Coronavirus / „Stresstest für jeden Einzelnen“: Psychologe Claus Vögele über die psychischen Folgen der Krise
Seit mehr als einem halben Jahr ist nichts mehr so, wie es war: Nicht nur Luxemburg, sondern die ganze Welt befindet sich im Ausnahmezustand. Ein Gespräch mit dem Psychologen Prof. Dr. Claus Vögele, Leiter des Fachbereichs für Verhaltens- und Kognitionswissenschaften an der Universität Luxemburg, über die psychischen Konsequenzen der letzten Monate und warum die meisten – trotz allem – mit der Situation umgehen können.
Tageblatt: Was macht die Corona-Krise mit dem Menschen?
Claus Vögele: Das Coronavirus und die damit verbundenen Folgen werden vielfache und zumeist negative Folgen für die menschliche Psyche haben. So wie dieses Virus ein kollektiver Stresstest für die Gesellschaft ist, so ist es auch für die Psyche jedes Einzelnen. Corona steigert die empfundene Belastung (Stress), Depressivität und Einsamkeit. Dies zeigt sich deutlich in den bislang analysierten Daten unserer internationalen Befragung aus sechs europäischen Ländern.
Der Großteil der Bevölkerung bekommt das Allerschwierigste immer noch hin: das richtige Maß an Angst zu habenPsychologe
Die Infektionszahlen sind weitaus höher als kurz vor dem Lockdown. Trotzdem gehen wir besser damit um.
Aus der Perspektive des Psychologen ist das absolut verständlich: Das heißt, dass wir uns angepasst haben. Das hat etwas Positives, da es uns in die Lage versetzt, uns vernünftig zu verhalten. Panik ist immer ein schlechter Ratgeber. Trotzdem darf es nicht so weit gehen, dass sich jemand gar nicht mehr betroffen fühlt.
Was passiert, wenn sich jemand gar nicht mehr damit auseinandersetzt?
Das Virus ist unsichtbar. Also kann jeder in seiner Fantasie alles damit anfangen: Die Gefahr kann völlig überhöht werden, dann wird sie zum Horror und lähmt. Oder die Existenz des Virus wird geleugnet, als ähnlich wie eine Grippe abgetan oder als vollständig erfunden betitelt. Dann sind wir bei den Verschwörungstheoretikern. Von einer fachlichen Perspektive her überraschen mich solche Extremreaktionen nicht. Menschen versuchen, mit Bedrohungssituationen so umzugehen, dass es für sie erträglich ist und sie überhaupt noch funktionieren können.
Die meisten Menschen scheinen mit der Situation dennoch mehr oder weniger gut klarzukommen.
Der Großteil der Bevölkerung bekommt das Allerschwierigste immer noch hin: das richtige Maß an Angst zu haben. Ich muss so viel Angst haben, dass ich mich in Acht nehme und mich nicht lähmen lasse. Das ist ganz schön aufwendig und das ist auch das, was müde macht. Und müde sind wir, glaube ich, alle.
Welche psychischen Langzeitfolgen sind zu erwarten?
Das wohl psychologisch Verheerendste an der Corona-Krise sind die damit verbundenen Existenzängste und Unsicherheiten. Für Menschen ist es schwer, Unsicherheiten auszuhalten, denn wir haben ein grundlegendes Bedürfnis nach Konsistenz und Stabilität.
Dazu kommt, dass Menschen, die in Quarantäne sind oder von Ausgangssperren getroffen werden, deutlich mehr unter Einsamkeit leiden als früher oder im Vergleich mit Personen, die innerhalb einer Familie oder Partnerschaft leben. Die Folgen von Einsamkeit sind in der Forschung schon länger bekannt, nämlich erhöhte Erkrankungsraten des Herz-Kreislauf-Systems und vermehrte psychische Störungen, insbesondere Depressionen. Es bedarf keiner großen Fantasie, sich vorzustellen, dass diejenigen, die schon vor Beginn der Pandemie psychisch labil waren, am ehesten von diesen Entwicklungen betroffen sind.
