/ SPD-Urgestein Sigmar Gabriel im Interview: Deutsche Militärdominanz würde Luxemburg abschrecken
Von Siggi Pop zum Vizekanzler: Kaum ein deutscher Politiker polarisiert so stark wie Sigmar Gabriel (59). Der Sozialdemokrat hat am Montag mit Jean Asselborn in Luxemburg über Europas Zukunft debattiert. Gabriel beschreibt im Interview, weshalb „deutsche Dominanz“ in Sachen Militär gefährlich sei, „Deutschland Weltmeister in Moral“ ist und Berlin sich vor politischen Alleingängen hüten sollte.
Ihr neues Buch ist erstaunlich schonungslos. Warum?
Mit Jean Asselborn haben Sie ja einen Politiker, der das genauso macht. Er ist ein gutes Vorbild dafür. Ich glaube, dass man als Außenminister in internationalen Fragen gut daran tut, die Regeln der Diplomatie nicht täglich zu missachten.
Aber?
Es darf nicht dazu führen, dass wir unklar sind – weder gegenüber unserer eigenen Bevölkerung noch gegenüber unseren Gesprächspartnern. Das gilt ganz generell.
Sie kritisieren die deutsche Flüchtlingspolitik von 2015 heftig. Würden Sie Deutschlands Grenzen heute rückblickend nicht mehr öffnen?
Ich weiß nicht, ob man das in der Situation hätte anders machen können. Wir waren damals mit der Frage konfrontiert: „Was machen wir mit den Flüchtlingen, die bereits unterwegs sind?“ Wir hätten sie ja kaum achselzuckend an der Grenze zu Österreich verweigern können. Der eigentliche Fehler bestand damals darin, nicht wesentlich intensiver und schneller versucht zu haben, mit unseren europäischen Kolleginnen und Kollegen darüber zu sprechen.
Hätte das etwas geändert?
Ob es dazu geführt hätte, dass sich die Flüchtlingspolitik wesentlich anders entwickelt hätte, weiß ich nicht. Aber den Eindruck, der damals entstand, den Deutschen sei der Rest Europas egal, hätte man vermeiden können. Es war keineswegs so, dass nur die Osteuropäer mit der deutschen Flüchtlingspolitik unzufrieden waren. Das traf ja beispielsweise auf die Franzosen genauso zu.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass der damalige französische Premier Manuel Valls besonders wütend war.
Ja, er hat damals in der französischen Nationalversammlung eine Regierungserklärung abgeben, in der er gesagt hat, kein zusätzlicher Flüchtling käme nach Frankreich. Ich glaube, dass das Beispiel Flüchtlingspolitik nur ein sehr drastisches Zeichen dafür war, dass die deutsche Politik in der „Berliner Republik“ dazu neigt, das, was wir selber für moralisch angemessen halten, quasi von allen anderen genauso erwarten.
Wie meinen Sie das?
Dass jemand aus Frankreich, aus Polen, aus Ungarn dazu möglicherweise eine andere Haltung hat, das könnten wir uns gar nicht vorstellen – und sind dann überrascht, wenn wir auf Widerstand treffen. Man kann daraus lernen, dass Deutschland wieder ein bisschen wie die „Bonner Republik“ werden muss. Sie hat sich Mühe gegeben, zunächst mit den Nachbarn zu reden, bevor die Republik selbst Entscheidungen traf. Ich glaube, dass das ein ganz guter Rat ist.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass die „Bonner Republik“ sich dadurch auszeichnete, dass Deutschland kleine Staaten wie Luxemburg, Belgien oder die Niederlande ernst nahm. Warum hat sich das verändert?
Das hat erstens mit der deutschen Wiedervereinigung zu tun. Deutschland hat nicht nur an wirtschaftlicher, sondern auch an politischer Bedeutung gewonnen. Es hat damit zu tun – das gehört auch zur Wahrheit –, dass Gegengewichte zu Deutschland wie Frankreich oder Großbritannien schwächer geworden sind.
Es gibt viele in Europa, die deshalb nicht zu Unrecht die transatlantischen Beziehungen zu den USA aufrechterhalten wollen. Da die USA heute möglicherweise das einzige Land sind, dieses große, 82 Millionen Menschen starke Deutschland zu binden. Das wurde nach der Wiedervereinigung gar nicht so bemerkt – auf jeden Fall nicht von uns. Anzeichen gab es genügend dafür.
Und zweitens?
