Anno 1900 / Steampunk-Näher, Tüftler, fantastische Wesen und Barden im Porträt
Wo sonst als auf einer Steampunk-Convention stößt man auf kreative Seelen, die Neues aus weggeworfenen Gegenständen erschaffen, Kleidung in liebevoller Handarbeit herstellen oder in eine andere Rolle schlüpfen? Für andere wiederum gehört das „Anno 1900“ zu einem gelungenen Nachmittag auf einem lokalen Event mit dem gewissen Etwas. Das Tageblatt hat sich mit den verschiedenen Akteuren unterhalten. Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und nicht alle Besucher finden sich in einer dieser Sparten wieder. Sie soll jedoch die Vielfalt dieser Liga der außergewöhnlichen Gentlefolks widerspiegeln.
Die Tüftler
Bereits bei Jules Verne und H. G. Wells gehörten sie dazu: die verrückten Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker. Wenn Gast Klares uns die Funktionsweise seiner Jakobsleiter und Tesla-Spulen erklärt oder seine Geräte vor versammeltem Publikum zum Blitzen und Dampfen bringt, ist seine Faszination für (Steampunk-)Technologie spürbar. Ob Robotik, das Bauen von Musikinstrumenten oder das Zusammensetzen von Sonnenkollektoren und Regenwasseranlagen, der Tausendsassa schreckt vor nichts zurück. „Ich bin ein ganz normaler Elektriker“, sagt er bescheiden, als wir ihn fragen, woher dieses Know-how stammt. Er erzählt, wie er einmal auf ein Buch über die Experimente des Erfinders Nikola Tesla gestoßen ist und beschloss, diese nachzubauen.
Ein Fokus seiner Arbeit liegt auf der Herstellung von Lampen im Steampunk-Stil, die Interessierte erwerben können. Ganze 64 Modelle hat er bereits zusammengebaut. Das Überraschende hierbei: Sie setzen sich alle aus gebrauchten Teilen und weggeworfenen Gegenständen zusammen. Hier eine Weinkiste, da der Teil eines Rollstuhls … Vieles hat das Genie mit der Lampe vom Schrotthändler oder vom Flohmarkt erworben. „Ich habe früher bei der Post gearbeitet“, erzählt der gelernte Elektriker. „Ich habe oft im Container der Post gewühlt und dort eine Menge Nützliches gefunden. Aber auch Teile von Telefonhörern und gebrauchte Kabel können eingesetzt werden.“ Mit seinen Kreationen setzt sich Gast Klares auch für den Umweltschutz ein. Nachhaltigkeit, Recyceln, das Wiederverwenden von Gegenständen sind ihm wichtig. Eintauchen in seine Welt kann man online unter gastonklares.com.
Nicht jeder kann von sich behaupten, einem echten Zeitjäger begegnet zu sein, doch dem Tageblatt kam diese Ehre am Samstag zuteil. Leodini kommt jedes Jahr von Paris zum Fond-de-Gras. Sein Thema dieses Mal ist die Zeit: Alles ist in Bewegung, von seinem mechanischen Arm, den er selber gebaut hat, bis hin zum beweglichen Helm. „Mein Ziel ist es, den Menschen zu zeigen, dass sie weiterhin träumen sollen“, erklärt der „chasseur de temps“, dessen anderer Arm mit einem Schild ausgerüstet ist, der positive Energie einfangen kann. „Ich will zeigen, dass es möglich ist, aus Gegenständen, die auf den ersten Blick nicht nützlich aussehen, etwas Kreatives zu machen“, sagt Leodini und erklärt dem Tageblatt die Funktionsweise seines mechanischen Armes. „Das hier zum Beispiel war ursprünglich das Innere einer alten Kamera.“ Für seine Kreationen verwendet er Kupfer und Aluminium. So ganz einfach kann er sie sich nicht überstülpen, denn Leodini benötigt zwei Stunden, um sich anzuziehen. „Ich muss eine ganz spezifische Reihenfolge einhalten.“
Auch Christoph und Bettina aus Deutschland sind echte Tüftler und haben den Großteil ihrer Outfits selber gebaut. Sie hatten schon vorher von Steampunk gehört, doch erst als sie beim Steampunk-Jahrmarkt in Bochum teilnahmen, sahen sie, was alles möglich ist. „Wir waren sofort Feuer und Flamme und haben da angefangen, alles richtig zu bauen“, erzählt Christoph. Es folgten Events im Ausland, unter anderem in den Niederlanden, wo sie Philip und Marleen kennenlernten. Seitdem sind die beiden Paare zu einer Art Steampunk-Familie zusammengewachsen. „Steampunk ist eine Community“, sagt Bettina. Ihr und Christoph macht es Spaß, diesen alten Dingen, die eigentlich Schrott sind, neues Leben einzuhauchen und etwas zu bauen. Am liebsten benutzen die beiden Messing.
