Tripartite 05/06 / Sozialer Fortschritt aus dem „Beichtstuhl“: Zur Idee und Geburtsstunde der Arbeitnehmerkammer
Die CSL feiert ihren 100-jährigen Geburtstag – dabei ist Luxemburgs Arbeitnehmerparlament in seiner jetzigen Form erst vor 15 Jahren mit der Einführung des Einheitsstatut entstanden. Jean-Claude Juncker, Jean-Claude Reding, Mars di Bartolomeo und François Biltgen blicken im Tageblatt auf eine Sternstunde der Luxemburger Sozialdemokratie zurück.
Inflation, steigende Arbeitslosigkeit, Sorgen um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes: Die Probleme, die Luxemburgs Politik Mitte der 2000er-Jahre umtrieben, ähneln den Herausforderungen, mit denen das Großherzogtum auch heute noch konfrontiert ist. Wie in den vergangenen Jahren wurde auch im Oktober 2005 eine Tripartite einberufen, um die Probleme des Landes im Sozialdialog anzugehen. Anders als bei den vergangenen Auflagen der Dreierrunden weitete sich die Tripartite Mitte der 2000er-Jahre zu einem wahren Gesprächsmarathon aus, der erst im April 2006 seinen Abschluss fand. Und mit ihm dem jahrzehntealten Ideal der Arbeitnehmervertretung zu einer schlagkräftigen Institution verhalf, die als „Chambre des salariés“ (CSL) dieses Jahr 100 Jahre feiert.
Der damalige Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV) erinnert sich im Gespräch mit dem Tageblatt noch sehr genau an die schwierigen Gesprächsrunden zurück. „Meine Version der Ereignisse ist natürlich sehr egozentrisch, weil die Tripartite-Runde sehr breit diskutiert wurde“, sagt er rückblickend. Zwischen Oktober 2005 und April 2006 sei die Regierung unzählige Male mit den Gewerkschafts– und Patronatsvertretern im Außenministerium zusammengekommen. „Es war sehr schwierig für die Gewerkschaften, weil wir unter anderem über das Aussetzen oder die Verschiebung der Indextranchen diskutiert haben.“
Es war inmitten dieser schwierigen Gespräche, dass die Idee des Einheitsstatuts aufgeworfen wurde. „Das hätte es den Gewerkschaften erlaubt, bei den nicht so angenehmen Nachrichten für die Arbeitnehmerschaft auch etwas zu ‚verkaufen‘, was einer jahrelangen Forderung der Gewerkschaften entspricht“, sagt Juncker. Wer genau das Einheitsstatut in die Diskussion einbrachte – ob vonseiten der Politik oder Gewerkschaften –, darüber divergieren die Erinnerungen der Akteure. Der damalige Arbeitsminister François Biltgen meint im Gespräch mit dem Tageblatt jedoch unmissverständlich, dass es Jean-Claude Juncker zu verdanken war, „dass die Tripartite nicht mit den Gewerkschaften als einzige Verlierer zu einem Ende kam“.
Was ist das Einheitsstatut?
Bis zur Einführung des Einheitsstatuts wurde in der Luxemburger Rechtssprechung und dem Luxemburger Sozialsystem zwischen Arbeitern und Privatbeamten unterschieden. Privatbeamten genossen im Vergleich mit den Arbeitern mehrere Privilegien: Unter anderem bekamen Privatbeamte aufgrund niedrigerer Sozialbeiträge einen höheren Netto- bei gleichem Bruttolohn und genossen eine bessere Überstunden- und Lohnfortzahlungsregelung. Diese Unterschiede wurden mit der Einführung des Einheitsstatut bis zum 1. Januar 2013 beseitigt.
Gegenleistung mit Substanz
Der damalige Sozialminister und jetzige LSAP-Abgeordnete Mars ci Bartolomeo sagt, dass die Idee eines Einheitsstatuts im Rahmen eines informellen Sondierungsgespräches mit Jean-Claude Reding erstmals aufgeworfen wurde. „Jean-Claude Juncker hat mich damals beauftragt, bei Jean-Claude Reding nachzufragen, was sie sich als Gegenleistung vorstellen können“, sagt Mars di Bartolomeo. Juncker habe gewusst, dass der LSAP-Politiker einen guten Draht zu den Gewerkschaften und insbesondere zu Jean-Claude Reding habe. „Die Gewerkschaften waren bis zu dem Zeitpunkt eher zurückhaltend, dem Tripartite-Beschluss zuzustimmen“, erinnert sich di Bartolomeo. „Die Gegenleistung musste schon Substanz haben.“ Nach einigem Hin und Her zwischen den langjährigen Freunden sei dann die Idee des Einheitsstatuts aufgekommen.
