/ Takis Würgers „Stella“ – Wie aus einem durchschnittlichen Roman ein Medienskandal wurde
Takis Würgers zweiter Roman „Stella“ liest sich wie ein Drehbuch und setzt dabei auf einen minimalistischen Stil, aus dem sich bedeutungs- schwangere Sätze etwas wichtigtuerisch heraus- schälen. Um zu verstehen, wieso der Roman um Stella Goldschlag – eine jüdische „Greiferin“, die dazu gezwungen wurde, andere Juden zu denunzieren – trotzdem so hohe Wellen schlägt, muss man den soziohistorischen Kontext begreifen, die Grenzen künstlerischer Freiheit ergründen und die Debatte in den literarischen Kontext der historiografischen Fiktion setzen.
Ein dickes Fell muss sich der Spiegel-Journalist und Schriftsteller Takis Würger in den letzten Wochen zugelegt haben, wenn er die Tagespresse gelesen und die Reaktionen auf seinen Roman „Stella“ verfolgt haben sollte. „Stella“ soll „Holocaust-Kitsch“ sein, Jan Süselbeck schreibt in der Zeit: „Es kommt schnell der Verdacht auf, dass dem Autor überhaupt nicht bewusst war, wie heikel sein Thema angeblicher jüdischer Schuld im Holocaust ist. Solchen Fragen sollte man zumindest nicht mit stilistischen Fingerübungen beizukommen versuchen, wie man sie in der Journalistenschule lernt.“ In der linken Wochenzeitung Jungle World meint Philipp Dinkelaker, Würger „klamüsiere (…) eine Handlung aus verruchten jüdischen Verführerinnen, koksenden Nazis und einer Portion Berlin-Kolorit zusammen“, anstatt „das, was über Stella Goldschlag bekannt ist, zu verarbeiten“.
Dabei hat Würger im Landesarchiv Berlin recherchiert und eine Auswahl von Zeugenaussagen, die gegen Stella Goldschlag im Rahmen eines sowjetischen Militärtribunals vorgelegt wurden, ans Ende jedes Kapitels gestellt – mit dem impliziten Ziel, seinem Roman einen Mehrwert an Authentizität zu geben.
Stella Goldschlag denunzierte fast 300 Berliner Juden, weil sie von der Gestapo erpresst wurde – diese drohte, Stellas Eltern in ein KZ zu deportieren. Sie ist die historische Figur, die im Zentrum von Würgers Roman – und folglich im Herzen der Debatte um das Werk – steht. „Warum sie weiter Juden jagte, nachdem ihre Eltern vergast worden waren, erklärte sie nie“, schreibt Würger in seinem Epilog, der – wie in fast jedem mittelmäßigen Film, der den Anspruch erhebt, auf wahren Begebenheiten zu beruhen – das weitere Schicksal seiner Figuren in kurzen, inhaltsschweren Einblenden erläutert.
Die Frage der Empathie
Wie Dinkelaker es aber nahelegt, reicht es nicht aus, ein paar Zeitdokumente über einen Roman zu verteilen, um eine aussagekräftige historiografische Fiktion zu schreiben. Indem Würger die Geschehnisse aus der Perspektive eines jungen, fiktionalen Ich-Erzählers, der wenig begreift, schildert, erschwert er das Einfühlungsvermögen in die Figur von Stella Goldschlag, die so wirkt, als würde sie für seinen Bildungsroman zweckentfremdet.
Ein Vorteil der Fiktion gegenüber dem historiografischen Schreiben liegt darin, dass es dem Autor da, wo der Historiograf stets nur aufgrund seiner vorhandenen Dokumente über Beweggründe für Handlungen spekulieren kann, möglich ist, das Innenleben seiner fiktionalen Gestalten zu beleuchten. Die Fiktion gibt einen Einblick in mögliche psychophysische Zustände und Beweggründe und ermöglicht dadurch Empathie.
