Naturschutz / Streuobstwiesen sind erhaltenswerte, sensible Ökosysteme, die zum Kulturgut gehören
Die meiste Beachtung erfahren Streuobstwiesen, wenn gestresste und naturhungrige Zeitgenossen nach einer Oase der Ruhe suchen. In Reiseführern taucht an der Stelle das Wort „idyllisch“ auf. Die Ökosysteme gehören zum Kulturgut, sind pflegeintensiv und werden immer seltener. Wohl auch deshalb hat das Naturschutzsyndikat Sicona es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu erhalten.
An diesem Tag liegt dichter Nebel über der Streuobstwiese nahe dem Reitzentrum in Kehlen. Knorrige Äste ragen an den von Wind und Wetter gebeugten Bäumen in die Höhe. Es sind die „Seniors“ unter den Obstbäumen. Die jungen, neu gepflanzten haben einen Schutz aus Holz um sich herum. Eigentlich ist das kein Wetter, um draußen zu arbeiten, aber in den „Bongerten“ gibt es gerade zwischen Oktober und März viel Arbeit.
Trotz Nieselregen schneiden drei Mitarbeiter des Sicona auf Leitern die Bäume auf dem Privatgelände, das das Syndikat in Schuss hält. Gut gepflegt, erreichen die Bäume ein Methusalem-Alter von 100 Jahren. Ökosysteme wie das knapp einen Hektar große in Kehlen mit rund 70 Apfel-, Birnen-, Mirabellen- und Kirschbäumen werden immer seltener. Rund eine Million solcher Bäume sind allein in den letzten 90 Jahren des letzten Jahrhunderts verschwunden.
1902 gibt es landesweit noch rund 1,2 Millionen hochstämmige Obstbäume, wie eine Zählung der damaligen Agrarverwaltung ergibt. Etwas mehr als 90 Jahre später zählt die Naturschutzorganisation „natur&ëmwelt“ nur noch rund 250.000. Das war 1993. Am Rückgang der „Bongerten” zeigen sich nicht nur die Konsequenzen der heutigen Dienstleistungsgesellschaften, sondern auch das Dilemma des Artenschwundes.
Chancenlos gegen Konkurrenz der Supermärkte
Dienstleistung und Wohlstand halten Einzug. „Seit die Menschen in den Supermärkten zu jeder Jahreszeit Obst bekommen, ist das Interesse daran, Obstbäume im Garten oder eigene Streuobstwiesen zu pflegen, gesunken“, sagt Fernand Klopp (59). Der Agraringenieur ist Leiter des Gemeindesyndikats Sicona Südwest, dem 21 Gemeinden angehören.
Hinzu kommt der Aktionismus in der Agrarpolitik der EU mit langfristigen Folgen. Neben den „Butterbergen” gibt es in den 70er Jahren fast gleichzeitig ein Überangebot an Obst. Die damalige EWG gewährt Prämien für die Abholzung von Obstbäumen, um den Preisverfall einzudämmen. Tausende Bäume verschwinden und mit ihnen Tierarten wie Siebenschläfer, Spechte oder Steinkäuze.
1999, als das Syndikat das Streuobstwiesenprogramm beginnt, gibt es gerade mal noch sieben Steinkäuze auf dem Gebiet des Sicona Südwest. „Sie waren praktisch ausgestorben“, sagt Präsident Klopp. Zwar installieren die Mitarbeiter 450 Nistkästen auf dem Gebiet der Mitgliedsgemeinden, aber ohne den natürlichen Lebensraum bleiben Maßnahmen wie diese nutzlos. 500 Obstbäume pflanzt das Sicona in den Folgejahren durchschnittlich pro Jahr im Südwesten des Landes an.
Gute Bilanz: 17.000 neu gepflanzte Obstbäume
Klopp kommt auf rund 17.000 neue Bäume insgesamt und mittlerweile 21 Steinkautzpaare, die sich angesiedelt haben. Die Obstsorten sind heimisch und haben so klingende Namen wie „Lëtzebuerger Renette, Hedelfinger Riesenkirsche oder große schwarze Knorpel“. Ihre Früchte sind in Zeiten erhöhter Sensibilität für den Naturschutz ein Nebeneffekt. Früher war die Selbstversorgung mit Obst unersetzlicher Teil der Lebensmittelsicherheit und Import oder Anbau auf großflächigen Plantagen unüblich.
„Das Obst gehört den Eigentümern der Gelände, die wir pflegen”, sagt Klopp. In Kehlen kommen die Früchte in die Brennerei, um aus ihnen hochprozentige Digestifs herzustellen. Das Gemeindesyndikat hat eine Konvention mit den beiden Besitzern über die Pflege des Geländes geschlossen. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass es in Luxemburg an Obst- und Gemüsebauern fehlt, um die Bevölkerung zu versorgen.
Nur zwei Prozent des Obstkonsums werden aus landeseigenen Betrieben gedeckt, der Rest wird importiert. Eine Steigerung der heimischen Produktion auf 25 Prozent liegt aber im Rahmen des Möglichen. Das zumindest konstatierte die neue Landwirtschaftsministerin Martine Hansen (CSV) noch im Januar dieses Jahres anlässlich einer Debatte zum Thema im Parlament – damals noch als einfache Abgeordnete.
Wenn es um die Bedeutung der Streuobstwiesen geht, kommt ihnen aber noch eine andere Bedeutung zu. Sicona-Präsident Klopp betont deren Rolle in der Landschaftsästhetik. Beim Anblick der im Nebel schwarz schimmernden Naturwunder, die sich in gebührendem Abstand auf dem saftigen Grün hintereinander reihen, ist klar, was er meint.
An ein mittelfristiges Revival der „Bongerten“ angesichts der Nachfrage nach saisonalen und regionalen Produkten glaubt der Agraringenieur jedoch nicht. „Auf die Zahl von 1,2 Millionen Obstbäumen wie früher werden wir nie mehr kommen“, sagt er. „Die Nachfrage bleibt ein Trend, eine Explosion wird das nicht.“
Gemeindesyndikat Sicona
Das Gemeindesyndikat, bestehend aus den Sektionen Südwest und Zentrum, beschäftigt rund 75 Mitarbeiter. Davon sind 25 mit Gartenarbeiten betraut, sechs davon sind spezialisiert auf Streuobstwiesen und deren Pflege. Das Syndikat schließt seit 2009 Konventionen mit den Besitzern zur Pflege der Bäume und unterstützt aktiv die Renaturierung von Flüssen und Bächen sowie das Anlegen von Weihern in den Mitgliedsgemeinden. Es ist Anlaufstelle für Beratungen zum neuen „Naturpakt“-Gesetz.
Obstbäume und der Schnitt
Die ersten Jahre sind die aufwendigsten in der Pflege. „Pflanzschnitt” heißt der erste Schnitt an gerade gepflanzten, jungen Bäumen. Ein Stammast und vier „Leitäste” rundherum, die möglichst in einem Winkel von 60 Grad vom Hauptstamm abzweigen, ist das Optimum. Die beste Pflanzzeit ist der Herbst. „Da haben die Bäume noch genug Wasser, um anzukommen und Wurzeln auszutreiben”, erklärt Fernand Hoss, Vorarbeiter vom Sicona-„Service technique“ mit einem Meisterbrief als Landschaftsgärtner. „Danach geht es darum, dass die Krone erhalten bleibt“, sagt er. „Sie muss stabil sein.“
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