LGBTQ+ / Tatta Tom und die Macht der Bücher: Luxemburgs Kampf gegen Diskriminierung
Weltweit sorgen Drag-Lesungen und Kinderbücher mit LGBTQIA+-Inhalten für Polemiken – auch in Luxemburg, wo der Dragkünstler Tom Hecker Morddrohungen erhielt. Die Gegner wollen Kinder schützen, doch wovor eigentlich?
Während der „Pride Week“ wird einerseits Diversität zelebriert, andererseits jedoch auch für den Respekt und die Rechte queerer Personen gekämpft. Die Causa „Tatta Tom“, die in den vergangenen Monaten zu Debatten geführt hat, zeigt deutlich, dass auch Luxemburg in diesem Bereich noch viel Arbeit vor sich hat.
Streitthema Literatur
Weltweit – so auch in Luxemburg – toben derzeit Debatten darüber, welche Themen und Bücher kindgerecht sind. So verabschiedete Ungarn 2021 beispielsweise ein Verbot von LGBTQIA+-Themen in Lerninhalten oder Medienformaten für Minderjährige. Das „American Library Association’s Office for Intellectual Freedom“ (OIF) gibt an, dass in den US vergangenes Jahr in dem Sinne 4.240 Buchtitel zensiert werden sollten – 47 Prozent davon seien Bücher, die die Stimmen und Lebenserfahrungen von LGBTQ+- und BIPOC-Personen („Black, Indigenous and people of color“) repräsentieren. Die Webseite booklooks.org besteht derweil aus „besorgten Eltern“, die ein Bewertungssystem entwickelt haben, „um die Eignung eines Buches für ein Kind oder einen jungen Erwachsenen beurteilen zu können“. Auch hier finden sich zahlreiche Bücher zu Themen wie LGBTQ+ und Diversität auf der Liste negativ bewerteter Bücher.
Proteste gibt es auch in England, beispielsweise in Form von Attacken öffentlicher Vorlesungen von Dragqueens. Einem Bericht von Euronews zufolge wurden zwischen dem 1. Juni 2022 und dem 27. Mai 2023 insgesamt 57 „all-ages drag events“ in England zur Zielscheibe extremistischer Gruppen. Zehn davon mussten aus Sicherheitsgründen abgesagt werden. Anti-Drag-Protestaktionen bezeichnen die Kunstfiguren laut CNN unter anderem als „groomer“, also Erwachsene, die gezielt Kontakt mit Minderjährigen aufnehmen, um sexuellen Missbrauch vorzubereiten. Rechtsextreme Verschwörungstheoretiker verleumden somit Drag-Künstler und ihre Unterstützer als Kinderschänder. Die konservative Politikerin Emma Nicholson setzte in einer Aussage vom Januar 2023 Dragqueens zudem auf dieselbe Ebene wie Mörder und Terroristen.
Auch in Luxemburg ist die Stimmung bezüglich Drag-Lesungen äußerst angespannt. Ein aktuelles Beispiel ist die eingangs erwähnte Tatta Tom: Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu verbalen Angriffen in den sozialen Medien und gar Morddrohungen gegen Tom Hecker, wie die Person hinter der Kunstfigur heißt. Diese besucht Schulen und veranstaltet öffentliche Lesungen für Kinder. Der Vorwurf der Gegner von Tatta Tom: Frühsexualisierung von Kindern und die Verbreitung einer queeren Ideologie. In einem Gespräch mit RTL erklärte Hecker kürzlich, seine Lesungen seien jedoch frei von sexuellen Themen und der Fokus liege auf der Diversität. Tatta Tom sei außerdem „eine Märchenfigur mit Hirschgeweih, gleichzusetzen mit einer Prinzessin, Hexe oder einem sprechenden Pilz“.
Trotzdem finden sich zahllose Online-Kommentare, die behaupten, die Lesungen hätten an Schulen und Bildungseinrichtungen für Kinder nichts zu suchen. Argumentiert wird oft mit der Meinungsfreiheit. Den Vorwurf der Queerfeindlichkeit, also der Hetze gegen Personen aus der LGBT+-Gemeinschaft, will kaum jemand auf sich sitzen lassen. So schreibt zum Beispiel ein User: „Wenn man also dagegen ist, dass ein erwachsener Mann unter dem Deckmantel der Inklusion kleinen Kindern seinen sexuellen Fetisch märchenhaft erklärt, ist das Hatespeech.“ Andere fassen sich kurz und finden die Gesamtsituation „einfach krank“. Die Lesungen sollten laut einigen Tatta-Tom-Gegnern gar verboten werden – ein Angriff auf die Sichtbarkeit und Ausdrucksfreiheit queerer Menschen.
Unterschiedliche Familienmodelle im Fokus
Aufgrund dieser teils extremen Reaktionen hat sich das Tageblatt die zwei Bücher angeschaut, die Tatta Tom bei den Lesungen verwendet. Beides sind deutsche Kinderbücher, die Tatta Tom ins Luxemburgische übersetzt hat. Beim ersten Buch handelt es sich um „Das alles ist Familie“ von Michael Engler. Eine PDF – Version des Textes ist gratis im Netz verfügbar.