Die Textilmagier
Ja, das Korsett ist tatsächlich selber gemacht. Das Tageblatt konnte sich davon überzeugen, während Danielle aus Esch uns die verschiedenen Schritte zur Herstellung eines Steampunk-Outfits erläutert. Die begeisterte Hobbynäherin mag die stilvolle Kleidung des viktorianischen Zeitalters. „Ich finde, damals legte man mehr Wert darauf und passte mehr auf seine Kleidung auf.“ In liebevoller Handarbeit hat sie den Rock mit mehreren Lagen und kunstvoller Drapierung sowie das Korsett – ein technisch kompliziertes Projekt – genäht. „Heute ist sie die ‚Steampunk-Näherin‘“, sagt ihr Partner Percy stolz. Nähutensilien finden sich überall auf ihrer Kleidung wieder, von den Miniatur-Scheren an der Bordüre des Korsetts bis hin zu den kleinen Schneiderpuppen auf ihrem Hut. Auch auf dem Koffer, den sie trägt, ist – wie sollte es anders sein – eine alte Nähmaschine aufgedruckt.
Wie viel Zeit sie für das gesamte Outfit benötigt hat? So genau kann sie es nicht sagen, doch „alles in einem müssen es schon mehrere Wochen gewesen sein“, sagt Danielle. Das Korsett hat sie während des Lockdowns genäht. Damals, zu Beginn der Corona-Pandemie, hatte sie viel Zeit, um sich dieser Herausforderung zu stellen.
Percy ist von der Eleganz der viktorianischen Kleidung begeistert. Auch die Referenzen auf die Literatur haben es ihm angetan. „Die Recherche und die Kreativität … Es ist wie ein Eintauchen in eine Parallelwelt“, sagt er. „Schön ist es ebenfalls, dass Steampunk wirklich Menschen jeden Alters anspricht.“
Marta interessiert sich ebenso für Geschichte und für die Mode vergangener Zeiten. Ihre leuchtend gelbe Jacke im viktorianischen Stil und der gemusterte blaue Rock sind selber gemacht. „Ich habe spezielle Kurse belegt und dort Unterstützung von der Leiterin erhalten, die sich sehr gut mit Kleidung aus vergangenen Epochen auskennt“, erzählt sie. Die Kurse wurden von Pouce et Compagnie angeboten, die auch im Fond-de-Gras vertreten sind.
Manche Näher haben ihr Hobby zum Beruf gemacht. In ihrem Shop „Esprit de Mélusine“ bietet Marie Kopfbedeckungen jeder Art an, vom Fascinator bis hin zum Béret. Ob schlicht oder reich verziert, bunt oder in einem Farbton, alle Modelle sind per Hand gemacht. „Es sind ausschließlich Unikate“, erklärt sie.
Fantastische Wesen und wo sie zu finden sind
Für viele Steampunk-Anhänger ist das Erschaffen eines anderen Charakters, das Schlüpfen in eine neue Rolle, ein wichtiges Element. Jade, auch unter dem Namen Cerise bekannt, ist seit langem Fan von Science-Fiction und Fantasy. „Dungeons & Dragons, Piraten … das ist schon immer meine Welt gewesen“, erklärt sie dem Tageblatt. Damit war sie nur einen kleinen Schritt von Steampunk entfernt – einer Welt, deren Portal sozusagen nebenan liegt und die sie gerade erst entdeckt. Sie mag den viktorianischen Aspekt, aber eben auch das Fantastische. Ihre Kleidung hat sie nicht selber gemacht, was zeigt, dass Steampunk nicht unbedingt nur etwas für Nähbegeisterte ist. Doch bei der Zusammensetzung des Outfits hat sie sich viel Mühe gegeben. Die Latexohren zum Beispiel wurden mit einem speziellen Kleber befestigt. „Ich bin heute eine Piraten-Elfe“, sagt die Besucherin, die mit ihrer „Waffe“ mit dem Schwanenkopf auffällt.
Die Blicke auf sich zieht ebenfalls Yann. Selbst in Steampunk-Kreisen sorgt seine ungewöhnliche Kopfbedeckung in Form eines Oktopus für Furore. „Ist aus Badematerial, das man gewöhnlich im Schwimmbad benutzt“, verrät er uns. Der kleine Toine hingegen orientiert sich eher an den Kreaturen aus der Tiefsee, während Ismael im Gryffindor-Cape der zauberhaften Welt von Harry Potter huldigt.