Hier lässt sich eine erste Unzulänglichkeit des Romans feststellen: Würger bevorzugt kurze Aussagen, um mit minimalen Mitteln maximale Bedeutung zu erreichen. Dabei ist ebendieses minimalistische Pathos fehl am Platz, weil es den Eindruck eines desinteressierten Autors, der nicht einmal versucht, die Motivationen seiner Figur zu ergründen, vermittelt: Wenn Stella Goldschlag später weiterhin Juden denunziert hat, dann vielleicht aus einem ganz menschlichen Selbsterhaltungstrieb.
Ärgerliche Plattitüden
Dass wir die Motivationsgründe unserer Mitmenschen letztendlich nie kennen werden – was Proust in seiner „Recherche“ fabelhaft zeigt –, mag Teil des narrativ-semantischen Projekts von „Stella“ sein – aber Würger thematisiert dies stets bloß mit ärgerlichen Plattitüden.
So erfindet Würger in „Stella“ einen schweizerischen Ich-Erzähler, dessen romanhafte Kindheit in knappen Sätzen geschildert wird. Friedrichs Kindheit ist von bedeutungsschwangeren Ereignissen (er rettet einen Ziegenbock, ein aggressiver Fremder fügt ihm eine Narbe zu, die ihn farbenblind macht), einem verständnisvollen Vater und einer antisemitischen, alkoholkranken und kunstaffinen Mutter gezeichnet (wie würden fiktionale Nazis wohl dargestellt werden, wenn Hitler nicht versucht hätte, eine Kunstakademie zu besuchen, sondern in einem Pferdestall gearbeitet hätte?) Als er sich ins Naziberlin begibt, um dort Künstler zu werden, lernt er das Aktmodell Kristin (Stella Goldschlags Pseudonym) und den jazzaffinen Exzentriker Tristan von Appen kennen.
Die drei besuchen Jazz-Klubs, eine Ménage-à-trois deutet sich an, doch der naive Erzähler fällt aus allen Wolken, als seine Liebhaberin preisgibt, ihm nur die halbe Wahrheit über ihr Leben erzählt zu haben. Als er zudem herausfindet, dass sein Freund Von Appen Obersturmbannführer ist, zerbröckelt seine verklärte Vorstellung von Deutschland endgültig.
Die Grenzen der Kunstfreiheit
Würger wird nicht nur vorgeworfen, einen schlechten, kitschigen Roman über den Holocaust verfasst zu haben: Mittlerweile wird auch behauptet, er habe das Andenken Verstorbener verunglimpft – weshalb ihm ein Prozess droht. Anwalt Karl Alich vertritt die Witwe des Historikers Ferdinand Kroh, dem Stella Goldschlag ihre Persönlichkeitsrechte übertrug. In dieser Frage über die Grenzen der Kunstfreiheit in Bezug auf das Persönlichkeitsrecht denkt man unweigerlich an Milo Rau, der selbst nicht davor zurückscheut, historische oder soziale Traumata in seinem Theater aufzuarbeiten – wovon seine Stücke über kongolesische Massaker oder den Ruanda-Genozid zeugen.
Bei Rau spürt man aber jederzeit einen ethischen Metarahmen, der die Darstellung problematisiert und so versucht, das, was er den „Kapitalismus des Leidens“ nennt – also die wirtschaftliche Ausbeutung von Traumata in Kunstwerken –, zu vermeiden. Rau, der sich vorwiegend Aktualitätsthemen annimmt und die Überlebenden manchmal direkt auf die Bühne stellt, weiß, dass man sich als Künstler in den 10er-Jahren nicht kurzerhand und kommentarlos eines Tabubruchs annehmen kann. Eine junge Generation an Schriftstellern stellt sich diese Fragen heute offenbar nicht – und hier liegt eigentlich auch schon der wunde Punkt von Würgers Roman.