Ein Vorschlag, der in der Tripartite dann auch tatsächlich aufgegriffen wurde. „Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich eine Sitzung unterbrochen habe und mich in einen anderen Saal des Außenministeriums zurückgezogen habe“, erinnert sich Juncker an den entscheidenden Moment zurück. Auf einem Blatt Papier habe er dann fünf bis sechs Sätze zum Einheitsstatut niedergeschrieben. Eine alte Gewerkschaftsforderung, die aber in rezenten Jahren nicht mehr vordergründig diskutiert worden sei. „Anschließend habe ich Patronats- und Gewerkschaftsvertreter nacheinander in meinen ‚Beichtstuhl‘ gerufen“, sagt Juncker. „Ich habe dann Lektüre meines Textes über den Einheitsstatut gegeben und gefragt: Gibt es jemanden, der das nicht will?“
Historischer Abschluss
Der Rest ist Teil von Luxemburgs Sozialgeschichte. Im „Avis du Comité de coordination tripartite“ aus dem Jahr 2006 wurde der Beschluss des Einheitsstatuts auf der zweitletzten Seite festgehalten.
Le Gouvernement et les partenaires sociaux sont tombés d’accord pour faire converger le statut des ouvriers et des employés privés en vue de réaliser un statut unique de tous les salariés du secteur privé. Ils s’inspireront, en aménageant cette convergence, du statut des employés privés, notamment en ce qui concerne la continuation des salaires en cas de maladie et sa durée. La réalisation du statut unique ne conduira pas à des charges financières supplémentaires pour l’économie dans son ensemble. Le Gouvernement et les partenaires sociaux déclarent que les problèmes spécifiques aux secteurs doivent trouver réponse dans le cadre des négociations relatives à la réalisation du statut unique dont le terme est prévu pour la fin de l’année 2006.p. 23
„Das Einheitsstatut war Bestandteil eines Maßnahmenpakets, das nicht jedem gefiel“, sagt der damalige OGBL-Präsident Jean-Claude Reding. Um zu verhindern, dass der Index ganz ausgesetzt werde, habe man als Gewerkschaften bereits akzeptiert, dass die Indextranchen verschoben werden würden. Trotz eines schwierigen wirtschaftlichen Umfeldes habe man aber auch als Gewerkschaftsvertreter eine „qualitative Gegenmaßnahme“ gefordert. Die Idee des „Statut unique“ sei schlussendlich akzeptiert worden, war aber nie unumstritten. Der Tripartite-Accord wurde etwa im Nationalvorstand des OGBL mit einer Mehrheit von 52 Ja- zu 23 Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen angenommen. „Das ist eher ungewöhnlich in der Gewerkschaftsszene“, weiß Reding. Zwar sei es eine stabile Mehrheit gewesen – die Gegenmaßnahmen für die Verschiebung der Indextranchen und Desindexierung zahlreicher Leistungen hätten nicht jeden in der Gewerkschaftsleitung überzeugt.
