Gewalt an Frauen / Solidaritätsmarsch in Esch: Wenn fast jede eine Geschichte zu erzählen hat
Insgesamt 1.023 Mädchen oder Frauen wurden 2020 in Luxemburg mutmaßlich Opfer von häuslicher Gewalt. Hinzu kommen 104 bei der Polizei gemeldete Fälle von Vergewaltigung. Am Samstag treffen sich nun Frauen und Männer in Esch, um Solidarität mit den Opfern aller Formen von Gewalttätigkeit zu zeigen und die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Wie wichtig das ist, weiß die 24-jährige Lou Reckinger. Denn laut ihrer Erfahrung gehört sexualisierte Gewalt bei jungen Menschen im Großherzogtum zum Alltag.
Gezielte Manipulationen, Schläge, Berührungen ohne Einverständnis – das alles sind Ausdrücke von Gewalt. Denn Gewalttätigkeit kann viele Formen haben und kommt in allen Altersklassen und Gesellschaftsschichten vor. Um nun ein Zeichen gegen alle Arten zu setzen – unter anderem gegen psychische, physische oder sexualisierte Gewalt – organisieren der „Conseil national des femmes du Luxembourg“ (CNFL) sowie die Luxemburger Sektion von „Zonta International“ am Samstag einen Solidaritätsmarsch. Los geht es unter Einhaltung der sanitären Regeln um 11 Uhr bei der place de la Résistance in Esch. Damit fällt in Luxemburg dann auch der Start zur internationalen „Orange Week“, die noch bis zum internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember dauert.
„Ob Mann oder Frau, wir sind bei jedem Lebewesen gegen Gewalt. Aber an diesem Tag wird der Fokus speziell auf die Gewalttätigkeit gegenüber Mädchen und Frauen gelegt. Es ist eine Tatsache, dass diese ihnen gegenüber dominiert“, sagt Danielle Becker-Bauer von der Luxemburger Sektion von „Zonta International“. Der Blick in einen vom Chancengleichheitsministerium veröffentlichten Bericht zum Thema Gewalt in Luxemburg untermauert ihre Aussage: Insgesamt 943 Mal musste die Luxemburger Polizei 2020 wegen häuslicher Gewalt in den Einsatz; 1.697 mutmaßliche Opfer wurden bei diesen Einsätzen verzeichnet. Insgesamt 1.023 (rund 60 Prozent) davon waren Mädchen oder Frauen, 674 (rund 40 Prozent) Jungen oder Männer.
In 278 Fällen wurden im vergangenen Jahr zudem Täter einer Wohnung verwiesen, um so 291 erwachsene Opfer zu schützen. Insgesamt 246 von ihnen waren Frauen (85 Prozent) und 45 Männer (15 Prozent). Laut Pressestelle der Polizei geht man davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist. Denn aus Angst und Scham melden viele Betroffene den Behörden Gewalttaten gar nicht erst. Der Solidaritätsmarsch am Samstag sowie rund 50 andere Aktionen der „Orange Week“ verfolgen deshalb laut Danielle Becker-Bauer ein Ziel: „Das Thema Gewalt enttabuisieren und den Opfern eine Stimme geben. Wenn 500 Menschen für sie auf die Straße gehen, wissen sie, dass sie nicht alleine sind. Gewalt ist keine Privatsache.“
Sexualisierte Gewalt ist verbreitet
Wie nötig das ist und wie präsent Gewalt – vor allem die sexualisierte Form davon – im Alltag von jungen Menschen ist, weiß Lou Reckinger aus Erfahrung. „Fast jedes Mädchen, das ich kenne, hat etwas erlebt“, sagt die 24-Jährige. Vor mehr als vier Jahren hat Lou Reckinger beim CNFL die Gruppe für jüngere Mitglieder mit gegründet: die „Voix de jeunes femmes“ (VJF). Gemeinsam mit anderen Mitgliedern hat die Sprecherin von VJF wertvolle Aufklärungsarbeit in Lyzeen geleistet. Bei den Besuchen in Luxemburger Schulen berichteten vor allem Schülerinnen ihnen von Nacktfotos, die gegen ihren Willen von Ex-Freunden an die gesamte Klasse verschickt wurden, aber auch von heimlich gefilmtem Geschlechtsverkehr, Berührungen im Club gegen ihren Willen bis hin zu Vergewaltigungen.