Wir Deutschen sind Weltmeister in der Moral. Wir können besser als alle anderen erklären, was gut ist für die Menschheit. Ich meine das gar nicht so ironisch, wie es sich anhört. Es ist das Pendel aus der Zeit, wo wir überhaupt nicht über Moral nachgedacht haben, das jetzt in die andere Richtung ausgeschlagen hat. Deutschland war ein schrecklicher Ort. Die Luxemburger wissen das.
Sie meinen den Krieg.
Ja, wir haben auch dieses Land verwüstet. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland immer wieder versucht, diese Vergangenheit loszuwerden und auch unsere moralischen Wertmaßstäbe zum Gegenstand internationaler Politik werden zu lassen. Das ist an sich nichts Schlimmes, im Gegenteil. Man muss aber aufpassen, andere Völker mit einer anderen Geschichte nicht zu überrumpeln und wie eine Dampfwalze niederzuwalzen. Diese Tendenz gibt es leider in der deutschen Politik.
Dafür wollen Sie aber die Staaten in Osteuropa aufrüsten, damit sie sich selbst verteidigen können. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Buch eine stärkere militärische Abrüstung. Das ist ein unauflösbarer Widerspruch.
Ich verstehe Ihre Frage nicht.
Sie pendeln in Ihrer Argumentation zwischen Auf- und Abrüstung. Ihr jüngster Vorschlag ist es, 0,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die osteuropäischen Verteidigungsetats fließen zu lassen. Wie passt das zu Ihrer generellen Abrüstungsrhetorik?
Ich verstehe Ihren Widerspruch deshalb nicht, weil mein Vorschlag den Widerspruch auflösen soll. Ich glaube, dass die von der NATO jährlich geforderten zwei Prozent des deutschen BIP für die Bundeswehr nach zehn Jahren vielleicht einige unserer Nachbarn wie Luxemburg oder Frankreich etwas kritisch auf Deutschland schauen lassen werden.
Das heißt?
Wir haben heute eine große wirtschaftliche und politische Dominanz. Ich glaube nicht, dass Deutschland den Eindruck erzeugen sollte, auch militärische Dominanz zu erhalten. Das wäre zwangsläufig der Fall, wenn wir jedes Jahr über 80 Milliarden Euro in die Bundeswehr investieren – abseits der Tatsache, dass wir derzeit nicht mal mit der Hälfte richtig umgehen können. Trotzdem haben wir dieses 2-Prozent-Ziel der NATO mitzuverfolgen.
Was, wenn nicht Abrüstung, ist das Ziel Ihres Vorschlags?
Ich finde eine der Möglichkeiten ist es, 1,5 Prozent des BIP in die Bundeswehr zu investieren. 0,5 Prozent sollen aber in die NATO-Fonds fließen, die dafür sorgen, Europas Verteidigungsfähigkeit zu erhalten.
Das würde zum ersten Mal bedeuten, dass ein europäisches Land wie Deutschland eine Verantwortung übernimmt, die bisher nur von den USA getragen wurde. Es wäre nicht nur ein Beitrag dazu, Deutschlands Verantwortung für Europa zu stärken, ohne eine deutsche Dominanz zu erzeugen.
Sondern?
Sondern die Bereitschaft, einen Teil seines Wohlstandes für das öffentliche Gut Sicherheit auszugeben. Und das speziell in Osteuropa und über die Instrumente der NATO. Das, fände ich, wäre eine kluge Auflösung dieses doch existierenden Widerspruchs zwischen der Anforderung nach Investition und der Sorge um deutsche Dominanz.
Der französische Präsident Emmanuel Macron streckt die Hand nach Deutschland aus, um die Dominanz einzudämmen. Er wird ignoriert. Warum? Sie waren Vizekanzler und hatten auch Einfluss auf die Geschehnisse.
Herr Macron ist an die Regierung gekommen, als bei uns der Regierungswechsel anstand. Ich habe Frau Merkel, jedenfalls in meiner Amtszeit, sehr geraten, wesentlich offensiver auf ihn zuzugehen. Sie hat das leider nie getan. Und sie ist leider nicht die Einzige, die das nicht tut. Man muss nicht jedem Vorschlag Macrons folgen. Das ist nicht das Problem. Aber quasi gar nicht zu reagieren, nichts zu tun: das finde ich dramatisch. Ich weiß nicht, wann wir aufwachen. Hoffentlich nicht erst dann, wenn uns auch Frankreich abhanden gekommen ist als Partner.
