Editorial / Soziale Errungenschaften verteidigen sich nicht von selbst
„Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es den Menschen gut.“ Es ist eigentlich ein Spruch fürs Phrasenschwein, wird aber seit Jahren von Wirtschaftskammern, Patronatsverbänden und Politikern immer wieder betont. Es ist auch zum Credo der konservativ-liberalen Regierung aus CSV und DP geworden. „Wirtschaft“ kann zwar schon mal durch „Betriebe“ ersetzt werden, aber an der Essenz ändert das nichts weiter. Der Ausgangspunkt der aktuellen Politik liegt immer auf der Wirtschaftlichkeit. Natürlich muss ein starker Sozialstaat irgendwie finanziert werden und niemand hat ein Interesse daran, dass es der Wirtschaft oder den Betrieben schlecht geht. Problematisch ist die Herangehensweise dennoch, da sie impliziert, dass es den Menschen automatisch gut geht, wenn es der Wirtschaft oder den Betrieben gut geht. Ein Unternehmen wie Amazon macht Milliardengewinne, dennoch verspüren Mitarbeiter einen großen Druck und beklagen sich über ständige Überwachung, wie unter anderem eine Recherche von Correctiv.Lokal und dem Hamburger Abendblatt vor einem Jahr offenlegte.
Auch der „Quality of Work“-Index der luxemburgischen Arbeitnehmerkammer zeigt einen Abwärtstrend über die vergangenen zehn Jahre. Vor allem wird es für Arbeitnehmer immer komplizierter, Arbeits- und Privatleben unter einen Hut zu bekommen. Und dies wird mit der von der Regierung angedachten Flexibilisierung der Arbeitszeiten und dem Festhalten an der 40-Stunden-Woche in Zukunft wohl nicht einfacher werden. Dafür bekommen CSV und DP viel Lob von Patronatsvertretern. Der Präsident der „Chambre des métiers“, Tom Oberweis, klagte in seiner Neujahrsansprache über die zahlreichen Krankmeldungen und forderte von der Regierung, den Arbeitnehmer in Form eines Karenztages, ohne oder mit weniger Lohn, stärker in die Pflicht zu nehmen. Das politische Umfeld ist momentan sicherlich offener für solche Forderungen als in der jüngeren Vergangenheit.
Umso wichtiger erscheinen die anstehenden Sozialwahlen. In diesem politischen Kontext benötigen Arbeitnehmer eine starke Stimme, sowohl in den Unternehmen als auch gegenüber der Politik. Über 600.000 Menschen sind wahlberechtigt, womit die Sozialwahlen die demokratischsten Wahlen des Landes sind, auch wenn sie nicht immer die größte Beachtung finden. Die meisten Menschen verbringen einen großen Teil ihrer Lebenszeit auf der Arbeit. Die Qualität dieser Zeit hat also einen großen Einfluss auf das allgemeine Wohlergehen. Die Qualität wird nicht notgedrungen durch größere Produktivität oder höhere Gewinne verbessert. Vielmehr wird die Produktivität durch zufriedene Arbeitnehmer gesteigert, wie mehrere Studien belegen. Die CSV-DP-Regierung sollte ihr Leitmotiv deshalb überdenken. Auf jeden Fall wird es den Menschen nicht besser gehen, indem man ihnen einen Teil ihres Lohnes aufgrund einer Krankschreibung wegnimmt. Soziale Errungenschaften verteidigen sich nicht von selbst.
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