Justiz im Wandel der Zeit / Sexualstraftaten werden niemals vergessen
Rechtssprechung ist kein statisches Gebilde, auch wenn sie manchmal diesen Eindruck macht. Gesetze und Gerichtsprozeduren gehen Hand in Hand mit der Entwicklung der Gesellschaft. Deshalb werden sie angepasst. Mit der Vorsitzenden der Luxemburger Anwaltskammer, Me Valérie Dupong, und dem Strafverteidiger Me Max Lehnen haben wir uns über die angekündigte Verjährungsfrist im Sexualstrafrecht sowie über die im Dezember beschlossene neue Prozessordnung unterhalten. Im Gespräch ging es auch um die Frage nach einer vollumfänglichen Mitschrift dessen, was vor Gericht vorgetragen wird.
Tageblatt: Im Dezember ist im Parlament das Gesetzesprojekt 7785 verabschiedet worden. Eine Neuerung, die dabei hervorsticht, betrifft die Strafprozessordnung. Es ist entschieden worden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Anklagerede im Prinzip vor dem Plädoyer der Verteidigung vorträgt, und nicht wie bisher danach, also quasi am Schluss des Prozesses. Damit ist einer seit langem gestellten Forderung der Rechtsanwälte Rechnung getragen worden. Warum ist das jetzt besser?
Me Max Lehnen: Wenn jemand vor Gericht steht, ist es der Verteidigung von Anfang an wichtig, zu wissen, weshalb die Person angeklagt ist, was ihr genau vorgeworfen wird. Das war in manchen Prozessen nicht immer ganz klar, zum Beispiel beim CSV-Freundeskreis-Prozess Ende vergangenen Jahres. Da wussten wir eben nicht genau, wie die Staatsanwaltschaft ihre Anklage aufgebaut hat. Wir wussten also auch nicht, wie wir die Verteidigung vorbereiten und worauf wir achten müssen. Zwar gibt der Präsident des Gerichts zu Beginn der Verhandlung einige Erklärungen. Trotzdem finden wir es besser, unsere Plädoyers jetzt nach dem Staatsanwalt halten zu dürfen.
Was ist der Vorteil dabei?
ML: Der Vorteil ist unter Umständen, dass der Strafverteidiger nicht einfach eine halbe Stunde lang ins Blaue hinein reden muss, um nachher von der Staatsanwaltschaft etwas anderes zu hören. Wenn wir die Entwicklung der Fälle vor Gericht betrachten, ist die Staatsanwaltschaft meistens ja der Antragsteller. Deshalb soll sie auch den Rahmen setzen. Sie soll sagen, was sie sich vorstellt und was sie gerne erreichen möchte. Der Anwalt schießt den Ball gerne zurück, aber es ist die Staatsanwaltschaft, die Aufschlag hat.
Me Valérie Dupong: Es kann ja durchaus sein, dass sich die Elemente, welche die Staatsanwaltschaft vorbringt, ändern, durch die Ermittlungen. Die Verteidigung kann sich allerdings nur auf die initialen Fakten berufen. Es konnte also vorkommen, dass die Staatsanwaltschaft nach dem Plädoyer sagte, tja, da war noch was. Dann nimmt die Sache einen anderen Verlauf. Wenn die Staatsanwaltschaft jetzt mit etwas kommt, vorauf die Verteidigung nicht vorbereitet ist, kann diese sagen: Halt, gebt uns Zeit, damit wir das analysieren und in unsere Verteidigung einbringen können.
Klingt alles einleuchtend. Warum war es eigentlich je anders?
VD: Es ist immer gesagt worden, dass der Staatsanwalt, nachdem er den Verteidiger und sein Plädoyer gehört hatte, die Chance haben müsse, seine Meinung, die er zu Beginn des Prozesses hatte, noch zu ändern, anzupassen. Vielleicht ja auch im Sinne des Beschuldigten.
Ist die neue Rede-Ordnung jetzt ein Nachteil?
VD: Bedingt. Es ist ja durchaus immer noch möglich, dass der Staatsanwalt nach dem Plädoyer des Verteidigers nochmals das Wort ergreifen darf. Früher konnte ja auch die Verteidigung noch etwas hinzufügen, bevor der Angeklagte selbst das letzte Wort im Prozess hat.
Halten wir fest, dass die jetzt beschlossene Reihenfolge im Interesse des Mandanten ist.
ML: Absolut, wenn man den genauen Rahmen der Anklage kennt, kann man sein Plädoyer zielorientierter gestalten, statt 100 Hypothesen in Betracht ziehen zu müssen.
Die Staatsanwaltschaft sei aber nicht so begeistert von dieser Änderung, hört man. Warum?
ML: Ich habe da keine Vorbehalte bemerkt. Außerdem ist es ja immer noch so, dass es im Handlungsspielraum des Richters liegt, je nach Sachlage auch in Zukunft in einem Prozess von der jetzigen Norm abzuweichen.
Ein anderes Thema dann. Etwas, was sich in Zukunft ändern soll. Nämlich die Anpassung der Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von Jugendlichen und Kindern. Warum soll das geschehen? Hat das etwas mit Spuren zu tun, die man dank der Entwicklung der Technik besser auswerten kann?