Das heißt?
Man muss immer daran erinnern: Emmanuel Macron hat die Wahl gewonnen, aber es gab auch 11-12 Millionen Franzosen, die Frau Le Pen gewählt haben. Die wäre nun wirklich geeignet, Europa zu zerstören. Auch die Entwicklung in Italien sollte uns Sorgen bereiten. Deswegen wäre ich dafür, dass wir wesentlich stärker auf Macron zugehen, gerade was die Eurozone und die europäische Sicherheitspolitik angeht. Er macht übrigens erstaunliche Vorschläge.
Welche?
Dass ein französischer Präsident selbst für den Austritt Großbritanniens aus der EU vorschlägt, die Briten mögen trotzdem in einem europäischen Sicherheitsrat bleiben und volles Stimmrecht erhalten, das ist bemerkenswert – und liegt nicht gerade in der gaullistischen Tradition Frankreichs. Aber es zeigt: Da ist einer, der weiß, dass es um viel geht, wenn wir über Europa reden. Und es wäre angemessen, ihm ähnlich zu antworten.
Dennoch profitieren die europäischen Staaten davon, dass im Rat der EU das Prinzip der Einstimmigkeit bei sensiblen Themen wie der Außen-, Sicherheits- und Finanzpolitik gilt. Inwiefern kann mit dieser europäischen Architektur tiefgreifender Wandel überhaupt stattfinden?
Was soll denn die Alternative sein? Dass wir Leuten sagen „morgen dürfen wir dich überstimmen“? Jeder weiß, dass auch für die Änderung dieser Regel keine Einstimmigkeit da wäre. Warum sollte ein kleines Land einem solchen Vorschlag folgen? Ich finde das ein Totschlagargument. Der Hinweis darauf, dass alles so langsam geht, würde ja nicht erklären, warum sich Deutschland so verhält.
Wie lautet Ihr Vorschlag?
Ich glaube, dass wir gar nicht anders können, als den Versuch zu unternehmen, weiter mit strategischer Geduld an der Mehrheitsfähigkeit gemeinsamer europäischer Politik zu arbeiten. Wenn nicht, dann werden die Europäer in der Welt keine Stimme mehr haben.
Droht uns damit die „Verzwergung“ Europas?
Ich war gerade in Venedig. Ich finde es eine schöne Stadt, um zu sehen, was uns droht. Das war mal eine bedeutende Handelsmacht, eine politische Macht. Heute reisen 30 Millionen Touristen dorthin. Es ist ein Museum. Die waren so lange Handels- und Wirtschaftsmacht, wie die Handelsströme durch Europa und das Mittelmeer geflossen sind. Als sich die Handelsrouten und -achsen in den Atlantik verlagert haben, waren sie weg. Genau an der gleichen Stelle steht Europa jetzt. Die transatlantische Achse verlagert sich in den Pazifik. Entweder wir halten jetzt zusammen …
… oder?
Oder wir gehen das Schicksal Venedigs: ein schöner Ort, ein bisschen morbide, immer weniger Einwohner wollen in Venedig leben, die Chinesen kaufen die öffentlichen Gebäude und sperren sie anschließend für den Publikumsverkehr. Wer das nicht will, wird Europa zusammenhalten müssen.
China ist inzwischen ohne großes Aufsehen zur Weltmacht aufgestiegen. Wie soll die EU darauf reagieren?
Das ist die 100.000-Dollar-Frage. Wenn ich die beantworten könnte! (lacht) Das ist gar nicht so einfach. Jetzt sagen viele zum Beispiel: „Haltet doch Huawei (chinesischer Informations- und Kommunikationstechnik-Anbieter, Anm. der Redaktion) aus den Telekommunikationsnetzen raus.“ Ich glaube, dass die Chinesen, wenn wir das mit ihnen machen, antworten werden.
Wie?
Eine der Antworten wird sein, dass sie uns aus der chinesischen Automobilindustrie ausschließen. Das wird ein harter Schlag gegen Europa. Wir sind inzwischen viel zu verwoben in der Weltwirtschaft, auch mit China. Wir können nicht einfach das betreiben, was die Amerikaner „disengagement“ nennen (militärischer Rückzug, Anm. der Redaktion).
Schafft die EU das alleine?
