Drogenpolitik / Stütze in der Pandemie: „Abrigado“ bietet ein sicheres Umfeld in schwierigen Zeiten
Bonneweg und das Bahnhofsviertel gelten als sozialer Brennpunkt der Stadt Luxemburg. Mittendrin steht das Drogenhilfezentrum „Abrigado“, das Drogenabhängigen einen Zufluchtsort bietet, in dem sie den täglichen Strapazen entfliehen können und ihnen ein Weg aus der Misere geboten wird. Die Drogenkonsumenten können sich mittlerweile auch ganz ohne bürokratische Hürden impfen lassen. Das Tageblatt hat den Direktor des „Comité national de défense sociale“ (CNDS), Raoul Schaaf, bei einem Rundgang durch das Zentrum begleitet.
Das aus Containern zusammengesetzte Drogenhilfezentrum in Bonneweg wirkt im strömenden Regen noch freudloser als sonst. Andauernde Bauarbeiten auf der Rocade, der Lärm der Baumaschinen und vorbeifahrende Autos, die das schmutzige Fahrbahnwasser aufwirbeln, komplettieren das Bild am Rande des Bahnhofviertels. Dabei ist der scheinbar triste Containerbau oftmals die einzige Stütze für die sozial Schwächeren bei der Bewältigung ihres Alltags. Raoul Schaaf, Direktor des CNDS, der Trägerorganisation von „Abrigado“, bleibt kurz zur Begrüßung vor dem Zentrum stehen und eilt dann sogleich zur Eingangstür, vorbei an Konsumenten, die auf den Einlass warten.
Im Trockenen angelangt erklärt er die Mission des Drogenhilfezentrums: „Wir verstehen uns als akzeptanzorientiertes Angebot. Wir bieten mit unserem Drogenkonsumraum ein vergleichsweise sicheres und vor allem sauberes Umfeld, in dem unsere Klienten Drogen konsumieren können.“ Nebenher biete das Zentrum den Drogenabhängigen aber auch Hilfe an, um sie von ihrer Sucht zu befreien, wenn diese das denn möchten. „Niemand, der durch unsere Tür schreitet, ist freiwillig in dieses Umfeld geraten“, weiß Schaaf.
Der Eingang ins „Abrigado“ führt direkt ins Kontakt-Café, in dem sich die Drogenkonsumenten unbeschwert ausruhen können. „Einige schlurfen hier rein und schlafen – geprägt von den Strapazen der Nacht – direkt auf der Couch ein“, erzählt Raoul Schaaf. Momentan sitzen die Mitarbeiter zusammen, ein Team-Meeting steht an, bevor die Türen geöffnet werden. Das Café besteht aus einigen Tischen und Stühlen, ein Schachbrett sticht auf Anhieb hervor. Direkt ans Kontakt-Café angegliedert ist das Büro der Sozialarbeiter, die die Konsumenten bei Bedarf beraten und orientieren. Das passiere aber nur auf Wunsch des Konsumenten, führt Schaaf aus. „Wir wollen niemanden in seiner Entscheidung bedrängen.“ Wenn jemand nur herkommen möchte, um seine Drogen zu konsumieren, sei das auch okay. Währenddessen führt Schaaf an einer blauen Wand aus kleinen Schließfächern, die als Sichtschutz dienen sollen, vorbei in den Drogenkonsumraum.
Aufgereiht an einer Spiegelwand stehen mehrere Stühle an kleinen Edelstahltischen, die durch eine kleine Wand in mehrere Abteile unterteilt sind. Kleine Vorhänge bieten den Konsumenten die gewünschte Privatsphäre bei der Injektion. Hinter den Abteilen ist ein Beobachtungsraum, der stets von zwei Mitarbeitern besetzt ist. „Pro Monat haben wir durchschnittlich eineinhalb Überdosen. Durch die permanente Aufsicht ist in den letzten 15 Jahren aber keiner mehr an einer Überdosis gestorben“, erklärt Schaaf die Beobachtung durch das Personal. Im Beobachtungsraum werden auch die Utensilien aufbewahrt, die den Konsumenten zur Verfügung gestellt werden.