Mit dem grünen Licht von Patronats- und Gewerkschaftsseite konnte die Reform angegangen werden. „Ich habe die Minister François Biltgen und Mars di Bartolomeo damit beauftragt, die Reform im Detail auszuarbeiten“, sagt Jean-Claude Juncker. „Die beiden Minister haben eine außergewöhnliche, geduldige, aufs Zuhören basierende Arbeit geleistet.“ Wenn er auf sein bisheriges Leben zurückblicke, sei das Einheitsstatut eine der Initiativen gewesen, auf die er besonders stolz sei. Dabei musste er sich gegen Teile der CSV durchsetzen. „Nicht jeder in meiner Partei war dafür – jedoch hat der sozial orientierte Gewerkschaftsflügel mich und François Biltgen stark unterstützt“, sagt Juncker. Mit der Fusion der Krankenkassen und der zwei Berufskammern der Privatbeamten und der Arbeiter sei ein „Gesamtkunstwerk“ gelungen, auf das er bis heute stolz sei. Für François Biltgen und Mars di Bartolomeo hat Jean-Claude Juncker besonders viel Lob übrig: „Sie haben eine außergewöhnlich gute Arbeit geleistet und sich um die Sozialdemokratie in Luxemburg verdient gemacht.“
Nach dem Beschluss die Arbeit
Mit dem Beschluss des Tripartite-Abkommens war zwar ein prinzipielles Einverständnis zwischen den Sozialpartnern erreicht. Die eigentliche Arbeit aber stand noch bevor. „Das Tripartite-Abkommen ließ keinen Spielraum für ein Versagen“, erklärt Mars di Bartolomeo. Mit der Tripartite habe sich eine womöglich einmalige Gelegenheit geboten, das Einheitsstatut in Luxemburg einzuführen. „Um es kurz zusammenzufassen: François Biltgen und ich haben es geschafft, weil wir ganz einfach nicht versagen durften.“ Ähnlich blickt auch der ehemalige Arbeitsminister Biltgen auf die Jahre nach dem Tripartite-Abkommen zurück. „Der Knackpunkt war der finanzielle Aspekt“, sagt er. Mars di Bartolomeo und er selbst hätten in einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens arbeiten können. „Wir waren zwei Minister mit unterschiedlicher Parteifarbe – jedoch waren wir auch uralte Freunde, die in allen Hinsichten zusammengearbeitet haben.“ Auch habe der damalige Regierungschef Juncker ihnen den nötigen Freiraum und auch die nötige Unterstützung geboten, um die Reform zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
Bei der Ausarbeitung der Reform habe laut Biltgen auch Jean-Claude Reding eine große Rolle gespielt: „Die Detailfragen, die in der Tripartite weniger diskutiert wurden, wurden im Anschluss an die Dreierrunde extrem wichtig.“ Hört man Jean-Claude Redings Schilderung zu, scheint der Zusammenschluss zweier Berufskammern, der Schaffung der „Caisse nationale de santé“ und die Überarbeitung des Arbeitsrechts „nur“ eine logische Konsequenz des Tripartite-Abkommens gewesen zu sein, und nicht etwa eine „mission impossible rendue possible“, wie Mars di Bartolomeo die Arbeiten bezeichnet. Denn: Mit der Einführung des Einheitsstatuts mussten der „Code de travail“, der „Code des assurances sociales“, die Rentensysteme, das Gesetz betreffend den Berufskammern und die Gerichtsbarkeit angepasst werden.
„Wir mussten die Übertragbarkeit zweier Systeme organisieren“, blickt Reding eher nüchtern zurück. Ein Hauptpunkt sei die Fusion der Krankenkassen gewesen, aus der dann die CNS resultierte. Auch wurden die beiden Berufskammern „Chambre du travail“ und „Chambre des employés privés“ zu einer einzigen Kammer, der „Chambre des salariés“, zusammengelegt. „Im Bereich der Sozialversicherung waren vor allem die Diskussionen um die Lohnfortzahlung kompliziert“, sagt Reding. Bei der Anpassung der Sozialbeitragszahlungen habe man sich auf ein Stufenmodell festgelegt, das eine graduelle Anpassung vorsah.
Überfällige Reform
Die arbeitsrechtlichen Arbeiten, darin sind sich Reding und Biltgen einig, waren durch die Arbeitsrechtsreform aus dem Jahr 1989 vergleichsweise einfach. Auch wenn bei der Überstundenregelung, den Personaldelegationen, Abfindungszahlungen oder dem „trimestre de faveur“ Probleme aufgetaucht seien, sei die Bereitschaft von Patronat und Arbeitnehmerschaft, die Reform zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, deutlich spürbar gewesen. „Das Patronat wusste, dass das Einheitsstatut überfällig war“, resümiert Biltgen.