Die Pandemie und ihre Folgen sind etwas noch nie Dagewesenes.
Die derzeitige Belastung, der wir durch Corona ausgesetzt sind, stellt einen Ausnahmezustand dar. Ganz sicher, weil es „neu“ ist, das heißt, wir haben keine Erfahrung mit ähnlichen Situationen. Dazu kommt, dass das Virus eine weitestgehend unsichtbare und möglicherweise tödliche Bedrohung darstellt, für die es bislang weder einen zuverlässigen Schutz noch eine wirksame Behandlung gibt. Dies ist eine der schlimmsten Kombinationen, die man sich vorstellen kann.
Dennoch müssen wir seit März mit dem Virus leben.
Vorläufige Analysen unserer Studie zeigen, dass Ängste und Sorgen über den Verlauf des Sommers nicht weniger geworden sind, sondern deren Inhalte sich verändert haben. Waren es im Frühjahr noch hauptsächlich Infektions- und Erkrankungsängste, standen im Sommer hauptsächlich wirtschaftliche Sorgen und generelle Zukunftsängste im Vordergrund. Mit den jetzt stark ansteigenden Infektionszahlen erwarten wir, dass insgesamt die psychischen Belastungswerte sogar noch höher sein werden als am Anfang der Pandemie.
Tritt bereits eine erste Corona-Müdigkeit auf, die sich auch negativ auf die Stimmung in der Bevölkerung auswirkt?
Ganz sicher. Man sieht das in fast allen Ländern. Die erneuten Lockdown-Maßnahmen werden von vielen Menschen zunehmend kritisch gesehen. Vor allem, weil sie nur ungenügend begründet zu sein scheinen. Das ist zu einem bestimmten Grad auch der Fall: Niemand hat konkrete und deshalb verlässliche Zahlen darüber, welche Lockdown-Maßnahmen besonders wirksam oder unwirksam sind.
Ich denke, die Politiker haben eine sehr schwere Zeit. Sie müssen Entscheidungen auf der Basis höchst unvollständiger Informationen treffen. Beispielsweise wissen wir inzwischen, dass der Hauptübertragungsweg die Aerosole sind. Doch wo das Risiko am höchsten ist, wenn man sich trifft, wissen wir eben nicht.
Wie kann die Politik trotz dieser Ungewissheiten die Einschränkungen durchsetzen?
Gerade jetzt liegt das Schlaglicht auf der korrekten und verständlichen Kommunikation, sonst verlieren wir das Vertrauen der Bevölkerung, und das ist ein hohes Gut. Wenn einem die Bevölkerung nicht mehr glaubt, kann die Politik so viele Maßnahmen beschließen, wie sie will. Sie hat keine Möglichkeiten mehr, diese durchzusetzen. Und dann haben wir verloren.
Wird es, wenn alles überstanden ist, eine große Party geben? Um zu feiern, dass wir die Krise überlebt haben?
Ich denke schon und das wäre nur menschlich und verständlich. Die Coronapandemie nimmt uns gerade die Gemeinsamkeiten, die wir brauchen. Sie macht uns einsam. Gemeinsamkeit bedeutet, entspannt mit Menschen zusammen zu sein. Eine große Party wäre eine gute Idee, weil wir dann endlich wieder entspannt zusammen sein dürfen. Und das dürfen wir jetzt schon seit einem halben Jahr nicht mehr.
Besser mit den Unsicherheiten dieser Zeit umgehen – Hilfestellungen von Claus Vögele:
- Ich bin positiv getestet worden und habe nun Panik: Angst ist normal, Panik hilft nie. Machen Sie sich klar, dass die Sterblichkeitsquote in Luxemburg vergleichsweise niedrig ist, jedenfalls was die Gesamtzahl der bekannten Fälle angeht. Folgen Sie den Empfehlungen und Anweisungen, wie sie auf der Internetseite der Luxemburger Regierung aufgeführt sind. Sie finden dort auch mehrere Telefonnummern, unter denen Sie Hilfe bekommen, auch psychologische Unterstützung, falls die starken Angstgefühle anhalten sollten.
