Editorial / Tanz als Katharsis
Vergangene Woche endete mit dem „Gudde Wëllen Open Air“ das erste Covid-Check-Festival – und die Erfahrung, ohne Maske neben 350 Menschen zu tanzen, war schlicht ergreifend.
Der letzte Sommer hat uns allerdings gelehrt, eine Grundskepsis und -vorsicht zu bewahren: Trotz der stetig wachsenden Anzahl an geimpften Menschen in Europa geistert die Besorgnis darum, wie der kommende Herbst aussehen wird, immer noch in unseren Köpfen. In diesem Kontext stellt sich die Frage: Hat die Kultur nicht vielleicht den Auftrag, uns an die Ängste der vergangenen Monate zu erinnern, anstatt uns zum reinen Genuss der (vermeintlichen) Post-Pandemie-Zeit anzuspornen? Hier die vielleicht kürzeste aller soziokulturellen Thesen: Nein, hat sie nicht.
Sie hat diesen Auftrag einerseits nicht, weil Kulturprodukte nie dazu verpflichtet sein sollten, einen konkreten Nutzen zu haben. Kultur bietet keine Bedienungsanleitung, wie wir unsere Leben führen sollen, sie bietet eine Auswahl an möglichen Lebensausrichtungen, die unser Empathievermögen gegenüber anderen erweitern. Sie ist auch kein Warnsignal, das vor Leichtsinn mahnt.
Klar: Die Pandemie, deren verheerende Auswirkungen auf unsere Psyche und unser Zusammenleben sich erst in den kommenden Monaten bemerkbar machen werden, erfordert eine persönliche wie auch eine kollektive Aufarbeitung – und hier könnten Kulturschaffende wichtige Beiträge leisten. Die Einsamkeit, das Scheitern des europäischen Zusammenhalts, die Berührungsängste, die antidemokratischen Auflagen, die Konditionierung, die uns sogar jetzt noch gegen Mitternacht nervös auf die Uhr blicken lassen, weil wir an die (aufgehobene) Ausgangssperre denken, und die uns zeigt, dass wir eigentlich alle Pawlow’sche Hunde sind: All dies ist ein wertvoller kreativer Nährboden für Kulturschaffende aus allen Bereichen.
Unsere Vorstellungskraft hat diese Themen jedoch bereits noch und nöcher in diversen Werken verhandelt – getreu der Binsenwahrheit, dass die Fiktion der Wirklichkeit immer einen Schritt voraus ist. So ist Einsamkeit ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Kulturgeschichte zieht, weil Isolation eben Grundbedingung künstlerischen Schaffens ist – selbst kollektiv geschaffene Kulturwerke im Theater benötigen den wesentlichen Moment des Rückzugs. Fiktionen über Pandemien gibt es zuhauf, die pawlowsche Konditionierung von Menschen beschrieb Thomas Pynchon eindrucksvoll in „Gravity’s Rainbow“.
Werke wie Camus’ „La peste“ oder Huysmans „A rebours“ sagen mehr über die Pandemie und ihre Auswirkungen aus als die bis dato konkret pandemiebezogenen Werke, die sich hauptsächlich mit dem Klopapier-Rush oder dem Applaudieren des Gesundheitspersonals auf dem Balkon befassen. Hier liegt das Hauptproblem: Die pandemiebezogenen Kulturprodukte verstehen es bisher nicht, das Geschehene zu transzendieren, es auf eine Ebene zu heben, auf der es eben nicht kontinuierlich an Bedeutung verliert, sondern auf der sich neue Spannungsfelder auftun könnten.
Der konkrete, rein mimetische Bezug auf die Pandemie ist nicht nur künstlerisch einfallslos, er erweckt lästige Erinnerungen, die weder zur kathartischen Verarbeitung des Geschehenen noch zum Schaffen ästhetischer Sinnebenen beitragen. Die wahren künstlerischen Beiträge zur Pandemie stehen noch aus – weil uns die Distanz und die Zeit, die Aufarbeitungsarbeit und künstlerische Transposition benötigen, noch fehlen. Deswegen sollte man dem hedonistischen Aufruf zum Festivalsommer folgen – eine bessere Katharsis hat die Kultur zurzeit (noch) nicht zu bieten.
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