Wissenschaftler erklärt / So funktionieren Verschwörungstheorien und deswegen sind sie so anziehend
„Schwurbler“, Rechtsextreme, „Coronaleugner“: Kritiker der Corona-Maßnahmen werden zurzeit schnell als „Verschwörungstheoretiker“ abgetan. Michael Butter (44) ist Professor für amerikanische Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Er gilt als profilierter Forscher zu Verschwörungstheorien. Ein Gespräch über Definitionen, Überzeugungstäter und den aktuellen Diskurs.
Tageblatt: „Verschwörungstheoretiker“ ist aktuell ein beliebter Fingerzeig in Richtung Kritiker der Corona-Maßnahmen. Gibt es eine Definition, was eine Verschwörungstheorie ist und was nicht?
Michael Butter: Ja. Es gibt quer durch alle wissenschaftlichen Disziplinen einen Konsens darüber. Verschwörungstheorien gehen von drei Grundannahmen aus. Die erste: Es ist nichts so, wie es scheint. Die entscheidenden Dinge passieren im Verborgenen. Zweitens geschieht nichts durch Zufall, sondern es ist immer von den „Verschwörern“ hinter den Kulissen geplant. Hinter allem steckt eine Absicht. Und drittens: Alles ist miteinander verbunden. Verschwörungstheorien gehen davon aus, dass Personen, Institutionen und Ereignisse, von denen man das nie gedacht hätte, miteinander verbunden sind und das nur Sinn ergibt, wenn man von einem großen Komplott ausgeht.
Warum sind Verschwörungstheorien so anziehend?
Nun, teilweise haben sie großen Unterhaltungswert. Im Kino geben wir uns gerne für zwei Stunden der Illusion hin, dass die Illuminaten die Welt regieren. Im realen Leben glauben Menschen, dass Verschwörungstheorien die Welt erklären.
Gibt es so etwas wie ein Profil für Anhänger von Verschwörungstheorien?
Das sind Menschen, die schlecht mit Unsicherheit umgehen können, und zum anderen Menschen, die glauben, einen Macht- und Kontrollverlust erlitten zu haben. Anhänger von Verschwörungstheorien sehnen sich nach Eindeutigkeit. Das war zu Beginn der Corona-Krise nicht gegeben, weil es ständig neue wissenschaftliche Erkenntnisse gab und sich genauso ständig die politischen Maßnahmen geändert haben.
Sie funktionieren doch aber auch gut als Sündenbock …
Verschwörungstheorien haben sogar eine klassische Sündenbockfunktion. Indem man damit andere in eine Ecke stellt, entlastet man sich selbst und steigt in eine kleine Elite auf, die verstanden hat, um was es geht. Alle anderen haben nichts verstanden.
Was sind die Motive derer, die Verschwörungstheorien verbreiten?
Die meisten Menschen verbreiten Verschwörungstheorien, weil sie glauben, sie erweisen der Menschheit damit einen Dienst. Sie sind Überzeugungstäter und das unterscheidet sie von denen, die „Fake News“, also gezielte Desinformation, verbreiten. Die einen glauben das, was sie verbreiten, die anderen wissen, dass das nicht stimmt, und tun es trotzdem. Aber es gibt auch wirtschaftliche Motive. Man verkauft die Gegenmittel der Verschwörung und schlachtet das kommerziell für sich aus. Ich denke an Alex Jones (US-amerikanischer Radiomoderator, Unternehmer und Verschwörungstheoretiker, Anm. d. Red.). Und dann gibt es Menschen, die Verschwörungstheorien aus politischem Kalkül verbreiten.
Donald Trump …
Genau. Trump ist jemand, der das immer wieder gemacht hat, und ich glaube, er glaubt manche Theorien mittlerweile selbst. Viktor Orban ist ein anderes Beispiel.
In Ihren Vorträgen kann man den Eindruck gewinnen, Verschwörungstheorien sind seit Menschengedenken an der Tagesordnung. Stimmt das?
Nicht ganz. Verschwörungstheorien gibt es nicht in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Wir wissen nicht, ob es sie in asiatischen Kulturen gab, und zwar vor dem Kontakt mit westlichen Kulturen in Zeiten des Kolonialismus und Imperialismus. Was wir aber wissen, ist, dass Verschwörungstheorien in Europa in der Antike schon Vorläufer hatten. Ab 1500 n. Chr. gibt es sogar eine kontinuierliche Geschichte der Verschwörungstheorien. Sie sind bis in die 1950er Jahre normales Elitenwissen und werden von den klügsten Köpfen ihrer Zeit verbreitet.
