/ Shakespeare gegen Molière: Wenig politischer Aktivismus beim Paléo-Festival
Trotz schwieriger Bedingungen für die Veranstalter und die Besucher zeigte sich Paléo-Chef Daniel Rossellat bei der abschließenden Pressekonferenz mehr als zufrieden mit dem Verlauf des Sechs-Tage-Festivals am Genfer See. Extreme Wetterbedingungen, die Absage mehrerer Künstler und ein erstmals seit 20 Jahren etwas schleppender Vorverkauf hatten die Veranstalter und ihre Mitarbeiter auf die Probe gestellt.
Von Gil Max
Da hatte man bei der Bekanntgabe des Line-ups Ende März schon mal kräftig geschluckt: Während die anderen europäischen Veranstalter unsere Lieblinge The National, Thom Yorke, Michael Kiwanuka, Bloc Party, The Foals, Mumford & Sons, Elbow, Suede, die Prophets of Rage und andere programmiert hatten, mussten wir mit Patrick Bruel, M, Angèle, Lomepal, Soprano, Hoshi oder Coeur de Pirate Vorlieb nehmen.
So viele frankophone Acts hatte es seit den Anfangsjahren des Festivals nicht mehr gegeben, zumal die Gäste im „Village du Monde“, eine Art „Festival im Festival“, das jedes Jahr die musikalische Vielfalt und kulinarische Spezialitäten einer bestimmten Weltregion präsentiert – in diesem Fall die kanadische Provinz Québec – auch noch in der Sprache Molières unterwegs waren – wenn auch in ihrem typischen Regiolekt, dem kanadischen Französisch, voller herrlicher Archaismen.
In Zeiten, in denen unser Planet vor die Hunde zu gehen droht, fanden sich im Paléo-Programm außerdem erstaunlich wenige Künstler wieder, zu deren Arbeit auch politischer Aktivismus gehört. Stattdessen zogen auf der „Grande Scène“ u.a. ein kindisches Spektakel von Angèle, ein um 20 Minuten verkürztes substanzloses Set der amerikanischen Diva Lana del Rey und eine Egomanen-Show des Narzissten M die Massen an. Da muss man dem größten Teil der vielen Rapper, die programmiert waren, zugute halten, eine klare Botschaft zu haben und diese auch vor zehn- oder gar zwanzigtausend Menschen souverän rüberzubringen: Zu ihnen gehörten der Belgo-Kongolese Damso, die Pariser Rapper Lomepal und Youssoupha, Soprano aus der Hochburg des Hiphops Marseille, die R’N’B‘-Revelation Dadju sowie die amerikanischen Senkrechtstarter von Twenty One Pilots, die zu zweit eine sowohl musikalisch wie visuell beeindruckende Show auf die Beine stellten.
Für Besucher, die weder mit dem Elektro-Pop und „Gejammer“ zahlreicher französischer Künstlerinnen noch mit Hip-Hop viel anzufangen wussten, wurde es diesmal eng, im Programm auf Sehenswertes zu stoßen. Und dennoch wäre Paléo nicht Paléo, würde nicht jeder einzelne Besucher hier, auch unter diesen Umständen, noch packende Augenblicke erleben, die lange nachhallen werden. Zu unseren persönlichen „Coups de coeur“ zählen The Cure, die ein grandioses zweistündiges Set ablieferten, in dessen Mittelpunkt ihr exakt 30 Jahre altes Magnum Opus „Disintegration“ stand.
Der 60-jährige Robert Smith, Sänger und Kopf der Band – gleichzeitig auch Stilikone der ganzen Subkultur, die man in den 80er Jahren als „Gothic“ bezeichnete – trat unter den wuchtigen Klängen von „Plainsong“ vor seine Fans, die ihn erst mal frenetisch abfeierten. Der Engländer aus Blackpool sieht mit seinen wie von Raben zurechtgezupften Haaren und seinem verschmierten Lippenstift mittlerweile ein bisschen aus wie Liz Taylor im hohen Alter, doch er singt und spielt Gitarre wie sein 25-jähriges Alter Ego und seine Songs über Entfremdung, Leere, Verfall von Gefühlen und Paranoia funktionieren immer noch: Eine Doppelstunde wundervoller, gespenstischer Melancholie!
Die besten Stimmen
Dann gab es die überzeugenden Sets der wohl besten Sänger dieser Ausgabe: Tamino, Jacob Banks und Curtis Harding. Der junge Belgier mit ägyptischen Wurzeln brachte die Songs seines beachtlichen Debütalbums „Amir“, das phasenweise an Jeff Buckley erinnert, dank seiner mehrere Oktaven umfassenden Stimme noch eine Spur intensiver auf die Bühne.
Der englische Soulsänger Jacob Banks beeindruckte seinerseits durch die schiere Wucht seiner kräftigen Stimme bei den Rhythm & Blues- und Gospelnummern, viel Gefühl bei seinen Balladen und mit einem Finish, in das er Coldplays „Fix you“ raffiniert einbaute, während sein amerikanischer Kollege Harding zeigte, dass er nicht nur aussieht wie eine Mischung aus Curtis Mayfield und Lenny Kravitz, sondern auch so klingt: ehrliche Musik nach dem Motto „What you see is what you get“!
Der Spirit von Serge Gainsbourg
Für den rührendsten Auftritt zeichnete schließlich am letzten Festivaltag die 72-jährige Jane Birkin verantwortlich, die mit dem „Ensemble Symphonique Neuchâtel“ durch das Repertoire ihres ehemaligen Gatten und Mentors Serge Gainsbourg sang. Unter der Leitung des Orchesterchefs Alexander Mayer und des Pianisten Nabuyuki Nakajima, der Gainsbourgs Lieder in wunderbare Partituren für klassisches Orchester umgeschrieben hat, sorgte eine der großen Damen des französischen Chansons für einen magischen Moment, bei dem der Geist Gainbourgs für alle spürbar wurde und jede Menge Tränen flossen. Die Verantwortlichen des Paléo setzten noch einen drauf, indem sie auch Birkins Töchter Lou Doillon und Charlotte Gainsbourg programmiert hatten.
Einige Stunden später ging ein großes Familien-Festival – nicht nur für die Familie Birkin – zu Ende.
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Wenn Kultur jetzt nur noch dem „politischen Aktivismus“ dienen darf, würde ich zu konkreten Aktionen anstelle von Festivalbesuchen raten. Und mittlerweile erinnert die hier benutzte Rhetorik („in Zeiten, in denen unser Planet vor die Hunde zu gehen droht“) gar an religiös motivierte Untergangs-Prophezeiungen…