- Ich mache mir ständig Sorgen: Sorgen machen ist normal. Problematisch wird es, wenn dies überhandnimmt. Kontrollieren Sie Ihre Sorgen. Lenken Sie sich ab. Reservieren Sie eine begrenzte Zeitschiene am Tag, während der Sie sich so viele Sorgen machen dürfen, wie Sie wollen. Außerhalb dieser Zeitschiene haben Sorgen in Ihren Gedanken nichts zu suchen und werden, falls sie doch auftauchen, auf die „Sorgenzeit“ verschoben.
- Ich kann mich überhaupt nicht mehr entspannen: Bewegen Sie sich so viel wie möglich. Das ist in der bevorstehenden schlechten Jahreszeit natürlich schwieriger als im Sommer. Trotzdem ist es mit angepasster Kleidung möglich, nach draußen zu gehen, frische Luft zu tanken, den Himmel und die Natur zu sehen und – mit Abstand – andere Menschen.
- Ich fühle mich einsam: Suchen Sie Kontakt zu Ihren Mitmenschen, auch wenn dies nur in derzeit sehr eingeschränktem Maß möglich ist. Digitale Medien sind dabei trotz ihrer begrenzten Kommunikationsmöglichkeiten hilfreich. Telefonieren Sie, tauschen Sie sich über soziale Netzwerke, E-Mail und andere Plattformen aus, schreiben Sie mal wieder einen Brief.
- Ich bin überfordert mit Kindern, Home-Office und Haushalt: Man sollte den Arbeitstag nicht zu lange gestalten und rechtzeitig Feierabend machen. Manche Personen neigen dazu, im Home-Office von einer Pause in die nächste zu stolpern und sich dann spät abends darüber zu grämen, nichts geschafft zu haben. Allerdings sollte man, was Pausen angeht, auch nicht zu streng mit sich sein. Auch im Büro arbeitet man nicht acht Stunden produktiv, sondern unterbricht das konzentrierte Arbeiten mit einem Schwätzchen, trinkt Kaffee, holt das Druckerpapier etc. Trotzdem ist Home-Office kein Urlaub. Geben Sie Ihrem Tag eine feste Struktur mit festgelegten Zeiten, das ist auch für die Menschen in Ihrem Haushalt wichtig, weil sie dann wissen, wann Sie für sie zur Verfügung stehen.
- Ich leide unter häuslicher Gewalt: Informieren Sie die zuständige Behörde und suchen Sie so schnell wie möglich professionelle Unterstützung.
- Ich verstehe mich überhaupt nicht mit meinem Partner in der momentanen Situation: Erlauben Sie sich gegenseitige Freiräume. Es ist eine ungewohnte Situation, die uns im Zusammenleben derzeit aufgezwungen wird. Das unterbricht Alltagsroutinen, die es uns unter normalen Umständen auch erlauben, das Gleichgewicht von Nähe und Distanz zu bewahren. Das ist jetzt plötzlich anders. Machen Sie sich das zusammen mit Ihrem Partner klar und arbeiten Sie gemeinsam an einer Lösung.
Die internationale Befragung
Im April hat die Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Uni Luxemburg damit begonnen, eine großangelegte internationale Befragung in sechs Ländern (Link zur Studie: humanities.uni.lu/virtual-faculty/how-do-different-confinement-measures-affect-people-across-europe) durchzuführen. Die teilnehmenden Länder wurden nach dem Kriterium ausgewählt, dass die Lockdown-Regulierungen unterschiedlich ausgeprägt sind: Italien, Spanien, Luxemburg, Deutschland, Frankreich und Schweden. Im Augenblick läuft die dritte Befragungswelle. Pro Land sind es zwischen 1.000 und 1.300 Teilnehmer.
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