Im Rampenlicht verrissen
Bereits 2014 schrieb David Foenkinos mit „Charlotte“ einen pathosgeladenen Versroman über die Malerin Charlotte Salomon, dem man den respektlosen Umgang zugunsten von Effekthascherei und einer kommerziellen Ausschlachtung ebenso vorwerfen konnte – nur hat Foenkinos’ Roman weniger Wellen geschlagen, was vielleicht auch zeigt, dass das Thema in Deutschland heikler ist, dass Würgers Schwerpunkt (die Frage nach der möglichen Schuld von Stella) problematischer ist und dass „Stella“ vielleicht auch regelrecht im Rampenlicht verrissen wird, weil dahinter ein raffinierter Marketingprozess steckt.
In dem undurchdringlichen Knoten an Polemiken, in dem Themen wie Vergangenheitsbewältigung und literarische Lizenz, die Diskrepanz zwischen der Ablehnung der Literaturkritiker und dem Publikum, das dabei ist, „Stella“ zu einem Bestseller zu machen, aufeinanderprallen, bleibt vor allem die Frage: Welche ethische Verpflichtungen geht ein Schriftsteller ein, wenn er ein historisch sensibles Thema in sein Werk verwebt? Und ab wann ist die schriftstellerische Freiheit bloß ein Vorwand, um Archivmaterial als fiktionales Dekor zu nutzen?
Denn irgendwie wirkt es in der Tat so, als habe Würger Adornos Frage nach der Möglichkeitsbedingung von Post-Holocaust-Literatur mit jugendlichem Leichtsinn und gleichgültigem Schulterzucken beantwortet – und stur seine Liebesgeschichte mit Kriegsdekor weiterverfasst.
Wieso überhaupt Fiktion?
Man gewinnt zudem den Eindruck, Würger würde dem aktuellen Trend von Faktennotwendigkeit in der Fiktion folgen. Dieser Trend folgt der latenten Argumentierung, die Wirklichkeit würde momentan viel zu dringliche Fragen aufwerfen, um sich im Reich der puren Fiktion zu verlieren. „Stella“ fehlt jedoch jene Dringlichkeit, die man sich von jedem guten Roman – und zumal einem Roman mit einem solchen Thema – erwartet. Diese Story, diese Figuren hätten vielleicht auch mit anderem historischen Hintergrund funktioniert. Es ist diese Abwesenheit an Notwendigkeit, die skandalös ist.
Ein Roman wie „Stella“ spricht der Fiktion implizit ihre fundamentalen Eigenschaften – Verdichtung, Allegorie, Erfindung – ab. Um Fanatismus, Genozide und Rassismus bis in den abstoßenden Sprachgebrauch der Faschisten durchzudeklinieren, muss man keineswegs die Menschheitsgeschichte als Kulisse nehmen – Schriftsteller Antoine Volodine vertieft den Leser seit 43 Büchern in genau diese Themen, erfindet dafür aber eine Fiktionswelt mit eigenen Archiven, einer eigenen Geschichte und einem eigenen Gedächtnis.
Hier befinden wir uns eigentlich im Herzen der Diskussion darüber, was Fiktion kann, soll, und was sie macht. Lange fristete die Fiktion im Bezug zur Wirklichkeit ein Schattendasein: Bei Platon und Aristoteles war sie reine Mimesis, eine Imitation, die mit Verspätung nachstellte, was die Wirklichkeit bereits vorlieferte. Für Platon war genau diese Gegebenheit problematisch, für Aristoteles war sie ganz im Gegensatz bildend: Der Mensch lernt, indem er nachahmt.
Freiheit des Schriftstellers
Im Zeitalter der Postmoderne, in dem sich das Verhältnis so sehr gelockert hat, dass Journalisten manchmal zu sehr auf fiktionale Ausschmückung zurückgreifen, und in dem Touristen Sherlock Holmes’ fiktionales Domizil besichtigen können, gilt dieser Wirklichkeitsvorrang nicht mehr. Aus dieser Vorrangstellung der Fiktion und dem romantischen Ideal des Autors als Schöpfer leitete man die Freiheit des Schriftstellers als unantastbare, unabdingbare Voraussetzung des literarischen Schaffensaktes ab.