Wir werden auch den Versuch unternehmen müssen, mit den USA, Japan, Südkorea und anderen zusammenzuarbeiten, um Chinas Macht auszubalancieren. Es wird nicht funktionieren, China sozusagen zurückzudrängen. Dafür haben wir auch, ehrlich gesagt, kein Argument. Die Chinesen sind 1,3 Milliarden Menschen. Die wollen mehr sein als ein billiger Marktplatz für uns. Aber sie einzubinden in eine faire Weltwirtschaft, das schaffen wir nicht alleine. Dafür werden wir andere brauchen.
Welche Rolle können die angeschlagenen Sozialdemokraten dabei spielen?
Ich glaube, dass die Sozialdemokratie vor allem zwei Dinge tun muss: Sie muss versuchen, wirtschaftlichen Fortschritt und Erfolg und soziale Fairness zusammenzubringen. Oftmals begehen Sozialdemokraten den Fehler, zu glauben, sie seien nur für soziale Fairness und Gerechtigkeit zuständig. Das sind sie nicht. Sie waren immer nur dann erfolgreich, wenn sie auch eine Idee hatten, wie Fortschritt, wie wirtschaftliches Wachstum, wie Wohlstand erzeugt wird. Wenn wir uns zurückziehen in die Rolle des Betriebsrats eines Unternehmens, wird das nicht reichen. Viele Menschen finden Betriebsräte und Gewerkschaften wichtig, aber sie wollen ihnen nicht die Führung des Unternehmens anvertrauen.
Was bedeutet das konkret?
Wenn Sie das auf die Politik beziehen, wird man sagen, Sozialdemokratie als Partei, die sich um Solidarität und den Sozialstaat kümmert, finden Menschen wichtig. Aber wenn wir wollen, dass sie uns die Führung des Landes und Europas zutrauen, dann müssen wir mehr können. Und das, glaube ich, muss die Sozialdemokratie wieder schaffen. Sie muss eine Vorstellung davon haben, wie Wohlstand morgen entsteht. Wir sind manchmal sehr auf das Heute bezogen, manchmal sogar auf das Gestern. Aber eigentlich geht es um die Frage: Wie werden wir morgen noch Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg erhalten, um überhaupt eine Chance zu haben, soziale Sicherheit in Europa zu garantieren?
Das mag objektiv Sinn ergeben, es kommt aber nicht bei den Wählern an.
Das glaube ich nicht. Wir versuchen es nur zu wenig. Sozialdemokratie war dann erfolgreich, wenn sie eine Idee von der Welt und von Europa hatte. Willy Brandt und Helmut Schmidt waren keine Sozialstaatspolitiker. Sozialdemokratie muss drei Dinge zusammenbringen: natürlich die organisierte Arbeitnehmerschaft, aufgeklärtes Bürgertum und kritische Intellektuelle.
Der Sozialstaat war mal das große emanzipatorische Projekt der sozialdemokratischen Parteien. Aber nicht im Sinne von Sozialhilfe, sondern der Sozialstaat wollte, dass das Leben jedes Menschen frei sein kann. Dass nicht das Einkommen der Eltern, das Geschlecht, die Religion, die Rasse über den Lebensweg entscheiden soll, sondern die eigene Fähigkeit.
Wo liegt das Problem?
Der Staat kann kein gelungenes Leben organisieren. Er kann aber Bedingungen dafür schaffen, dass jedes Leben gelingen kann, dass es nicht scheitert aufgrund mangelnder Bildung, weil man krank wird oder arbeitslos wird: Dafür war der Sozialstaat gedacht. Diese Idee ist heute oft degeneriert zu einem Sozialhilfestaat. Ich glaube, wir müssen das wieder zu einem emanzipatorischen Projekt machen. Außerdem: Nach den 1990er Jahren haben die progressiven Parteien nach dem Fall des Eisernen Vorhangs überall auf der Welt gedacht, die großen Verteilungsfragen seien erledigt. Jetzt gehe es um kulturelle Hegemonie. Wir haben begonnen, was Francis Fukuyama Identitätspolitik nennt.
Inwiefern?