Offene Tür
Während der Pandemie ist der Fluss an Konsumenten nicht abgerissen – im Gegenteil. „Wir mussten die Plätze im Konsumraum reduzieren, aber unsere Türen wurden nicht komplett geschlossen“, sagt Schaaf. Gerade in Zeiten, in denen alles geschlossen hatte, war die offene Tür im „Abrigado“ umso wichtiger. „Wir hatten großes Glück, da die Küche im Verwaltungssitz des Europäischen Parlamentes – das zu dem Zeitpunkt nicht mehr in Luxemburg tagte – jeden Tag 150 Verpflegungstüten bereitstellte, die wir verteilen konnten. Außenminister Jean Asselborn hatte da wohl seine Finger im Spiel“, erzählt Schaaf vom Glücksfall während der Pandemie. Ob das zu einem dauerhaften Angebot werden könnte? „Nein, wir wollen keine Abhängigkeit von unserer Struktur schaffen“, sagt Raoul Schaaf.
Eine Injektion stellt unabhängig von der gespritzten Droge weitere Gefahren dar. „Beim Versuch, die Vene zu treffen, zerfetzen die Konsumenten häufig das umliegende Gewebe und verletzen ihre Knochen. Das endet häufig in schweren Wundinfektionen und kann im schlimmsten Fall zu einer Amputation von Gliedmaßen führen“, berichtet der CNDS-Direktor, während er einen Venenscanner herbeizieht, der es den Drogenkonsumenten ermöglichen soll, die Vene direkt zu treffen, ohne dass sie sich weiter verletzen.
Besonders den Frauen stehe man bei der Injektion zur Seite, um sie von ihren oft männlichen Begleitern nicht noch abhängiger zu machen. „Der männliche Begleiter fungiert auf der Straße oft als Beschützer, der die Frau zur Geldbeschaffung prostituiert. Neben der Drogensucht wollen wir die Frau nicht noch beim Konsum von einer weiteren Person abhängig machen“, erklärt Schaaf das Konzept.
Direkt neben dem Drogenkonsumraum befindet sich eine kleine Krankenstation, in der dicht gedrängt eine Liege, ein Büro, zwei Hocker und eine Unmenge an medizinischem Material lagern. Teilweise 30 Personen am Tag werden hier behandelt. Oftmals müssen hier Wunden gereinigt werden, die von einer fehlerhaften Injektion herrühren. „Wir haben der Universität Luxemburg schon angeboten, dass Medizinstudenten ein Praktikum bei uns machen können. Hier werden Verletzungen behandelt, die durch die besonders prekären hygienischen Verhältnisse, in denen sich die Drogenkonsumenten ihre Spritzen setzen und die man sonst nirgendwo so sieht, geprägt sind“, sagt Schaaf.
Kurz vor dem ersten Corona-Lockdown startete „Abrigado“ ein Pilotprojekt, wo Heroinsüchtige und Kokainabhängige Ersatzmedikamente erhalten. 70 Leute nahmen es bereits in Anspruch, 30 Abhängige profitieren jetzt regelmäßig davon. „Das Programm wurde mit dem Gesundheitsministerium innerhalb eines Monates aufgesetzt und ist ein voller Erfolg“, freut sich der CNDS-Direktor über das zusätzliche Angebot, das die Leute offener für Therapieangebote mache. „Insgesamt funktioniert die Koordination mit den Behörden vor Ort relativ unkompliziert. Wir haben ja alle den gleichen Antrieb“, meint Schaaf.