Die Barden
Als der Veranstalter des „Anno 1900“ das Trio Les Gavroches zum ersten Mal kontaktierte, waren die Musiker zunächst verwirrt. „Steampunk? Nee, mit Punk haben wir nicht wirklich was am Hut“, erzählen sie rückblickend und lachen. „Doch der Veranstalter ließ nicht locker: Nein, das ist kein Punkrock. Es geht um etwas anderes. Ihr werdet schon sehen: Ihr passt da gut hin!“ Mit Gitarre und Akkordeon ausgerüstet, bewegt sich das Trio eher in Richtung Chansons. Sein Repertoire reicht von den 20er-Jahren bis heute, von „Le plus beau tango du monde“ bis „L’hymne à l’amour“, von Brel und Brassens bis hin zu Renaud. Aber auch an luxemburgische Lieder wie „Den Hexenmeeschter“ traut sich das Trio heran. Sie haben auch eigene Songs geschrieben, die sie jedoch seltener performen.
Die Idee trug Früchte. Dieses Jahr sind Les Gavroches bereits zum sechsten Mal auf der Steampunk-Convention aufgetreten. Und sie passen hierhin wie die Spiralfeder zu einem mechanischen Uhrwerk. „Les Gavroches, c’est la mélancolie des temps où les gens savent encore s’amuser sans se prendre la tête“, erzählen die drei Musiker dem Tageblatt.
Der Name der Gruppe ist von dem kleinen singenden Jungen Gavroche aus Victor Hugos Werk „Les Misérables“ abgeleitet. Ihre Geschichte begann vor 19 Jahren in einer Düdelinger Bar. Sänger Jérôme und Gitarrist Julien traten zum ersten Mal zusammen bei einem „café-concert“ auf. Das Motto waren Songs des französischen Sängers Renaud, von dem Jérôme seit seiner Kindheit begeistert ist. Nach dem Konzert stieß Daniel am Akkordeon auf die Gruppe. Das Trio Les Gavroches war geboren.
Die Auftritte auf dem Anno 1900 sind für die drei Musiker jedes Mal ein Highlight. „Wir haben hier ein wunderbares Publikum“, sagt Julien. Die Atmosphäre und das Engagement der Menschen seien vorbildlich. Dem Publikum zuzusehen, sei, wie einer Modenschau aus einer Fantasiewelt beizuwohnen. „Die Menschen gehen hier völlig aus sich heraus“, findet Daniel. „Eine Person kann zum Beispiel im Alltagsleben eher schüchtern sein, doch wenn sie in ihre Steampunk-Kleidung schlüpft, wird sie wie zu einem anderen Menschen.“
Wohin weht der Wind für Les Gavroches denn als Nächstes, wollten wir wissen. „Eine neue CD ist auf jeden Fall geplant“, sagen sie. Mehr wollen sie noch nicht verraten. Nur so viel ist sicher: Der Fokus bleibt auf den großen Chansons – aber immer auf ganz eigener Art interpretiert.
Les Gavroches – mit ihrer Zeitreise und ihrer ausgelassenen Art sind sie vielleicht doch mehr (Steam-)Punk, als sie selber gedacht hatten.
Wer die Auftritte am Samstag und Sonntag verpasst hat, kann das Universum der Gruppe online unter lesgavroches.eu entdecken.
Wie Alice im Wunderland
Unter den Zylindern, Fracks und gerüschten Röcken fallen sie doch auf: die zahlreichen Fotografen, für die das Event ein echtes Eldorado ist, und die nicht in Steampunk-Kleidung erschienenen Besucher. Coralie ist professionelle Fotografin, wohnt in Belgien und war am Samstag mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern auf der Convention. Die Welt des Steampunk kannte sie vorher nicht wirklich, doch sie hatte eine Vorstellung davon, was sie hier erwarten würde. Coralie interessiert sich für ungewöhnliche Menschen. Als Berufsfotografin arbeitet sie derzeit an einem Projekt, in dem Personen mit alternativen Modestilen im Mittelpunkt stehen. Inspiration hat sie beim Anno 1900 auf jeden Fall bekommen. Sie lobt die Kreativität der Menschen und deren Mut, ihre Leidenschaft so auszuleben.
Ein anderer Besucher erzählt dem Tageblatt, dass er jedes Jahr am Event teilnimmt, auch wenn er selber keine Steampunk-Kleidung trägt. Das Eintauchen in eine andere Welt eigne sich in dieser Location wunderbar und er freue sich jedes Mal darauf, zu sehen, wie glücklich die Menschen hier sind.
Eine andere Besucherin, die in Alltagskleidung erschienen ist, sagt, sie würde gerne das Kunsthandwerk unterstützen und etwas kaufen, doch hätte kaum Gelegenheiten, um solche Kleidung oder Accessoires zu tragen. Sie könne es sich nicht vorstellen, so viel Geld für etwas auszugeben, was sie nur einmal anziehen würde. Dennoch schaue sie sich gerne die Werke der Händler und Aussteller an und findet es gut, dass das Kunsthandwerk hier großgeschrieben wird.
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Convention et métiers très bien expliqués. Bravo