Verteidigung / Tag der halb offenen Tür: Die NATO und ihre Unterstützung für die Ukraine
Die Ukraine wird mit einer NATO-Mitgliedschaft noch vertröstet, doch die Staats- und Regierungschefs der Allianz schnüren für Präsident Wolodymyr Selenskyj ein umfassendes militärisches Unterstützungspaket.
Wolodymyr Selenskyj hat es jetzt schwarz auf weiß. Er geht auch nicht mit leeren Händen. Dafür hat Joe Biden sogar die Faust geballt. Jawohl, die Ukraine werde gewinnen, hat der US-Präsident gerufen. Was im Umkehrschluss wiederum bedeutet: Wladimir Putin werde nicht gewinnen. Selenskyj wird es registriert haben.
Zu Hause in Kiew braucht sein Finanzminister Geld, jeden Euro und jeden US-Dollar – und das Land braucht jede Unterstützung. Dafür hat ihm die NATO ein Paket geschnürt. Die Verbündeten verpflichten sich, der Ukraine erst einmal nächstes Jahr militärische Unterstützung im Wert von 40 Milliarden Euro bereitzustellen. 40 Milliarden Euro sollen dabei die „Untergrenze“ sein, formuliert NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg dieses Mindestziel. Stoltenberg hatte allerdings auf eine mehrjährige Zusage der Verbündeten gehofft. Zusätzlich baut die NATO in Wiesbaden eigens zur Unterstützung der Ukraine ein neues Hauptquartier mit 700 Soldaten auf, das Militärhilfe und Training für das angegriffene Land koordinieren soll. Die NATO drückt auch deshalb aufs Tempo, weil niemand weiß, wie es im Bündnis aussehen wird, sollte Donald Trump im November ein zweites Mal zum US-Präsidenten gewählt werden. Also lieber jetzt Nägel mit Köpfen machen. Selenskyj muss nehmen, was er kriegen kann. Und er bekommt etwas: weitere Hilfe zur Flugabwehr gegen russische Bomben und Kampfjets.
Bereits vor einem Jahr war der ukrainische Präsident Gast des NATO-Gipfels, damals noch in seiner Nachbarschaft. Während des Treffens der Staats- und Regierungschefs in der litauischen Hauptstadt Vilnius sprach Selenskyj ferner vor Tausenden Zuhörern unter freiem Himmel über etwas, was die Menschen im Baltikum mühelos verstanden haben. Über den Freiheitskampf seines Volkes gegen den Aggressor Russland. Angst, ihre Freiheit wieder zu verlieren und von Russland unterdrückt zu werden, haben die Balten bis heute.
Keine Einladung zum NATO-Beitritt
Ein Jahr später sitzt Selenskyj wieder als Gast im Kreis der NATO-Staats- und Regierungschefs. Dieses Mal ist er dafür über den Atlantik geflogen. Als Selenskyj den Sitzungssaal betritt, Hände schüttelt, Zusagen einsammelt, hat die NATO ihren Festakt zur Gründung der Allianz vor 75 Jahren am Abend des ersten Gipfeltages bereits hinter sich. Biden hat da als Gastgeber versucht, Selenskyj und seinen Landsleuten Mut zu machen: „Die Ukraine kann und wird Putin stoppen.“ Dessen Plan sei ohnehin, die Ukraine von der Landkarte verschwinden zu lassen.
Wenn die Planer dieses historischen Gipfels zum 75. Geburtstag der Allianz die Dramatik der Lage tatsächlich musikalisch untermalen wollten, haben sie die richtige Musik gewählt. Ins internationale Pressezentrum wird über Lautsprecher stundenlang Musik wie aus einem Western eingespielt, ganz so, als würde gleich John Wayne mit seiner Kavallerie oder einer bewaffneten Bürgerwehr einreiten, um endlich für Gerechtigkeit zu sorgen. Dabei taugt die Lage in der Ukraine eher für ein Drama. Cowboys gegen Putin? Damit wäre Selenskyj nicht geholfen. Er braucht die Waffen des 21. Jahrhunderts. Und die soll er jetzt bekommen: Luftabwehrsysteme, Kampfjets, Munition, Artillerie. Der Kampf seines Landes geht weiter. Biden oder auch der scheidende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonen beinahe trotzig: „Die Ukraine wird gewinnen.“ Dabei ist sicher auch ein gutes Stück Autosuggestion dabei. Das Bündnis muss an den eigenen Plan glauben, die Verbündeten stehen demonstrativ zusammen und an der Seite des unterdrückten Landes – „solange wie die Ukraine Unterstützung braucht, werden wir sie geben“, betonen mehrere Staats- und Regierungschefs. „Es ist schrecklich, aber es geht darum, Muskeln zu zeigen, um dem anderen – ich will nicht sagen Angst zu machen – zu beweisen, dass wir ihn nicht einfach machen lassen“, sagt Vizepremierminister Xavier Bettel am Rande des Gipfels gegenüber RTL.
