
Nicht alleine das Corona Virus gängelt die älteren Generationen , nein noch schwerer wiegt so mancher Zeitgenosse im Zuge dieser Pandemie die älteren Generationen an den Pranger stellt, versucht zu bevormunden , zu entmündigen. Welche Aufruhr man nicht nach Trier zum Shoppen kann, die in den Alten-,Pflegeheimen ,sogar die auf dem Sterbebett behandelt man wie Aussätzige , eingesperrt wie Sträflinge, behandelt wie Kleinkinder ,diese Gesellschaft straft sie ab. Die älteren Generationen mögen anfälliger sein für Covid, doch sind all die ergriffenen Maßnahmen unter falscher Rücksicht nicht human. Ich formuliere es übertrieben, jüngere Generationen sperrt man auch nicht ein , könnten sie durch das Rasen, Alkokohol, Drogen übermässiges Essen, wenig Sport,…. krank werden oder sterben .
Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.
Dieses Eingesperrtsein in einem Zimmer während 3 Wochen
ohne krank zu sein ist reinste Tortur.
Komisch, jetzt fällt das einigen Leuten auf, dass das unmenschliche Umstände sind, eingesperrt wie Sträflinge !!! Eigentlich ist das der normale Zustand in Pflegeheimen auch ohne Virus sind die Menschen eingesperrt es kümmerte bis jetzt niemanden. Wenn man der Wirtschaft nichts mehr bringt, zählen keine Menschenrechte mehr.
Vielen Dank für diesen Beitrag. Sie bringen es auf den Punkt!
Es wäre besser gewesen, die Menschen zu schützen die wirklich Vorerkrankungen haben und damit besonders gefährdet sind unabhängig davon wie alt sie sind, als die komplette Gesellschaft mit Verboten, Kontaktsperren und Masken zu überziehen.
Ich hab noch nie was von einer aktiven Opferrolle gehört.