Der Umgang mit den sogenannten Grenzfällen – die Autofiktion und der historische Roman (denn in beiden ist das Wechselspiel von Erfindung und Fakt am angespanntesten) – verrät deshalb vor allem so einiges über unsere heutigen, mit Ort und Epoche wechselnden Sensibilitäten. So manche Autofiktion hat zu Klagen geführt, weil sich die vom Autor beschriebene Intimität meist auf Familienangehörige oder ehemalige Partner überträgt – und diese nur ungern sahen, dass unter dem sehr dünnen Schleier der Fiktionalisierung ihr Privatleben in der Öffentlichkeit inszeniert wurde.
In anderen Fällen ist es eine fehlerhafte Einstufung des Textes, die für Polemik sorgt. 1995 erschien „Bruchstücke: Aus einer Kindheit 1939-1948“ von Binjamin Wilkomirski. Der Autor beschreibt darin seine Kindheit und bezeichnet sich als Holocaust-Überlebenden. Als bekannt wurde, dass Binjamin Wilkomirski ein Pseudonym des Schweizers Bruno Dössekker war und die Lebensgeschichte eine Fiktion, fühlte sich die Leserschaft (zu Recht) betrogen und emotional manipuliert.
Dieser Fall zeigt, was ein kleiner Hinweis auf dem Umschlag – die Leserschaft wäre in einen anderen Rezeptionsmodus versetzt worden, wenn man erklärt hätte, dass der Text eine Fiktion war – bewirken kann. Denn innerhalb einer Fiktion ist der Schriftsteller frei, so mit der Wirklichkeit umzugehen, wie es ihm gefällt. Oder?
Geschichtsschreibung im Roman
Ganz so selbstverständlich ist dies aber eben nicht. Wenn George Saunders in „Lincoln in the Bardo“ (Booker Prize 2017) den Tod des Sohnes von Abraham Lincoln darstellt und das posthume Leben von Willie Lincoln im Bardo (dem Reich der Toten) erwähnt, weiß der Leser sofort, dass sich der Autor hier nicht um eine historisch treue Darstellung der Geschehnisse schert. Der semantische Rahmen des Romans deutet bereits darauf hin, dass Saunders einen laxen Umgang mit der Geschichte anpeilt – im Stimmenwirrwarr der Erzählung werden folglich wahre und falsche Zitate durcheinandergewürfelt. Literaturforscherin Linda Hutcheon nennt dies „historiografische Metafiktion“.
Wenn in Thomas Pynchons „Mason & Dixon“ mutierte Biber und ein kiffender Präsident auftauchen, weiß man gleichermaßen, dass der Vater der Postmoderne einen nicht ganz ernsten Faktenumgang in seiner Geschichte um die Landesvermesser Mason und Dixon betreibt. Trotz der Wirklichkeitsentstellungen sind Saunders’ und Pynchons Werke teilweise ausgezeichnet dokumentiert; nur inszenieren sie eben ein Spiel mit Fakt und Fiktion, das dem Leser seine eigene Manipulierbarkeit in puncto Geschichtsschreibung und Faktenaufnahme vor Augen führt.
Eigentlich gilt, was literarische Lizenz anbelangt, Folgendes: Der Schriftsteller entscheidet selbst, wie viel Wirklichkeit er in seine Fiktion importiert. Im Falle des historischen Romans ist dies aber deswegen problematischer, da, wie Dorrit Cohn in „The Distinction of Fiction“ schreibt, der Leser historische Erwartungen bezüglich des Umgangs mit Fakten hat.
Mit Stella Goldschlags Geschichte hängt die fundamentale Frage nach einer möglichen Schuld der Verfolgten zusammen – eine Frage, die Dinkelaker in seinem Artikel sehr einleuchtend beantwortet: „Die Historikerin Lucy Dawidowicz zeigte bereits 1975, dass die Anwendung des Kollaborationsbegriffs auf die Opfer der Shoah eine semantische Täuschung und eine historische Fehlinterpretation ist.“ Es wirkt, als hätten sich die Kritiker von „Stella“ umfassender mit dem Thema befasst als der Autor selbst.
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