Die Reformarbeiten sollten, anders als im Tripartite-Beschluss, nicht bis Ende 2006, sondern bis Mai 2008 andauern. Erst am 29. April 2008 beschloss das Luxemburger Parlament einstimmig – nur die DP enthielt sich bei der Abstimmung –, den Einheitsstatut für alle Arbeiter und Privatangestellten. Die „Chambre des salariés“ nahm ihre Arbeit somit offiziell am 1. Januar 2009 auf.
Ein Erfolg, der auch im Ausland und insbesondere bei den belgischen Nachbarn nicht unbemerkt blieb. „Ich erinnere mich daran, dass die belgische Tageszeitung Le Soir einen belgischen Gewerkschafter mit ‚statut unique exemplaire‘ zitierte“, sagt Mars di Bartolomeo. „Meine belgische Amtskollegin Joëlle Milquet hat mich immer wieder gebeten, ihr zu erklären, wie wir das vollbracht hatten“, erinnert sich auch Biltgen. Dass die belgische Regierung auf Luxemburger Hilfe zurückgreifen wollte, weiß auch Jean-Claude Juncker noch. „In Belgien gab es einen ähnlichen Differenzierungsmechanismus, wie bei uns.“ Eine Reform wie in Luxemburg sei den belgischen Kollegen jedoch nie wirklich geglückt. „Die Widerstände der belgischen Sozialpartner waren zu groß.“
„Rien n’était acquis“
Rückblickend mag es selbstverständlich erscheinen, dass das Einheitsstatut eingeführt wurde. „In Gesprächen mit vielen beteiligten Akteuren aber hat sich herausgeschält, dass dem keineswegs so war“, erklärt Estelle Berthereau von der Universität Luxemburg. Die Historikerin hat die Geschichte der CSL (und ihrer Vorreiterinstitutionen) zum hundertjährigen Jubiläum aufgearbeitet. „Rien n’était acquis.“ Eine erste Grundlage dafür lieferte unter anderem auch der Historiker Denis Scuto mit seiner Arbeit zum 75-jährigen Geburtstag der „Chambre de travail“.
Die Idee einer demokratisch gewählten Arbeiterkammer reicht nämlich weit in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurück. Der Abgeordnete der Rechtspartei Nicolas Jacoby brachte bereits im Jahr 1919 in einem Kontext politischer und sozialer Unruhen einen Gesetzesvorschlag ein, der die Schaffung einer Repräsentation der Arbeiterschaft vorsah. Obwohl das Gesetz im Jahr 1920 gestimmt wurde, wurde es nie vollumfassend umgesetzt. Die Idee jedoch war geboren.
Infolge der Streiks aus den Jahren 1917 und 1921, die mithilfe von ausländischen Streitkräften niedergeschlagen wurden, entstand in einem Sonderausschuss dann das politische Ideal einer Arbeitervertretung. Der gleiche Sonderausschuss legte den Grundstein für den Acht-Stunden-Arbeitstag. Erst vier Jahre später, am 13. März 1924, werden vom Gesetzgeber fünf unabhängige Berufskammern geschaffen: die Landwirtschaftskammer, die Handwerkerkammer, die Handelskammer und die 85 Jahre später fusionierenden Arbeiterkammer und Privatbeamtenkammer. Anfangs sollten die Berufskammern als „Relaisstation“ zwischen der Straße und den legislativen Institutionen dienen. „Bei Problemen in Unternehmen waren die Berufskammern trotz geringer Mittel sofort zur Stelle“, erklärt Berthereau. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätte sich die Berufskammern auch administrativ verstärkt. Im Zuge der Umwandlung Luxemburgs in eine Dienstleistungsgesellschaft hätten die Berufskammern mit der Ausarbeitung von Weiterbildungsmaßnahmen eine wichtige Pionierarbeit geleistet, meint CSL-Direktor Sylvain Hoffmann, die heute im „Life-Long Learning Center“ der CSL gipfele.
Heute ist die Arbeitnehmerkammer der CSL mit ihren 60 Delegierten und 600.000 potenziellen Wählern die größte demokratische Institution Luxemburgs. Mit dem Einheitsstatut ist eine der größten Strukturreformen der Luxemburger Geschichte gelungen, sind sich alle beteiligten Akteure einig. Und mit der CSL sei laut Di Bartolomeo eine wahre „frappe de force“ der Arbeitnehmerschaft geschaffen worden.
Die Abstimmung in der Chamber 2008
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