ML: Ja, auch.
VD: In der Hauptursache geht es um die Opfer und um das, was sie erleiden mussten. Ich habe bereits viele von ihnen in solchen Prozessen verteidigt und weiß aus Erfahrung, dass das Erlebte schwer zu thematisieren ist. Bei Kindern hat die Verjährungsfrist bei 18 Jahren begonnen und dann konnten sie bis 28 Jahren eine Straftat, wie zum Beispiel eine Vergewaltigung, anzeigen. Jetzt ist vorgesehen, dass diese Frist quasi unbegrenzt verlängert wird.
Sie sprachen von Ihren Erfahrungen?
VD: Wir haben oft gemerkt, dass zehn Jahre nicht ausreichen. Wir reden jetzt nicht von den technischen Schwierigkeiten bei der Beweisführung bei einem solchen Prozess. Wir reden von betroffenen Kindern und Jugendlichen, die ihr Erlebnis verdrängen. Das Geschehene kommt oft erst wieder an die Oberfläche, wenn sie älter werden, wenn sie heiraten, Kinder bekommen. Es gibt Opfer, die sich anfangs nicht erinnern können und oft auch nicht genau wissen, warum es ihnen schlecht geht. Irgendwann, auch dank Therapien, kommen die Sachen wieder hoch. Durch die alten Verjährungsfristen konnte es bisher dann aber bereits zu spät gewesen sein. Man kann also, sagen, dass es darum geht, den Opfern sexuellen Missbrauchs zu jedem Moment ihres Lebens die Möglichkeit zu geben, Anzeige zu erstatten, um vor Gericht erzählen zu können, was ihnen passiert ist. Diese Änderung der Fristen hat auch eine Art symbolischen Charakter, nämlich dass die Gesellschaft erkennt, dass solche Verbrechen so schlimm sind, dass sie nicht verjähren.
Ein psychologisches Element demnach. Besteht nicht die Möglichkeit, dass es in Zukunft zu einer Häufung solcher Prozesse kommt?
VD: Das ist nicht ausgeschlossen. Man sieht das zum Beispiel in Frankreich, wo viele Fälle erst spät aufgearbeitet werden. Lange Zeit fällt es den Opfern von sexuellem Missbrauch einfach schwer, Klage zu führen. Es kostet Überwindung
Da sollte Zeit keine Rolle spielen. Es wird also auch dem Gerechtigkeitsempfinden gerechter werden, wenn Taten nicht mehr verjähren können.
ML: Ja, denn es ist natürlich extrem frustrierend für Betroffene, wenn sie nichts mehr unternehmen können, weil die Verjährungsfrist abgelaufen ist.
VD: Im Gesetzesprojekt sind jetzt zudem auch verschiedene Strafbestände wie Inzest anders definiert. Wir werden als Anwaltskammer übrigens auch noch ein ausführliches Gutachten zu diesem Gesetzesprojekt veröffentlichen.
Gut, ein anderes Thema noch. Es gibt Anwälte, die einen besseren Blickkontakt mit Zeugen fordern. Warum?
ML: Ja, denn Mimik gehört ja zur Einschätzung einer Zeugenaussage mit dazu. Also wie der Zeuge reagiert, wenn man ihm eine Frage stellt. Direkter Blickkontakt wäre da schon gut.
VD: Ich habe eine etwas andere Meinung. Es geht ja nicht nur um den Blickkontakt zwischen Anwalt und Zeugen, sondern auch mit dem Angeklagten. Je nach Lage könnte sich das einschüchternd auf den Zeugen auswirken. Man kann sich ja vorstellen, dass Zeugen Angst haben.
Warum gibt es eigentlich keine genaue Mitschrift oder eine Tonaufnahme von einer Gerichtssitzung?
ML: Gute Frage. Was wir haben, ist das sogenannte Plumitif, dessen Umfang aber oft davon abhängt, was der Gerichtsschreiber notiert. Es gibt aber oft auch komplizierte Prozesse, bei denen man sich wünschen würde, man könnte nachlesen, was gesagt wurde.
VD: Ich erinnere mich an einen Arztprozess, bei dem es sehr technische Aussagen der Experten gab, da hätte man den einen oder anderen Punkt schon gerne nachlesen wollen.
Aber warum gibt es denn kein richtiges Verbatim?
ML: Ich erinnere mich, dass der damalige Justizminister Felix Braz nach Portugal gegangen ist, denn dort wird einfach alles aufgezeichnet, was vor Gericht gesprochen wird.
VD: Wir bemühen uns, wie wir können. Oft kommen dann jüngere Anwälte mit, die mitschreiben. Wenn das nicht geschieht und etwas nicht vom Gerichtsschreiber festgehalten wird, dann ist es fast, als sei es nie gesagt worden. Ein Verbatim würde auf jeden Fall vielen helfen, die mit den Gerichten zu tun haben – wenn sie zum Beispiel etwas recherchieren müssten oder möchten.
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