Drei Beispiele dafür?
Winston Churchill unterstellt in den 20er Jahren den Juden, an allen Revolutionen seit dem 18. Jahrhundert schuld zu sein. George Washington glaubte, dass ein großes Komplott der britischen Krone im Gang sei, um die Freiheit auf der ganzen Welt abzuschaffen. Er glaubte, dass es an den amerikanischen Kolonialisten sei, diese Freiheit für die Welt zu bewahren. Wir wissen heute aus historischen Studien, dass diese Theorien entscheidend für den Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges waren. Knapp 100 Jahre später ist Abraham Lincoln überzeugt davon, dass es ein Komplott der Befürworter der Sklaverei gibt, um sie in den gesamten USA auszubreiten und eventuell sogar die weiße Arbeiterklasse zu versklaven. Diese „Slave Power“-Verschwörungstheorie war die Gründungsideologie der republikanischen Partei.
Wenn Verschwörungstheorien früher „salonfähig“ waren, warum hat sich das in den 50er Jahren geändert?
Da kommen die Sozialwissenschaften auf, die ab den 40er Jahren Verschwörungstheorien problematisieren. Ab dann wird die These vertreten, dass Verschwörungstheorien schlechte Erklärungen für die Welt und die Gesellschaft sind. Sie sind es deshalb, weil sie absichtsvolles Handeln überschätzen und nicht beabsichtige Effekte und strukturelle Eigenlogiken sozialer Systeme unterschätzen. Das drängt Verschwörungstheoretiker an den Rand der Gesellschaft.
Vor eineinhalb Jahren haben Sie in einem Interview gesagt, Sie glauben nicht, dass Verschwörungstheorien durch Corona einen unglaublichen Aufschwung erleben. Bleiben Sie dabei?
Wir wissen mittlerweile sogar, dass das so ist. Quantitative Studien zeigen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien im deutschsprachigen Raum auf keinen Fall zugenommen hat, sondern eher abgenommen. Das kommt uns nicht so vor, weil darüber ständig berichtet wird und die Menschen, die daran glauben, viel sichtbarer geworden sind.
Inwiefern?
Bei Corona muss man sich ständig positionieren und plötzlich sind Verschwörungstheorien am Familientisch. Verschwörungstheorien zum Impfen, 5G oder Bill Gates gab es schon vor Corona, aber man war meist persönlich nicht betroffen. Das ist jetzt anders. Das Gefühl, man ist jetzt selbst zum Ziel der Verschwörung geworden, emotionalisiert und mobilisiert.
Wird der Vorwurf „Verschwörungstheoretiker“ nicht gerade zum Einheitsbrei? Mittlerweile wird es ja sogar denjenigen nachgesagt, die befürchten, dass die Notlage Tür und Tor öffnet, um die Grundrechte dauerhaft einzuschränken. Wie ordnen Sie das ein?
Ich bin sehr unglücklich darüber, wie die öffentliche Diskussion läuft und wie das Stigma Verschwörungstheorie verwendet wird. Da wird vieles in einen Topf geworfen, was da nicht hingehört. Demnach sind Verschwörungstheorien grundsätzlich gefährlich, immer antisemitisch, immer potenziell rechtsextrem. Danach, wo sie anfangen und wo sie aufhören, wird nicht geschaut. Ich glaube, dass die Sorge darum, dass die jetzt sinnvollen Maßnahmen nach der Pandemie nicht wieder rückgängig gemacht werden, teilweise eine berechtigte ist. Man hat ja gesehen, wie Corona in Ungarn dazu benutzt wurde, Maßnahmen durchzusetzen, die damit erst einmal gar nichts zu tun hatten. Man sollte da aufpassen.
Wie gefährlich sind Verschwörungstheorien für die Gesellschaft?
Das muss man differenzieren. Es herrscht ja gerade fast eine Art Panik vor Verschwörungstheorien. Das fördert den Eindruck, alle Verschwörungstheorien seien gefährlich, und alle Menschen, die daran glauben, seien gefährlich. Das ist auf keinen Fall so. Aber Verschwörungstheorien können natürlich ein Katalysator sein für Radikalisierung. Ich denke an den Angriff auf die Synagoge in Halle (Oktober 2019), an Christchurch (März 2019) und Idar-Oberstein (September 2021). Aber nicht jeder, der auf die Demonstrationen geht, weil er sich in eine Ecke gedrängt und ausgeschlossen fühlt, wird zur Waffe greifen.
