Demokratie / „Soss platzt eng Kéier de ganze System“: Alex Bodry über die Legitimität des Staatsrats
Rechtsextremisten stellen die Wehrhaftigkeit politischer Systeme jeden Tag aufs Neue auf die Probe. In Deutschland sucht die Politik nach Lösungen zur Stärkung des Verfassungsgerichts, in Polen und Ungarn wurde die Unabhängigkeit der Justiz bereits ausgehebelt. Doch wie steht es um die Resilienz der Luxemburger Institutionen? Ein Interview mit dem zweiten Vizepräsidenten des Staatsrates, Alex Bodry.
Tageblatt: Alex Bodry, Sie haben ein Buch über das politische System Luxemburgs und dessen Institutionen geschrieben. In Zeiten eines Donald Trump stellt sich die Frage: Wie resilient ist das Luxemburger System?
Alex Bodry: Das war in Luxemburg nie Thema. Eigentlich muss man sich diese Frage immer stellen und wir haben das möglicherweise bei der vergangenen Verfassungsrevision nicht hinreichend gemacht – weil wir den Reflex hier nicht haben. Wenn man in Luxemburg die Verfassung ändern will, braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Die Möglichkeit eines Referendums, das bei 25.000 Unterschriften das zweite Verfassungsvotum in der Chamber ersetzt, kann ebenfalls als Schutzmaßnahme angesehen werden. Zudem sind wir durch unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union und dadurch, dass wir der Europäischen Menschenrechtskonvention unterliegen, international abgesichert. Als dritte Schutzmaßnahme kann die in der Verfassung verankerte Unabhängigkeit der Justiz angesehen werden. Wir haben in Luxemburg kaum politische Nominierungen in dem Bereich, dadurch, dass die Vorschläge vom „Conseil national de la justice“ kommen müssen. Mit Blick auf Ungarn oder Polen ist das enorm wichtig, da der Rechtsstaat mit Attacken auf die Justiz ausgehebelt wurde.
Trump hat wenige Augenblicke nach seiner Vereidigung eine Flut an Dekreten erlassen. Ist so ein „Durchregieren“ in Luxemburg, bei dem der bis zu einem gewissen Zeitpunkt gültige Konsens mit einer Unterschrift gekippt wird, überhaupt möglich?
Die USA haben ein präsidiales System, das auf „checks and balances“ aufgebaut ist. Dieses System riskiert bei einer politischen Gleichschaltung, wie es sich durch die vergangenen Wahlen und Nominierungen an den „Supreme Court“ ergeben hat, nicht mehr zu funktionieren. Diese Gefahr ist in Luxemburg nicht so gegeben. Erstens hat Luxemburg ein parlamentarisches System. Die Regierung geht aus der Mehrheit in der Chamber hervor. Zudem ist es in Luxemburg so, dass bei Regierungswechseln immer eine Partei aus der vorherigen Regierungsmehrheit auch in der darauffolgenden Regierungskoalition vertreten war. Somit ist eine gewisse Kontinuität garantiert.
Zweitens gibt es den Sicherheitsmechanismus, dass zahlreiche Politikfelder durch die Verfassung dem Gesetzesvorbehalt unterliegen. Das heißt, dass Entscheidungen in zahlreichen Politikfeldern nur anhand eines Gesetzes getroffen werden können. Da kann sich eine Exekutive nicht darüber hinwegsetzen – es sei denn, der Krisenzustand wird ausgerufen, wie es in der Corona-Pandemie der Fall war. Doch selbst dann gelten bestimmte Regeln. So muss die Chamber einer Verlängerung des Krisenzustandes nach zehn Tagen zustimmen. Zudem kann der Krisenzustand nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit auf drei weitere Monate verlängert werden.
In Luxemburg gibt es den „arrêté grand-ducal“. Das großherzogliche Dekret ist in seiner Machtfülle also nicht mit dem präsidialen Dekret aus den USA zu vergleichen?
Nein, diese kennen wir eigentlich nicht in der Form in Luxemburg. Verordnungen und Erlasse stehen in der Normhierarchie unter dem Gesetz. Die Regierung kann demnach nicht einfach Dekrete erlassen. Die großherzoglichen Verordnungen können zudem vor jedem Gericht angefochten werden, dafür muss man nicht einmal vors Verfassungsgericht ziehen.
Für die Ausführung der Dekrete in den USA braucht es jedoch auch ein Budget. Wenn der Kongress diese Mittel nicht zur Verfügung stellt, können diese nicht ausgeführt werden. Die Unterzeichnung eines Dekrets bedeutet also nicht unbedingt, dass die darin enthaltenen Bestimmungen auch ausgeführt werden.
Verfassungsartikel 45
(1) Le Grand-Duc prend les règlements et arrêtés nécessaires pour l’exécution des lois.
(2) Dans les matières réservées à la loi par la Constitution, le Grand-Duc ne peut prendre des règlements et arrêtés qu’en vertu d’une disposition légale particulière qui fixe l’objectif des mesures d’exécution et le cas échéant les conditions auxquelles elles sont soumises.