Selenskyj hört es gerne, wenn etwa NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ankündigt, die Ukraine werde ein „substanzielles Paket“ für Sicherheit bekommen. Darin seien neue bilaterale Abkommen und weitere militärische Hilfe enthalten. Das von der Ukraine erhoffte Gipfelgeschenk kann Selenskyj aber nicht mit auf den Heimflug nach Kiew nehmen: eine Einladung zum NATO-Beitritt. Stoltenberg verweist darauf, dass es für die Aufnahme eines neuen Landes ins Bündnis Einstimmigkeit in der Runde der 32 Mitglieder brauche. Vor allem die USA und Deutschland bremsen hier, weil die eherne Regel gilt: Kein Land im Krieg soll ins Bündnis aufgenommen werden. Aber: „Die Ukraine rückt näher und näher an die NATO heran.“ Ihren Weg zum Beitritt erklärt die NATO für „irreversibel“. Damit ist dieser Gipfel für Selenskyj gewissermaßen auch ein Tag der halb offenen Tür. Er muss warten, bis sich diese Tür ganz öffnet. Wie hatte Stoltenberg noch gesagt? „Die NATO ist wie eine Ehe. Man muss jeden Tag dafür etwas tun.“ Selenskyj würde das Aufgebot gerne schon bestellen. Aber das alliierte Standesamt ist nicht besetzt. Noch nicht.
Empörung aus Russland und China
Die Zusicherung der NATO, dass sich die Ukraine auf einem „unumkehrbaren Weg“ in das Militärbündnis befindet, hat eine scharfe Reaktion in Moskau hervorgerufen. Der Kreml sprach am Donnerstag von einer „sehr ernsten Bedrohung“ für Russland und kündigte Gegenmaßnahmen an. Russland habe schon immer gesagt, dass eine Aufnahme der Ukraine in die NATO „eine inakzeptable Bedrohung für uns darstellt“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen. Nun habe die NATO ein Dokument verabschiedet, „das besagt, dass die Ukraine der NATO endgültig beitreten wird“. Russland werde die Entscheidungen und die Erklärung des NATO-Gipfels in Washington „sehr genau analysieren“ und „durchdachte, koordinierte und effektive Maßnahmen ergreifen, um die NATO einzudämmen“, sagte Peskow. Er machte keine Angaben dazu, um welche Maßnahmen es sich handeln könnte und wann diese ergriffen werden sollen.
Bei ihrem Gipfel kritisierte die NATO außerdem China in ungewöhnlich scharfer Form wegen seiner Unterstützung für Russland im Ukraine-Krieg. China sei aufgrund seiner „grenzenlosen Partnerschaft“ mit Russland zu einem „entscheidenden Befähiger“ des russischen Angriffskriegs geworden, hieß es in der Gipfelerklärung. Die „immer enger werdende strategische Partnerschaft zwischen Russland und China“ gebe Anlass zu „großer Sorge“. Die NATO-Staaten riefen Peking auf, „jegliche materielle und politische Unterstützung“ für Russlands Angriffskrieg einzustellen. China wies die Anschuldigungen der NATO zurück. Die Allianz solle aufhören, die „sogenannte Bedrohung durch China hochzuspielen und Konfrontation und Rivalität zu provozieren“, erklärte ein Sprecher der chinesischen Mission bei der EU am Donnerstag. Es sei allgemein bekannt, „dass China nicht der Verursacher der Ukraine-Krise ist“. Der chinesische Außenamtssprecher Lin Jian nannte die Äußerungen der NATO „ungerechtfertigt und bösartig“. China stellt sich mit Blick auf den Ukraine-Krieg als neutraler Akteur dar und betont, keine Waffen an Russland zu liefern. Gleichzeitig halten China und Belarus ein Manöver an der Grenze zu Polen ab. Die Militärübungen in direkter Nähe zum NATO-Gebiet fallen in eine Zeit wachsender Spannungen zwischen Peking und der westlichen Allianz. Die gemeinsamen Übungen fänden in der belarussischen Grenzstadt Brest statt, teilte das chinesische Verteidigungsministerium am Mittwoch mit. Das Manöver mit dem Namen „Falkenangriff 2024“ startete demnach am Montag und soll bis Mitte Juli dauern. Angaben aus Minsk zufolge handelt es sich um ein „Anti-Terror-Manöver“. Wie viele Soldaten daran teilnehmen, wurde nicht bekannt.
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