Die Geschichte begleitet einen Jungen beim Versuch, ein verlorenes Päckchen zu seinen Besitzern zu bringen – außer, dass es sich um eine Familie handelt, ist auf dem Etikett nichts zu erkennen. Er zieht von Tür zu Tür und lernt dabei jedes Mal ein neues Familienmodell kennen: eine Patchwork-Familie, ein adoptiertes Kind mit einer anderen Hautfarbe als die der Eltern, ein alleinerziehender Vater, eine Familie mit ausländischem Namen – das Thema LGBTQ+ wird dabei lediglich in dem Sinne angeschnitten, dass der Protagonist an einer der Haustüren erfährt, dass ein Nachbarskind zwei Mütter hat und dass auch dies eine Familie sein kann:
„Dann starten wir gleich nebenan“, sagt Lina.
„Wohnen da nicht zwei Frauen?“, fragt er.
„Na und?“, meint Lina und geht vor.
Im Haus nebenan öffnet ein Mädchen die Tür.
„Seid ihr wirklich eine Familie?“, platzt Lars heraus.
(…) „Mein Name ist Sarah und natürlich sind wir eine Familie!“
„Sagst du dann zu einer Mama Mama und zur anderen Papa?“, fragt Lars.
„So’n Quatsch“, kichert Sarah. „Eine Mama heißt Mama und die andere Mami.“
(…) Als Lina und Lars wieder auf der Straße stehen, fragt Lars: „Glaubst du, dass auch ein Papa und ein Papi Eltern sein können?“
„Warum denn nicht?“, fragt Lina zurück.
(Quelle: Michael Engler: Das alles ist Familie)
Nach dieser Szene ziehen die Kinder weiter – von Sex oder der sexuellen Identität der Kinder ist dabei keine Rede. Es geht darum, dass „anders“ nicht gleich schlecht oder falsch bedeutet. Dies gilt gleichermaßen für alle Familienmodelle, die nicht der typischen Vater-Mutter-Kind-Norm entsprechen. Die sexuelle Orientierung der Kinder wird im Verlauf des Textes zu keinem Zeitpunkt thematisiert.
„Kein Kinderbuch über HomoSEXualität!“
Das zweite Buch heißt „Keine Angst in Andersrum“ und wurde von der deutschen Dragqueen Olivia Jones verfasst. Das Buch sei „eine Herzensangelegenheit“, steht in der Einführung. Jones wolle kindgerecht und mit Humor mit Vorurteilen brechen. Es sei jedoch „kein Kinderbuch über HomoSEXualität!“. In keiner Zeile gehe es um Sex, sondern um Fragen der Selbstentfaltung und Lebensgestaltung und „um die Frage, was eigentlich ‚normal‘ ist und was nicht und wer das überhaupt festlegt“.
Im Text findet sich eine Geschichte innerhalb einer Geschichte. Der Protagonist hat das Schimpfwort „schwul“ in der Schule gelernt und damit auch, dass dies negativ sein soll, denn „normalerweise lieben doch Männer Frauen und man hat eine Mama und einen Papa“. Die Tante des Kindes regt ein Gedankenspiel an und erzählt von einer Welt, in der die Geschlechterrollen umgekehrt sind. Frauen heißen Gerd und arbeiten auf dem Bau, Männer heißen Inge und sind Krankenschwestern. In dieser Welt ist es „normal“, andersherum zu lieben, bis Gerd und Inge sich ineinander verlieben und als einziges heterosexuelles Paar auf Unverständnis stoßen.
Sexuelle Inhalte sucht man auch hier vergebens und ein Anstacheln von Kindern, sich Gedanken über ihre Sexualität zu machen, enthält das Buch ebenfalls nicht. Stattdessen lernen Kinder, dass auch etwas, das von der ihnen bekannten Norm abweicht, Respekt und Akzeptanz verdient. Im Vordergrund steht, wie man andere Menschen betrachtet und behandelt.
Der einzige körperliche Kontakt zwischen zwei Menschen findet zwischen einem heterosexuellen Paar statt, dies in einer Situation, in der sie aufgrund ihres Andersseins diskriminiert werden: „Er zeigte auch mit dem Finger auf sie: ‚Iiih, guckt mal, die da! Ein Mann und eine Frau, die Händchen halten. Ist ja abartig!‘“ Der Vorwurf sexueller Propaganda lässt sich bei beiden Büchern also nicht bestätigen. Davon abgesehen spricht nichts dagegen, dass Minderjährige altersgerecht über mögliche Lebens- und Liebesformen informiert werden und ohne Angst gegenüber den eigenen Gefühlen aufwachsen.
Die Kritik an Kinder- und Jugendliteratur, die sich mit LGBTQIA+-Themen befasst, gilt selten den tatsächlichen Inhalten. Eine ernst gemeinte Diskussion über kindgerechte Themen müsste ohnehin ebenfalls eine Debatte über die Sichtbarkeit heterosexueller Paare beinhalten. Andernfalls bleiben die Polemiken Ausdruck struktureller Diskriminierung queerer Menschen.
Was ist strukturelle Diskriminierung?
Strukturelle Diskriminierung tritt laut „humanrights.ch“ auf, wenn etablierte Konventionen, Gebräuche und Traditionen einen Teil der Gesellschaft begünstigen und dabei andere Personengruppen benachteiligen.
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