Was ist mit medizinisch und politisch inspirierten Verschwörungstheorien?
Medizinische Verschwörungstheorien sind gefährlich, weil man sich und andere gefährdet. Man hält sich nicht an die Maßnahmen und begreift das als eine Art zivilen Ungehorsam. Verschwörungstheorien können zur Gefahr für die Demokratie werden, weil sie das Vertrauen in die politischen Institutionen erschüttern. Dann haben oft populistische Politiker freie Bahn, weil sie vorgeben, sich für die wahren Interessen des Volkes einzusetzen. Bei der Erstürmung des Kapitols in Washington beispielsweise hat diese Logik funktioniert. Trotzdem ist die Zahl derer, die an Verschwörungstheorien glauben, in Westeuropa relativ gering und man sollte nicht in Panik verfallen, weil das gerade so stark thematisiert wird.
Verschwörungstheoretiker untermauern ihre Theorie gerade bei Corona mit Experten. Da entstehen Parallelwelten …
Ja klar. Man sucht sich Experten, die nicht so ganz d’accord sind mit der Mehrheitsmeinung, aber wissenschaftlich etabliert sind. Sucharit Bhakdi (bis 2012 Professor für Medizinische Mikrobiologie in Gießen, Mainz und Kiel, Anm. d. Red.) ist ein gutes Beispiel. Er war anfangs nicht so verschwörungstheoretisch unterwegs wie ab Mitte 2020. Ihm hat nur in der ersten Panik niemand von den etablierten Medien zugehört. Und dann hat er den Kardinalfehler begangen, dass er zu alternativen Medien gegangen ist. Und wenn man da ist und andere Aussagen relativiert, wird das automatisch in Verschwörungstheorien eingespeist. Dadurch war er verbrannt und hat sich immer mehr in diesen Ideen verrannt. Das ist eine Spirale.
Hat man in einer Diskussion mit einem Verschwörungstheoretiker als Andersdenkender eine Chance?
Man hat mit Fakten eine Chance bei Menschen, die noch nicht so richtig daran glauben. Aber bei den richtig Überzeugten ist es besser, Fragen zu stellen. Da ändert sich nur etwas, wenn Selbstreflexion in Gang kommt.
Zur Person
Prof. Dr. Michael Butter ist seit 2014 Professor für amerikanische Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen und Autor mehrerer Bücher zum Thema Verschwörungstheorien. Während seiner Doktorarbeit zur Darstellung Hitlers in der amerikanischen Literatur stößt er auf das Thema und habilitiert sich damit an der Universität Freiburg (D). Seine Forschungsinteressen sind die Kolonialzeit und die frühe Republik der USA, die Konstruktion von Helden und ihre kulturellen Funktionen, die Poetik zeitgenössischer Fernsehsendungen, Verschwörungstheorien und Populismus.
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Bei einer Pandemie einen Unterhaltungswert zu suchen ist aber höchst gefährlich. „Wir waren nicht auf dem Mond!“ “ Bill Gates lässt Chemtrails versprühen um die Menschen unfruchtbar zu machen!“ “ Die Bush-Regierung steckt hinter den WTC-Attentaten!“ usw. Darüber kann man herzlich lachen,wenn es dann zum Lachen wäre. Aber bei einer Pandemie sterben täglich Menschen weil sie von den Dummschwätzern in die Irre geführt werden.Das hat eine andere Dimension.
Sehr guter Artikel.
ich beschäftige mich kritisch mit Verschwörungtheorien bevor es das Internet gab.
Da waren all die sogenannten „Experten“ in Sachen UFO’s, Bilderberger, Illuminati, das Marsgesicht usw usw noch von Menschen abhängig, die deren Bücher kauften und deren Seminare besuchten.
Heute kann echt Jeder irgendeinen Quatsch ins Netz stellen und drauf hoffen, dass leichtgläubige Menschen auf den Schwachsinn reinfallen, ihnen per Paypal Geld „spenden“ und deren Bücher schreiben. Auf Telegram gibt es eine stattliche Anzahl von Leuten, die ihr Geld mit immer neuen und utopischen Artikeln und angeblichen Beweisen verdienen.
Das Ganze hat sich auf beängstliche Weise aufgebauscht, mit dem Ergebnis, dass Politiker, Virologen oder Reporter bedroht werden und der Respekt gegenüber dem Staat, der Ordnung und der Demokratie bei diesen Individuen sinkt.
Die EU sollte sich um diese Angelegenheit kümmern und zusammenarbeiten.