Wir haben gedacht, wenn wir uns an die einzelnen Minderheiten der Gesellschaft wenden, gibt es am Ende eine Mehrheit. Ich glaube, das stimmt nicht. Die Summe der Politik für Minderheiten ist keine Mehrheit. Sie muss sich an die Mehrheitsgesellschaft richten. Dann wird sie auch bereit sein, Politik für Minderheiten zu akzeptieren. Wo ist der Unterschied zwischen Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Konservativen? Es ist immer die Verteilungsfrage. Solange wir beispielsweise nichts anderes machen, als mit den Grünen über die Frage zu streiten, wie viel Prozent CO2 wir bis wann aus der Atmosphäre haben wollen, solange unterscheiden wir uns nicht. Aber die Frage zu beantworten, wie Umweltschutz und Verteilungspolitik miteinander verbunden werden können, das ist eine sozialdemokratische Antwort.
Die Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ fordert eine Steuer auf das Treibhausgas CO2. Was halten Sie davon?
Eine CO2-Steuer zu erheben, ja, aber sie zurückzugeben an die Bevölkerung … wie wäre es denn, wenn wir das, was der Staat über die CO2-Steuer einnähme, als Kopfprämie an jeden gleich zurückgäben? Das hieße doch, dass jemand, der nicht so viel verdient, weniger Auto fährt, nur ein Fernsehgerät zuhause hat, eine kleine Wohnung besitzt, den gleichen Betrag zurückkriegt wie jemand, der relativ viel Energie verbraucht, ein großes Haus hat, ein großes Auto besitzt und viel reist.
Welchen wirtschaftlichen Effekt erhoffen Sie sich davon?
Jemand mit hohem Energieverbrauch muss relativ viel bezahlen, bekommt aber relativ wenig zurück. Wer hingegen wenig verdient und wenig verbraucht, kriegt einen relativ höheren Betrag zurück. Das wäre eine Umverteilung über Klimaschutz und Umweltpolitik. Sozialdemokratie muss die Themen mit Verteilung und mit sozialer Gerechtigkeit verbinden. Es geht nicht darum, mit den Grünen und ich weiß nicht mit wem über Quantitäten zu streiten.
Was halten Sie von dem britischen Brexit-Gebaren?
Man muss sich im Klaren sein, wer da eigentlich geht. Das ist nicht irgendein kleines Land. Die EU ist nicht einfach 28 minus 1. Es geht ein Land mit Jahrhunderten alter internationaler Erfahrung, das überall in der Welt geachtet wird. Uns verlässt ein wirtschaftliches „Powerhouse“. Und es geht eine Nuklearmacht. Nehmen Sie die Situation in Libyen. Uns Europäer nimmt in der Welt keiner so richtig für voll. Wir sind die letzten Vegetarier in der Welt der Fleischfresser. Wenn die Briten gehen, glaubt der Rest der Welt, wir sind Veganer. Das kann gesund sein, aber wenn Sie als einziger Veganer in der Welt der Fleischfresser zuhause sind, dann wird es unbequem.
Warum?
Ich mache mir gar nicht so viele Sorgen um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit. Das Empire, aber auch Luxemburg und die EU haben Schlimmeres durchlebt als die Wirtschaftskrise. Der Blick auf Europa wird aber ein anderer sein. Der Rest der Welt wird sagen: „Kuck mal, die können nicht mal ihren eigenen Laden zusammenhalten.“ Wir gelten als schwach, wenn das funktioniert. Das ist das eigentliche Problem des Brexit.
Kurzbiografie: „Siggi Pop“, Stinkefinger und Vizekanzler
Sigmar Gabriel wurde am 12. September 1959 in Goslar (Niedersachsen) geboren. Nach seinem Abitur und seiner Zeit bei der Bundeswehr studierte er 1982 Germanistik, Politikwissenschaften und Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Er schloss 1987 mit dem ersten Staatsexamen für Lehramt in der Sekundarstufe II ab. Im Jahr 1989 bestand er mit dem Referendariat sein zweites Staatsexamen.
Gabriel erfuhr erst mit 18 Jahren, dass sein Vater ein Nazi war – und es geblieben ist. Der Vater hatte ihn damals um einen Besuch gebeten. In Uniform. Die beiden waren zu diesem Zeitpunkt kaum noch in Kontakt. Beim Treffen entdeckte Gabriel im Bücherschrank des Vaters Nazi-Literatur. Nach der Begegnung brach der Kontakt 20 Jahre lang ab. 2016 zeigte Gabriel pöbelnden Nazis den Stinkefinger und meinte später: „Ich habe nur einen Fehler gemacht, ich habe nicht beide Hände benutzt.“
Gabriel ist 1977 in die SPD eingetreten und 1987 in die Kommunalpolitik. Er war von 1987 bis 1998 Mitglied des Kreistages der Stadt Goslar und von 1991 bis 1999 dort Ratsherr. 1990 bis 2005 war Gabriel Mitglied des Niedersächsischen Landtages. 1997 wurde er stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Landtagsfraktion Niedersachsen. Er war von 1998 bis 1999 Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion Niedersachsen. Gabriel wurde 1999 Ministerpräsident von Niedersachsen. Bei der Landtagswahl im Februar 2003 verlor die SPD massiv an Stimmen. Danach war er kurzzeitig Pop-Beauftragter der SPD, was ihm in Anspielung auf den Pop-Musiker Iggy Pop den Spitznamen „Siggi Pop“ einbrachte.
