Diekirch / Tausende Schätze in vermoderten Pappkartons
In vielen Gemeinden Luxemburgs ist „archivieren“ gleichgestellt mit „Dokumente in Kartons verpacken und ab in den Keller damit“. Diese Behauptung fußt auf unserer Nachfrage bei mehreren kleineren und größeren Gemeinden. Sätze wie „Unser Archiv können wir ihnen leider nicht zeigen“ bis hin zu „In diesen Raum können wir aus gesundheitlichen Gründen niemanden reinlassen“ ließen das Tageblatt aufhorchen.
„In der Öffentlichkeit wahrgenommen werden Archivare eigentlich nur, wenn sie sich als Historiker betätigen, wenn sie Ausstellungen organisieren, Quelleneditionen und landesgeschichtliche Werke herausgeben oder auf Tagungen referieren. Die sogenannten ‚archivarischen Kernaufgaben‘ hingegen erledigen Archivarinnen und Archivare hinter den Kulissen, wenn nicht ganz im Verborgenen, und Anerkennung erwerben sie damit allenfalls bei nachgeborenen Fachkollegen. Diese Randständigkeit archivarischer Grundlagentätigkeiten liegt angeblich darin begründet, dass sie so sterbenslangweilig seien und niemanden interessierten. Was allenfalls die halbe Wahrheit ist“, so Dr. Martin Burkhardt, wissenschaftlicher Archivar an der Universität in Köln.
Wir wollen am Beispiel der Gemeinde Diekirch zeigen, was ein Archivar im „Verborgenen“ zu leisten hat. Über Jahrzehnte hinweg diente in dieser Gemeinde – wie in vielen anderen auch – ein Kellerraum für das Ablegen von zu archivierenden Dokumenten, Büchern, Briefen, Ausdrücken von E-Mails, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, von Prospekten und vielem mehr. Die Betonung liegt auf „zu archivierenden“, denn was fälschlicherweise auch in diesem Fall als Archiv bezeichnet wurde, war, gelinde ausgedrückt, ein feuchtes, von Schimmel und sonstigen Pilzen befallendes Verlies.
„Katastrophale Situation“
Als mit Michel Pauly am 1. Juli 2022 endlich ein Archivar seine Arbeit im Diekircher Rathaus aufnehmen konnte, war die Situation, wie er heute selbst sagt, katastrophal. Zwischen feuchten Kellermauern stapelten sich unzählige Kartons, deren genauen Inhalt niemand so recht kannte. In einem solchen Fall könnte man davon ausgehen, dass eine große Menge der dort in Vergessenheit geratenen Unterlagen aus unzweifelhaft überflüssigem „Müll“ besteht, der nie wieder irgendjemanden interessiert und dass eine deutlich kleinere Teilmenge offensichtlich archivwürdig ist.
Um das herauszufinden, begann Michel Pauly mit einer wahren Sisyphusarbeit. „Zuerst musste ich herausfinden, was wo abgelegt wurde. In den unzähligen, völlig durchnässten Kartons lagen uralte, alte und neue Dokumente, die es zuerst zu bewerten galt. Dann wurden die Dokumente, Unterlagen, Bücher usw. in einem großen Raum im Dachgeschoss des Rathauses nach den einzelnen Epochen gestapelt. Es war und ist auch heute noch viel Fingerspitzengefühl gefragt, wenn man über Jahre hinweg hoher Feuchtigkeit, ja sogar dem Hochwasser der benachbarten Sauer ausgesetzte Dokumente berührt“, so der Archivar. Apropos Feuchtigkeit: „In einem Archiv soll eine wenn möglich konstante Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent bei einer Temperatur von 18 Grad Celsius herrschen“, so Michel Pauly.
Die tausenden und abertausenden Unterlagen wurden in den letzten zwei Jahren, unter der Mithilfe von Volontären, gesichtet und klassiert. Solange niemand wisse, was drinsteckt, seien die schönsten alten Unterlagen nur ein nichtssagender Haufen Altpapier. Ein Teil der archivischen Arbeit bestehe also darin, das Archivgut zu klassifizieren und dann sogenannte Repertorien zu erstellen, die ein späteres Wiederfinden einzelner Dokumente ermöglicht.
1.250 Aufbewahrungsboxen
Bei der Sichtung und der Sortierung wurde letztes Jahr das wohl älteste im Diekircher Keller gelagerte Dokument gefunden. Dabei handelt es sich um ein Schriftstück aus dem Jahr 1345, ein Lehnsbrief, demzufolge sich Ponsin von Burscheid zum Lehnsmann des Hermann von Brandenburg machte.
Um schlussendlich mehr Übersicht über das zu bekommen, was sich an Schätzen in den Kartons versteckte, wurden sage und schreibe 1.250 spezielle Aufbewahrungsboxen angeschafft, die heute auf dafür vorgesehenen Regalen in einem Raum der „Maison d’orientation“ unweit des Rathauses ihren Platz gefunden haben. In 230 dieser Boxen werden Bücher, in den restlichen werden pro Box bis zu tausend verschiedene Dokumente und Unterlagen aufbewahrt. „Um diese Dokumente später der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, werden sie alle eingescannt. Die digitale Version dient neben dem schnellen Auffinden auch dem Schutz der Dokumente, da sie auf diese Weise eingesehen werden können, ohne dass man das Original berührt“, so Michel Pauly weiter.
Vor kurzem errichtete Schieberegale in einem speziell dafür eingerichteten Raum des Rathauses sollen Unterlagen aufnehmen, die für die verschiedenen Gemeindedienste schnell auffindbar und einsehbar sein sollen.
250.000 Euro jährlich
„Für die Restaurierung zahlreicher Dokumente sehen wir in unserem Gemeindebudget nun jährlich 250.000 Euro an Unkosten vor“, so der zuständige Kulturschöffe Dr. Paul Bonert. „Die verschimmelten Unterlagen müssen zuerst in einen Quarantäneraum und anschließend zu einem Papier-Restaurator. Das ist kein billiges Unterfangen.“
Zahlreiche Urkunden, oft mit Siegeln, sind auf Pergament verfasst und gerne aufwändig dekoriert. Die gespannte und getrocknete Tierhaut wurde jedoch auch als Buchseite oder Einbandmaterial von Büchern verwendet und darf nicht mit Pergamentpapier verwechselt werden. Pergament ist im Gegensatz zu Papier sehr empfindlich, vor allem gegenüber Feuchtigkeit und Wärme, und bedarf besonderer Vorsicht bei der Restaurierung und Aufbewahrung.
Mit Blick auf Laura Pott, die Michel Pauly zurzeit als studierte Historikerin über den „Service national de la jeunesse“ als Volontärin zur Seite steht, gab der Archivar abschließend zu verstehen, dass ihre Arbeit wohl nie enden wird. „Während wir hier sichten, sortieren, restaurieren und archivieren, fallen in unserer Gemeinde täglich unzählige neue Unterlagen an, die es zu archivieren gilt.“
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