Der Weg zu den Schlafquartieren führt an streng überwachten Toiletten- und Duschräumen vorbei. „Die sollen nicht als zweiter Konsumraum missbraucht werden“, sagt Schaaf. Aus einem Raum breiten sich eindringliche Düfte auf den Gang aus, die selbst durch die Maske wahrgenommen werden können. „Unser Akupunktur-Raum“, klärt Schaaf auf, während er die Tür aufschließt. Das Innere sieht aus wie der Ruhebereich in einem Wellnesshotel. „Akupunktur kann die Drogensucht nicht heilen, kann aber die Sucht lindern“, sagt Schaaf über das ungewöhnliche Angebot. Zudem biete der Raum vielen Drogenkonsumenten den einzigen Zufluchtsort, in dem sie für 30 Minuten am Tag ungestört sein können.
Impfangebot für Drogenkonsumenten
Über 42 Schlafbetten verfügt das Drogenhilfezentrum, davon werden zwölf ausschließlich der weiblichen Klientel vorenthalten. „Der Konsum ist hier absolut verboten“, verweist Schaaf auf die strengen Regeln, während wir durch die einzelnen Zimmer schreiten. Nicht ohne Stolz zeigt er auf die neu installierten Klimaanlagen und die Luftfilteranlagen in jedem Zimmer. „Die Anschaffung war lange kompliziert – während einer Pandemie aber plötzlich kein Problem mehr“, meint er mit einem verschmitzten Lächeln unter der Maske. Vorher sei im Sommer die Temperatur in den Containern auf bis zu 50 Grad gestiegen – und die Drogenkonsumenten seien wieder auf der Straße gelandet. Insgesamt aber geht es nachts sehr friedlich zu. „Wir brauchen keine Rausschmeißer, sondern Reinschmeißer“, witzelt Schaaf. Die „Reinschmeißer“ sind übrigens vollends ins Team integriert. „Sie nehmen an unseren Teamsitzungen teil wie auch unsere Erzieher, Sozialarbeiter und Krankenschwestern“, ist der Direktor voll des Lobes für die „Abrigado“-Brigade.
Auf dem Weg zum Ausgang ereilt das Team um Schaaf eine weitere gute Nachricht: Im „Abrigado“ soll den Drogenkonsumenten ein Impfangebot unterbreitet werden. „Dafür haben wir lange gekämpft“, sagt Schaaf sichtlich erfreut. Dabei habe es vor allen an bürokratischen Hürden gelegen. „Für die Impfung in Luxemburg braucht der zu Impfende eine Sozialversicherungsnummer und einen Personalausweis – beides Dokumente, die obdachlose Drogenkonsumenten oftmals nicht haben“, erklärt Raoul Schaaf. Nun soll das Johnson-Vakzin bereitgestellt werden – „denn wir können nicht garantieren, dass wir die Geimpften für eine zweite Dosis wiedersehen werden.“
Zum Schluss der Visite kommt Schaaf auch auf die Drogenpolitik der Regierung zu sprechen. „Ich habe die Debatte am Mittwoch im Parlament natürlich verfolgt“, sagt Schaaf. Mit einem gewissen Unverständnis habe er die Forderung aufgenommen, dass die Drogenproblematik zusammen in der Großregion angegangen werden solle. „Wir haben gerade ein Drogenhilfezentrum in Paris beraten, Mitarbeiter eines Drogenkonsumraums in Lüttich wurden bei uns ausgebildet“, zählt Schaaf auf. „Wir sind längst in der Großregion aktiv.“ Forderungen, dass das Zentrum in Bonneweg geschlossen werden solle und sich die Drogenproblematik in dem Viertel dann schon löse, hält er für komplett unsinnig. „Im Gegenteil, die Bewohner der umliegenden Viertel sind froh, dass wir diese Menschen auffangen und aus den Wohnvierteln herausbekommen“, bekräftigt Schaaf energisch. Umso mehr schätze er es, wenn Politiker sich die Arbeit vor Ort anschauen. „Ein Politiker der Stadt Luxemburg war für einen ganzen Tag zu Besuch. Am Ende des Tages hat er gesagt, dass er vor allem eins hier gelernt habe: Bescheidenheit.“
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Niemand, der durch unsere Tür schreitet, ist freiwillig in dieses Umfeld geraten laut Herrn Schaaf
Wurden denn alle dazu gezwungen?????