Insgesamt 144 Mal wurde 2020 sexuelle Belästigung bei der Luxemburger Polizei zur Anzeige gebracht, hinzu kommen 104 Fälle von Vergewaltigung. Auch bei diesen Zahlen ist von einer weitaus höheren Dunkelziffer auszugehen. Angaben zu Geschlecht und Alter der Opfer gibt es bei diesen Zahlen nicht. Die von jungen Frauen geschilderten Fälle von sexualisierter Gewalt lassen Lou Reckinger mittlerweile allerdings wiederkehrende Muster erkennen. Zum einen spiele Pornografie dabei eine große Rolle. „Bereits im Alter von zehn Jahren haben junge Menschen Zugang zu einer Welt, in der Sex schnell sehr aggressiv wird. Ihnen wird vermittelt, dass das ganz normal ist.“
Zum anderen käme es häufig im Zusammenhang mit berauschenden Substanzen zu sexualisierter Gewalt. „Die Geschichten fangen immer ähnlich an: Es gibt eine Party, jemand ist betrunken und die Situation wird ausgenutzt. Sowohl auf der Seite der Opfer, aber auch der Täter, geschieht das oft bei den ersten Erfahrungen mit Alkohol oder Drogen.“ Ein großes Problem sei dann, dass Betroffenen nicht wirklich geglaubt wird. „Wie willst du dich denn daran erinnern, du warst doch betrunken?“ oder „Warum bist du denn überhaupt mit ihm nach Hause gegangen, wenn du gar nicht mit ihm schlafen wolltest?“, sind laut Lou Reckinger alles Fragen, die jungen Frauen nach ihren schlimmen Erfahrungen gestellt wurden. „Die Opfer trifft keine Schuld. Aber wenn einem schon die beste Freundin nicht glaubt, wer will dann noch damit zur Polizei gehen?“, fragt Lou Reckinger.
Täter von nebenan
Oft seien solche Reaktionen von Bekannten und Freunden ein Schutzmechanismus, um der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen. „Denn die Schuldigen sehen nicht wie Täter aus, es sind keine Monster. Es ist der Junge aus der Parallelklasse, vielleicht sogar dein Ex-Freund“, fasst Lou Reckinger zusammen, was sie in Gesprächen mit Betroffenen festgestellt hat. In dem Zusammenhang hat sie auch mehrere Gerichtsprozesse verfolgt und stellt fest, dass die Strafen gerade bei jungen Tätern, auch in Fällen von schweren Vergewaltigungen, oft mild ausfallen: „Dann gibt es 18 Monate auf Bewährung, denn der Schuldige ist noch jung und hat sein ganzes Leben noch vor sich. Laut meiner Erfahrung ist die Zukunft des Täters oft wichtiger als die Vergangenheit des Opfers.“ Und das, obwohl Letztere jeden Tag mit den Erinnerungen leben müssten.
Informationen zum Thema
Von Gewalt betroffen? Wer Opfer, Zeuge, aber auch Verursacher von Gewalt ist, findet Hilfe auf der Webseite violence.lu, unter der Telefonnummer 20 60 10 60 oder via E-Mail an info@helpline-violence.lu. Auf der Webseite gibt es unter anderem eine Übersicht zu allen Diensten, die in Luxemburg bei Gewalt helfen können. Mit dem unter anderem über die Webseite des „Conseil national des femmes du Luxembourg“ (CNFL) abrufbaren Gewaltmesser erhält man eine erste Einschätzung zur Präsenz von Gewalt in einer Beziehung.
Bei der „Orange Week“ mitmachen: Mit einer Teilnahme an den Veranstaltungen der „Orange Week“, unter anderem dem Solidaritätsmarsch am Samstag in Esch, kann man ein Zeichen gegen Gewalt setzen. Zudem wird dazu aufgerufen, während der Aktion bis zum 10. Dezember ein Selfie mit einem Regenschirm oder einem anderen, orangen – der international gewählten Farbe für die Bewegung – Gegenstand zu machen und dieses in den sozialen Medien zu veröffentlichen. Wer lieber auf Text setzt, kann eine kurze Botschaft gegen Gewalt in den sozialen Netzwerken teilen. Zum internationalen Tag gegen Gewalttätigkeit an Mädchen und Frauen am 25. November gibt es den Aufruf, eine orangefarbene Kerze anzuzünden.
Trotzdem ermutigt Lou Reckinger Betroffene dazu, sich Gehör zu verschaffen. Denn jede Verurteilung zeige: „Das, was dir passiert ist, ist falsch.“ Es sei wichtig, sich zusammenzutun, um so gemeinsam stark zu sein. Und das werden laut Schätzung der Organisatoren heute dann auch rund 500 Frauen und Männer in Esch tun – um gemeinsam ein Zeichen gegen alle Formen von Gewalt zu setzen.
- „Gibt noch viel zu tun“: Lydie Polfer äußert sich zur Sicherheit an Zebrastreifen - 20. November 2024.
- Nach Urteil im Zebrastreifen-Streit: Gemeinde legt Berufung ein - 18. November 2024.
- Nach Urteil im Zebrastreifen-Streit: Gemeinde will am Montag reagieren - 15. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos