Forum / Soziale Realität in Luxemburg: Kinderarmut und die „working poor“
Eigentlich sollte die Armutsbekämpfung eine der wichtigsten Prioritäten der neuen Regierung sein. Bisher merkt man davon wenig, auch wenn die neuesten Zahlen über Kinderarmut und Erwerbsarmut („working poor“) erschreckend sind und konsequente Maßnahmen verlangen würden.
Luxemburg, eines der reichsten Länder in Europa, das für seinen hohen Lebensstandard und Wohlstand bekannt ist, schnitt in dem veröffentlichten Unicef-Jahresbericht über Kinderarmut im Dezember 2023 überraschend schlecht ab. Laut dem Bericht ist jedes vierte Kind von Armut bedroht, was etwa 30.000 Kindern entspricht. Die Hälfte dieser Kinder leben laut dieser Studie in langanhaltender Armut. Des Weiteren geht aus einem anderen aktuellen Bericht, dem „Sozialpanorama 2024“ der „Chambre des salariés“, hervor, dass Luxemburg Spitzenreiter in der Eurozone beim Anteil der Erwerbsarmut ist. So heißt es, dass jeder siebte Beschäftigte im Großherzogtum von Armut bedroht ist [1]. Dies alles ist umso mehr erstaunlich, da Luxemburg doch eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Europa hat und ihm nachgesagt wird, ein gut ausgebautes Sozialsystem zu besitzen [2]. Jedoch scheinen die Hilfen zu bürokratisch und kommen nicht wirklich dort an, wo sie gebraucht werden, wie eine aktuelle Studie des Liser erklärt [3].
Kinderarmut: Realität in Luxemburg
Die Armutsgefährdung in Luxemburg wird auf der Grundlage von 60% des mittleren monatlichen Einkommens berechnet. Liegt das Einkommen unter 2.266 Euro pro erwachsenes Mitglied eines Haushalts, sind die Kinder in einem luxemburgischen Haushalt von Armut bedroht. Dieses Risiko zeigt sich in verschiedenen Bereichen wie Bildung, Kultur oder Sport und geht auch mit einer Reihe von Ungleichheiten einher. Deswegen ist man auf die Unterstützung vom Staat, von NGOs und natürlich auf Spenden angewiesen, um die Kinderarmut zu bekämpfen.
Die Hilfsorganisationen spielen also eine entscheidende Rolle, indem sie mit äußerst wichtigen Projekten wie z.B. „Housing first“ oder der sozialen Inklusion bei der Arbeit der Armut entgegentreten. In diesem Jahr, noch lange vor dem Bekanntwerden des Betrugsskandals, hatte die Caritas ein Symposium rund um das Thema Kinderarmut organisiert, bei dem internationale und nationale Experten aus dem Sozialbereich sowie Politiker teilnahmen, um Wege für eine inklusivere und gerechtere Gesellschaft zu finden. Man sprach hier von einem Solidaritätspaket für Kinder, aber auch von einer intersektoriellen und interministeriellen Plattform, die den Ernst der Lage erkennen würde.
Themen wie Alleinerziehung oder schwere Schicksalsschläge, wie z.B. eine plötzlich aufgetretene Krankheit, ein Arbeitsplatzverlust, eine Partnerschaftstrennung, führen Eltern mit niedrigem Einkommen und ihre Kinder oftmals in eine finanzielle Schieflage. Diese Menschen sind auf die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen aus dem Sozialbereich angewiesen.
Ein bewegendes Beispiel, das ich vor kurzem zur Kenntnis nehmen konnte, ist die Situation einer Mutter, die seit über zwei Jahren in Luxemburg lebt und nur einen befristeten Arbeitsvertrag besitzt. Sie ist Analphabetin und wollte einen Alphabetisierungskurs besuchen. Das Problem war hier schlichtweg, dass sie eine Banküberweisung tätigen musste. Die Bank eröffnete ihr allerdings aufgrund ihres befristeten Arbeitsvertrags kein Konto. Auch einen Computer besaß sie nicht. Nur dank der Unterstützung von der „Fondation Kannerschlass“ konnte der Kursbeitrag überwiesen werden. Dieses Beispiel zeigt, wie die Bildungsarmut diese Person in eine mehr als kritische Lage versetzte. Ohne externe Hilfe würden solche Personen keinen Ausweg aus ihrer schlechten Lage finden und von der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben.
Wie wir wissen, hat auch die Caritas sich in der Vergangenheit stark für benachteiligte Kinder und Jugendliche eingesetzt und hat dementsprechend in diesem Bereich eine zentrale Rolle gespielt. Umso schockierender war es, als die Caritas wegen eines enormen Betrugsskandals in die Schlagzeilen geriet. Die Reaktion der Regierung bezüglich des Finanzskandals, die öffentlichen Gelder, die der Caritas gewährt wurden, in einer ersten Phase bis zum 13. August einzufrieren, ist allerdings unter sozialen Gesichtspunkten mehr als fragwürdig. An dieser Stelle ist zudem anzumerken, dass die Regierung noch am 9. Juni 2024 bei der „Lag vun der Natioun“ die Bekämpfung der Armut als Priorität angekündigt hatte. Auch wenn bis dato schon bekannt ist, dass einige Einheiten der Caritas vom Finanzskandal nicht betroffen sind, so war die Lage doch am Anfang sehr angespannt, da man eine Verschärfung der Kinderarmut befürchtete. Ohne ihre fortgesetzte Unterstützung sind diejenigen, die bereits in schwierigen Verhältnissen leben, insbesondere Kinder, die Hauptleidtragenden. Erwähnenswert ist ebenso, dass die rund 500 Mitarbeiter der Caritas betroffen sind, die Stabilität und Sicherheit für sich und ihre Familien benötigen und genauso wie ihre Klienten das Recht haben, in nicht prekären Bedingungen zu leben.
Der Finanzskandal der Caritas legt allerdings nicht nur eine mangelnde „Gouvernance“ offen, sondern zeigt auch die negativen und bedrohlichen Folgen für die Menschen, die von der Caritas betreut wurden. So hat auch die Abgeordnete Djuna Bernard („déi gréng“) in einem Artikel im Tageblatt die Wichtigkeit der Non-Profit-Akteure für die Zivilgesellschaft hervorgehoben und erläutert, dass ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen, um die internen Arbeitsabläufe und Kontrollstrukturen professioneller und standardisierter zu gestalten.
Von Arbeit zum Überleben: Leben der Working Poor
Seit 2017 ist der Anteil der arbeitenden Armen („working poor“) in Luxemburg um 45% gestiegen. Selbst eine Vollzeitbeschäftigung schützt viele Einwohner Luxemburgs nicht vor Armut. Haushalte, die mehr als 34 Stunden pro Woche arbeiten, zeigen Armutsrisikoquoten, die doppelt so hoch sind wie im europäischen Durchschnitt. Hier ist anzumerken, dass Kinderarmut oft das direkte Ergebnis der finanziellen Situation ihrer Eltern ist. Wenn Eltern in Armut leben, wird es für sie schwierig, ihren Kindern Zugang zu einer guten Bildung, Gesundheitsversorgung, Freizeitaktivitäten und einer ausgewogenen Ernährung zu ermöglichen.
Die Herausforderungen sind also sehr vielfältig und hier müsste das System ganz anders greifen. Die „Chambre des salariés“ legt hier drei Empfehlungen vor, um diesen gefährlichen Trend aufzuhalten: die Neubewertung des Mindestlohns, die Befreiung von der Einkommenssteuer für Gehälter bis zum qualifizierten Mindestlohn und zusätzliche Steuererleichterungen für Geringverdiener. Die LSAP hatte Anfang Februar 2024 in einer Motion („pauvreté des enfants“) u.a. eine Erhöhung um 100 Euro netto des Mindestlohns und das Ausarbeiten einer Steuerreform gefordert, die darauf abzielt, die Steuerlast für gering verdienende Haushalte und Alleinerziehende zu verringern. Diese wurde von den aktuellen Koalitionspartnern abgelehnt.
Selbsterhaltung der Demokratie
Die Krise um die Caritas und das Handeln der Regierung sollten unter keinen Umständen nur als Seitenfüller im Sommerloch betrachtet werden. Vielmehr scheint hier das wahre Grundsatzprogramm der Koalition durchzuschimmern, welches die staatliche Finanzierung von Strukturen der Solidargemeinschaft teilweise in Frage stellt. Diese Haltung steht meiner Meinung nach im Gegensatz zur Ankündigung der Regierung, die Bekämpfung der Armut als Priorität ihrer Arbeit zu sehen. Eine freie Gesellschaft aller Bürger, wie Max Leners in seinem lesenswerten Essay darstellt (Tageblatt 23.3.2023), ist allerdings auf soziale Gerechtigkeit angewiesen, die finanziell und rechtlich verankert ist.
Ideen, wie mit steuerlichen Mitteln mehr soziale Gerechtigkeit erzeugt werden könnte, wurden bereits vorgestellt. Bis dahin, und mit großer Sicherheit auch danach, werden nicht-staatliche, gemeinnützige Akteure benötigt, um diejenigen zu beraten und zu begleiten, die nicht ausreichend von den vorgestellten Maßnahmen profitieren. Die finanzielle Unterstützung dieser Vereine mit Steuergeldern liegt im Eigeninteresse des Staates. Denn das Armutsrisiko untergräbt am Ende auch das Fundament unserer Demokratie. Nur so kann dahin gewirkt werden, dass der Begriff der Freiheit und der Gerechtigkeit ein mit Leben gefülltes Konzept wird und nicht nur ein Lückenfüller für unbeseelte Ankündigungen bleibt.
[1]: Vgl. www.csl.lu/app/uploads/2024/06/econews-12-2024.pdf und https://luxembourg.public.lu/en/living/health-and-social-security/social-security.html
[2]: OECD (2022), Études économiques de l’OCDE: Luxembourg 2022, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/5319b66e-fr.
[3] Anne Franziskus/Anne-Catherine Guio: Précarité et (non-)recours aux aides financières au Luxembourg: une étude qualitative, www.improof.lu/de/articles/precarite-et-non-recours-aux-aides-financieres (19.6.2024), basierend auf Franziskus, A. et Guio, A.-C. (2024). Précarité et (non-)recours aux aides financières au Luxembourg: une étude qualitative. Luxembourg: Liser, février.
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