2005 gelangte er per Direktmandat in den Bundestag, dem er bis heute angehört. Er wurde zudem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und hatte das Amt bis 2009 inne. Die CDU ging eine Koalition mit der FDP ein. Im selben Jahr wurde Gabriel zum Bundesvorsitzenden der SPD gewählt und hielt sich bis 2017 im Amt.
Gabriel wurde 2013 Vizekanzler von Angela Merkel und Bundesminister für Wirtschaft und Energie. Von Januar 2017 bis 2018 war er Bundesaußenminister. Er setzte seinen Amtsvorgänger Frank-Walter Steinmeier als künftigen Bundespräsidenten gegen den Willen von Angela Merkel durch. Gabriel gilt als zu unberechenbar, aber auch als jemand, der mit Selbstzweifeln kämpft. Manche beschreiben ihn als Mann des „zweiten Eindrucks“. Es passt: er ist in Luxemburg vor dem Interview forsch aufgetreten, dann aber freundlich im Umgang gewesen. Bei der Bildung der letzten Großen Koalition wurde er von seinen Parteikollegen Andrea Nahles und Olaf Scholz ausgebootet.
Nahles und Gabriel verbindet eine lange Geschichte: Sie hatte es als Generalsekretärin von 2009 bis 2013 unter Parteichef Gabriel nicht einfach, bevor sie Arbeits- und Sozialministerin in der „GroKo“ von 2013 bis 2017 wurde. Mittlerweile stichelt Gabriel gegen Nahles. Altkanzler und Parteikollege Gerhard Schröder meinte jüngst: „Sigmar Gabriel ist vielleicht der begabteste Politiker, den wir in der SPD haben.“ Gabriel hat Ende 2018 das Buch „Zeitenwende in der Weltpolitik: Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten“ veröffentlicht.
Die SPD-Vorsitzenden seit 1946
An der Spitze der SPD standen seit 1946 als Vorsitzende: (oben, l-r) Kurt Schumacher (05/1946 – 08/1952), Erich Ollenhauer (09/1952 – 12/1963), Willy Brandt (02/1964 – 06/1987), Hans-Jochen Vogel (06/1987 – 05/1991), Björn Engholm (05/1991 – 05/1993), Rudolf Scharping (06/1993 – 11/1995), Oskar Lafontaine (11/1995 – 03/1999), (unten l-r) Gerhard Schröder (04/1999 – 03/2004), Franz Müntefering (03/2004 – 11/2005), Matthias Platzeck (11/2005 – 04/2006), Kurt Beck (05/2006 – 09/2008), erneut Franz Müntefering (10/2008 – 11/2009), Sigmar Gabriel (11/2009 – 03/2017), Martin Schulz (03/2017-02/2018). Auf dem Foto fehlt die amtierende SPD-Chefin Andrea Nahles.
- Der Schattenboxer Xavier Bettel - 14. Juli 2022.
- Die Impfpflicht: Wer setzt sich in Luxemburg durch? - 7. Juli 2022.
- Luxemburgs halbherzige Sanktionspolitik - 17. Juni 2022.
Deutsche Militär-Dominanz??? Der scherzt, doch nicht mit Helm-Uschis Gurkentruppe. Keine funktionierende Waffen, keine tauglischen Hubschrauber, kaputte Panzer, Airbus A400M, nichts tauglische Dingos…… Damit kann auch dieser Herr nicht angeben! Ist er ahnungslos oder intellektuel herausgefordert?
„Die anderen [Länder] haben Helikopter die fliegen.“ – Zitat Flinten-Uschi.
deutsche schrecken luxemburger immer ab, seit 1939
Schon länger. Schon vor dem Abzug der Garnison waren sie „d’Preisen“ und spätestens 1914 hatte man sich dann endgültig hier unmöglich gemacht.