Gewerkschaften / Sophie Binet: „Heute sind es Frankreich und Deutschland, die Europa blockieren“
Seit etwa einem Jahr führt Sophie Binet die einflussreiche französische Gewerkschaft CGT. Vergangene Woche kam sie nach Luxemburg, um das Kooperationsabkommen mit dem OGBL zu erneuern. Ein Gespräch über gewerkschaftliche Zusammenarbeit und europäische Herausforderungen.
Tageblatt: Haben Gewerkschaften heute noch den gleichen Einfluss wie früher?
Sophie Binet: Das ist schwer zu sagen und hängt von Land zu Land ab. Es gab immer Zeiten, in denen die Gewerkschaften mal stärker, mal nicht so stark waren. Was aber sicher ist: Seit der Mobilisierung gegen die umstrittene Rentenreform von Macron haben die Gewerkschaften in Frankreich große Fortschritte gemacht. In Meinungsumfragen hatten wir noch nie so viel Zuspruch wie heute. Die CGT hat seit den Protesten gegen die Rentenreform 70.000 neue Mitglieder bekommen. Ich habe noch vorhin mit Nora (Back, Präsidentin des OGBL, Anm. d. Red.) darüber gesprochen und sie hat mir erklärt, dass man auch beim OGBL einen Wachstumstrend feststellt. Das zeigt, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen sich bewusst sind, welche Rolle die Gewerkschaften für sie spielen. Das Kapital braucht keine Gewerkschaften. Sie haben in immer mehr Ländern in der ganzen Welt einen direkten Draht zu den politischen Entscheidungsträgern. Ich denke, da sind die Ausgangspositionen in Luxemburg und Frankreich ziemlich ähnlich.
Zur Person
Sophie Binet, Jahrgang 1982, übernahm die Spitze der CGT im März 2023, inmitten der Proteste um die Rentenreform. Gleich nach ihrer Wahl sagte sie, dass sie sich den anderen Gewerkschaften anschließe und einem Treffen mit der damaligen Premierministerin Borne zustimme, um die Aufhebung der Rentenreform zu beantragen. Ihre Wahl zur Generalsekretärin der CGT, einer Gewerkschaft, in der die Arbeiter immer noch großen Einfluss haben, war für viele eine große Überraschung. Bindet stammt gebürtig aus Metz, hat Philosophie studiert und an Berufsschulen in Marseille gearbeitet.
Sie haben die Rentenreform in Frankreich angesprochen. Müssen Sie Ihren gewerkschaftlichen Kampf heute eher gegen das Patronat oder aber gegen die Politik richten?
Beide. Ich kann jetzt für die Situation in Frankreich reden, aber ich denke, es gibt eine europaweite Tendenz. In Frankreich hat das Patronat keine Vorstellung der gewerkschaftlichen Arbeit. In Frankreich gibt es keine Aufteilung der Macht innerhalb der Betriebe. Das ist unser größtes Problem. Die Arbeitnehmer sollen die Wirtschaft mitgestalten, aber das Patronat denkt, es hätte das Monopol für diesen Bereich. Es ist aber unsere Arbeit, die den Reichtum schafft, also haben wir ein Recht auf Mitbestimmung.
Und wo sehen Sie die Probleme in der Politik?
Das große Problem ist, dass das Patronat oder das große Kapital immer mehr Einfluss auf die Politik hat. Die Bereiche verschmelzen zusehends. Entweder bekommen Wirtschaftsvertreter wichtige politische Posten oder Politiker bekommen wichtige Posten in der Wirtschaft. Es ist, als gebe es eine Drehtür zwischen den beiden Bereichen. Man könnte sich eigentlich schon die Lobbyisten sparen. Aber im Ernst, das ist ein riesiges Problem, denn man hat Regierungen an der Macht, die nicht mehr im allgemeinen Interesse der Gesellschaft entscheiden. Das konnte man noch kürzlich auf EU-Ebene beobachten.
Dem Sozialdumping wird somit Tür und Tor geöffnet. Das ist ein sozialer Rückschritt um 200 Jahre.
Sie reden von der gescheiterten Direktive zur Regulierung der Plattformarbeit?
Genau, die nicht zuletzt wegen Frankreich gescheitert ist. Da wir als Gewerkschaft nicht einmal von der Regierung zurate gezogen wurden, habe ich keine direkten Informationen zu den Verhandlungen. Aber vor einigen Monaten haben Journalisten in den sogenannten „Uberfiles“ die engen Beziehungen zwischen Emmanuel Macron und dem CEO von Uber offengelegt. Da zeigt sich, dass die französische Regierung in den Diensten von Uber und den großen Plattform-Unternehmen handelt. Und das kann dramatische Konsequenzen haben. Wenn dieser Bereich nicht reguliert wird, werden immer mehr Unternehmen ihre Arbeitskräfte als Scheinselbstständige anstellen. Dem Sozialdumping wird somit Tür und Tor geöffnet. Das ist ein sozialer Rückschritt um 200 Jahre.