Eine Institution, die in den vergangenen Monaten des Öfteren in den Schlagzeilen vertreten war, ist der Staatsrat. In Ihrem Buch gibt es eine interessante Passage über die Legitimität der hohen Körperschaft. Sie schreiben: „Une consécration par la constitution suffit d’elle comme source de légitimité? Le débat reste ouvert.“
Der Staatsrat, wie er in Luxemburg existiert, ist eine nationale Partikularität, eine Zwitterinstitution. Dadurch, dass es in Luxemburg aufgrund der Größe des Landes keinen Senat gibt, wurden dem „Conseil d’État“ Missionen auferlegt, die normalerweise einer zweiten Kammer zugewiesen werden würden. In anderen politischen Systemen folgt die zweite Kammer einer klaren politischen Zusammensetzung. Und auch in Luxemburg sollte bei der bisher letzten Reform des Staatsrates im Jahr 2017 die politische Zusammensetzung des Staatsrates klarer festgezurrt werden.
Nach außen sagt der Staatsrat, dass er ein apolitisches Organ ist. Jedoch kann der Staatsrat massiv in den gesetzgeberischen Prozess eingreifen. Er kann durch seine Gutachten das Tempo des Gesetzgebungsprozesses vorgeben und mithilfe seiner „oppositions formelles“ auch den Inhalt mitbestimmen. Und wenn einem Organ diese Macht zukommt, sich gegen die gewählten Volksvertreter zu stellen, ist es für mich nur legitim, dass diese einer politisch ausgewogenen Zusammensetzung folgt, wie sie in der Reform 2017 verankert wurde. „Soss platzt eng Kéier de ganze System.“
Wie etwa bei der rezenten Wahl des neuen Staatsratsmitglieds im vergangenen November?
„Do war ech schonn e bësse sauer, wou dat mat Absicht net respektéiert ginn ass.“ Das Gesetz schreibt vor, dass die Zusammensetzung des Staatsrats dem politischen Kräfteverhältnis folgen soll. Es gibt sogar Rechenbeispiele im entsprechenden Gesetzestext. Wenn jeder das macht, folgt der Staatsrat dem Gesetz nicht mehr – obwohl es eigentlich seine Aufgabe ist, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Dazu muss man wissen, dass der Staatsrat das Gesetz seiner eigenen Reform mit Gutachten bereits abgeschwächt hatte. Für mich steht aber fest: Wenn der Staatsrat Teilaufgaben einer zweiten Kammer übernimmt, reicht eine Verankerung in der Verfassung nicht als einzige Legitimationsgrundlage. Ich sage nicht, dass die Gutachten politischer Natur sind. Sie nehmen aber Einfluss auf die Politik.
Die DP-Abgeordnete Corinne Cahen meinte, wenn der „Conseil d’État“ politisch sei, müssten seine Mitglieder demokratisch gewählt werden?
Das ist eine Frage der Repräsentativität. Damit wird aber eventuell wieder die Frage aufgeworfen, wer die Staatsräte benennen darf. Bisher werden die Staatsräte in einem Rotationsprinzip nominiert: Regierung, Chamber und der Staatsrat dürfen abwechselnd Kandidaten vorschlagen. Die CSV hatte 2017 vorgeschlagen, dass die Staatsräte allesamt über die Chamber bestimmt werden sollen. Wenn dadurch eine größere politische Legitimität gewahrt werden würde, habe ich persönlich kein Problem damit. Vor allem auch deswegen, weil der Staatsrat mit der Verfassungsrevision nicht mehr exklusiver Berater der Regierung ist, sondern auch von der Chamber befragt werden kann – wenngleich die Prozedur nicht genau geregelt ist. Unter diesen Gesichtspunkten aber ergibt es durchaus Sinn, dass die Chamber stärker mitbestimmen kann, wer in den Staatsrat gewählt wird.
Untergräbt der Staatsrat durch das Nicht-Beachten der gesetzlichen Nominierungsprozedur nicht seine eigene Legitimität?
Es gibt durchaus auch Vertreter der Meinung, die den Staatsrat weiterhin als rein juristisches Organ sehen und diese Problematik nicht spüren. Damit habe ich ebenfalls kein Problem. Dann bedarf es jedoch einer radikaleren Reform, die die Aufgaben und Machtbefugnisse des „Conseil d’Etat“ an die anderer europäischer Staatsräte angleicht. Dann können die Gutachten des „Conseil d’Etat“ auch ignoriert werden und haben keine Auswirkungen auf das Votum in der Chamber. Die Vertreter könnten auch das Statut eines Magistrats erhalten. Die Auswirkungen auf den Gesetzgebungsprozess wären jedoch weitaus geringer. Man muss die Wahl treffen: eine zweite Chamber mit Einfluss auf die Gesetzgebung, mit einem politischen Gleichgewicht, oder ein rein juristisches Organ ohne größere Machtfülle.
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