/ Sorge um Rechtsruck – Warum der europäische Gewerkschaftsbund sich in den EU-Wahlkampf einmischt
Luca Visentini (50) ist studierter Philosoph, Dichter und Berufsgewerkschaftler. Seit 2015 ist er Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, Dachverband von 90 nationalen Gewerkschaften aus 38 Ländern und zehn europäischen Föderationen. Ein Drittel der Gewerkschaftsmitglieder hätten bei nationalen Wahlen für rechtsextreme oder nationalistische Parteien gestimmt, sagt er. Ein Gespräch über Gewerkschaften und den Rechtsdrall in Europa.
Von Lucien Montebrusco
Wie will der EGB die Menschen überzeugen, an den EU-Wahlen teilzunehmen?
Luca Visentini: Wir versuchen, den Beschäftigten zu erklären, dass diese Wahlen wohl die wichtigsten seit der Gründung der EU sind. Die Wunden, welche die Wirtschaftskrise bei den Beschäftigten hinterlassen hat, sind noch immer vorhanden. Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch und die Gewinne aus der wirtschaftlichen Erholung wurden noch nicht entsprechend verteilt. Die Löhne stagnieren, es gibt noch immer Sozialdumping, unfaire Wettbewerbsbedingungen. Hinzu kommt, dass Klimawandel und Digitalisierung enorme Auswirkungen in punkto Arbeitsstellen haben werden. Derzeit sind noch keine Instrumente vorhanden, um eine gerechte Transition zu ermöglichen, so dass viele Menschen auf der Strecke bleiben werden. Diese Fragen können nicht auf nationaler Ebene gelöst werden. Wir brauchen eine europäische Dimension. Wir müssen dafür sorgen, dass der europäische Pfeiler Sozialer Rechte Wirklichkeit wird. Der einzige Weg um dorthin zu gelangen, besteht darin, wählen zu gehen, um zu verhindern, dass rechtsextreme und populistische Kräfte eine Mehrheit im EU-Parlament bekommen. Fortschrittliche Kräfte müssen eine Mehrheit bekommen, um auf eine fortschrittlichere Kommission hinzudrängen.
Rechtsextreme und populistische Kräfte gewinnen an Zuspruch in der EU. Ein Zeichen für eine schwächelnde Gewerkschaftsbewegung oder sind deren Argumente zu schwach?
Wir stellen keinen signifikanten Rückgang bei der Gewerkschaftsbewegung in der EU fest, wobei es wohl Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Die antidemokratischen Kräfte nehmen zu, weil die Politiker auf europäischer aber insbesondere auf nationaler Ebene versagt haben, die Krise ordentlich zu managen und die Menschen zu schützen. Natürlich haben auch die Gewerkschaften versucht, die Folgen der Krise abzuwehren, aber sie waren nicht immer erfolgreich. Die Verantwortung liegt dennoch vor allem bei den Institutionen, bei skrupellosen Arbeitgebern, die die Situation ausnutzen, um aus Sozialdumping und unfairen Wettbewerbsbedingungen Gewinn zu schlagen. Es ist Zeit, das zu ändern. Deshalb haben wir uns so stark in diese Wahlen impliziert.
Am vergangenen Freitag hat der EGB in Brüssel eine Kundgebung für ein gerechteres Europa veranstaltet, an der rund 8000 Menschen teilnahmen. EGB-Manifestationen in der Vergangenheit brachten bis zu 30.000 Teilnehmer auf die Straße. Für ein solch wichtiges Thema war das doch eine recht schwache Beteiligung.
Wenn wir eine solche Veranstaltung in Brüssel organisieren, stützen wir uns vor allem auf die belgischen Gewerkschaften. Die belgischen Gewerkschaften haben drei Jahre Demonstrationen und Streiks hinter sich. Sie sind erschöpft. Es war uns aber wichtig, eine symbolische Aktion durchzuführen, damit unsere Stimme bei den Institutionen gehört wird. Außerdem sind die europäischen Gewerkschafter nicht daran gewöhnt, sich für Wahlen zu mobilisieren. Insofern war diese Kundgebung doch schon ein Erfolg.
Eine Frage zu ihrem Heimatland Italien. Vor einem Jahr wollten Sie sich nicht zur neuen Regierung äußern, weil sie noch nichts unternommen habe. Wie schätzen Sie die Situation heute ein?
Meine Meinung hat sich noch weiter verschlechtert, weil sich dort nach wie vor nichts getan hat. Die Wirtschaft liegt leider am Boden. Es gibt keine Investitionen. Es gelang ihnen nicht, den wirtschaftlichen Aufschwung, der bereits unter der vorigen Regierung eingesetzt hatte, aufrecht zu erhalten. Italien ist das kranke Land der EU, wirtschaftlich gesehen. Das ist der Beweis dafür, dass rechtsextreme Kräfte wie die Lega oder populistische Kräfte wie die 5Stelle an der Macht nichts bewerkstelligen können. Das ist auch eine wichtige Botschaft an die Wähler.
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