Verlagert sich die gewerkschaftliche Arbeit zusehends nach Brüssel oder Straßburg, also nach Europa?
Ja, ganz klar. Wir befinden uns heute in einer Europäischen Union aus 27 Ländern. Während oftmals mit dem Finger auf die neuen Mitglieder aus Osteuropa gezeigt wird, sind es heute Frankreich und Deutschland, die Europa blockieren. Länder, die früher einmal führend waren, was den sozialen Fortschritt und die Menschenrechte angeht. Das hat sich aber in den vergangenen Jahren verändert. Dass diese Länder heute den sozialen und ökologischen Fortschritt auf EU-Ebene bremsen, ist ein Skandal.
Wie müssen sich die Gewerkschaften denn für diesen europäischen Kampf aufstellen?
Wir müssen grenzüberschreitende Kooperationen eingehen, um mit einer Stimme sprechen zu können. Unsere Herausforderungen sind die gleichen, also müssen wir uns zusammentun. Vor allem jetzt, vor den Europawahlen, ist es wichtig, unseren Standpunkt zu sozialen, ökologischen und arbeitsrechtlichen Fragen darzulegen. In Frankreich haben wir jetzt gerade noch erfahren, wie sich Entscheidungen auf EU-Ebene auf uns auswirken.
Was meinen Sie damit?
Ich rede vom wiedereingeführten Stabilitätspakt der EU. Da das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr nun kleiner ausfallen soll als geplant, hat unsere Regierung kurzerhand entschieden, 10 Milliarden beim Budget einzusparen. Der Minister hat dies am Montag angekündigt und am Donnerstag war das Dekret bereits da. Ohne das Parlament auch nur zu konsultieren, geschweige denn mit den Gewerkschaften zu reden. Vive la démocratie!
Was genau bringt Ihnen als CGT denn die Kooperation mit dem OGBL?
Wir sind Nachbarländer und viele Franzosen kommen zum Arbeiten nach Luxemburg, während immer mehr Luxemburger in Frankreich leben. Diese Zusammenarbeit ist also sehr wichtig. Wir haben regelmäßige Treffen, um gemeinsame Projekte voranzubringen und gemeinsame Forderungen für die Pendler auszuarbeiten. Außerdem ist es für uns sehr wichtig, dass sich die Menschen in Luxemburg für ihre Rechte einsetzen und sie verteidigen.
Wieso?
In Frankreich bekommen wir ständig zu hören, dass unsere Löhne im Vergleich zum Ausland zu hoch sind und unser Sozialsystem im Vergleich zum Ausland zu teuer ist. Nehmen wir den Index als Beispiel. Bei uns wurde das System 1983 abgeschafft. Deshalb sind die Löhne in Frankreich niedriger als in Luxemburg, wobei ich nicht sehe, dass es Luxemburg trotz Index wirtschaftlich schlechter gehen soll als Frankreich, oder? Wir können als französische Gewerkschaft unserer Regierung und dem Patronat also das Beispiel Luxemburg vor Augen führen und aufzeigen, dass es auch anders geht, wenn mal wieder Sozialleistungen gekürzt werden sollen. Wir können uns als Gewerkschaften durch unsere Errungenschaften gegenseitig auf ein höheres Level bringen. Denn wie ich aus den Gesprächen mit Nora herausgehört habe, ist auch in Luxemburg nicht alles Gold, was glänzt. Vor allem all die Probleme, die mit dem Logement zusammenhängen.
Der Internationale Frauentag steht vor der Tür. Gibt es bei den Gewerkschaften einen Mentalitätswandel in Sachen Gleichberechtigung?
Dass Nora und ich heute hier als Gewerkschaftsführerinnen nebeneinandersitzen, sagt schon einiges aus. Ich denke, das unterstreicht, dass es schon in gewisser Weise einen Wandel innerhalb der Gewerkschaften gibt. Ich stelle europaweit eine Feminisierung der Gewerkschaften statt. Das ist ein starkes Signal. Es reicht aber nicht, einfach nur die Spitze mit einer Frau zu besetzen; es muss einen Wandel innerhalb der Organisation geben, damit Frauen dort ihren Platz einnehmen können. Wie der OGBL hier in Luxemburg werden auch wir in Frankreich am 8. März an einem Frauenstreik teilnehmen. Der 8. März ist ein Tag des Kampfes für die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau am Arbeitsplatz und in der gesamten Gesellschaft.
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