Europaparlament / Tauziehen um zentrales EU-Projekt
61 Stimmen braucht Ursula von der Leyen im Europaparlament, damit sie nächsten Donnerstag wieder Kommissionspräsidentin wird. Sonst taumelt die EU in eine Krise. Zum Lackmustest machen viele Abgeordnete, wie sie die Klimagesetze zum Green Deal zu überarbeiten bereit ist.
Nächsten Dienstag ist sie Geschichte: die neunte Wahlperiode eines direkt gewählten Europäischen Parlamentes. Nächsten Donnerstag geht die EU wieder an den Start, wenn Ursula von der Leyen erneut zur Kommissionspräsidentin gewählt sein sollte. Doch noch kann sie sich dessen nicht sicher sein. Ihre Christdemokraten haben zwar die Wahlen gewonnen, aber keine ausreichende Mehrheit. Ohne Sozialdemokraten und Liberale klappt es nicht, und weil in der geheimen Abstimmung traditionell viele von der Fahne gehen, wirbt die EVP-Politikerin intensiv auch um die Stimmen der Grünen. Am Beispiel des Green Deal für das klimaneutrale Europa, dem zentralen Projekt ihrer ersten Amtszeit, wird in diesen Tagen deutlich, wie sie als Bedingung für ihre Wiederwahl widersprüchliche Forderungen unter einen Hut zu bringen hat. Zugleich lassen sich dabei Konturen künftiger EU-Schwerpunkte erkennen.
Die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent absenken und den Kontinent bis 2050 klimaneutral machen – um die EU nachhaltig auf diesen ambitionierten Kurs zu bringen, hatte von der Leyen ab 2019 den Green Deal zum zentralen Projekt ihrer ersten Präsidentschaft gemacht. Dutzende einzelner Gesetzesvorhaben brachte ihre Kommission auf den Weg, beschäftigte die beiden Mitgesetzgeber Rat und Parlament für jedes einzelne monatelang. Von den Einsparbeiträgen durch schadstoffärmere, dann schadstofffreie Autos über besser gedämmte Wohnungen bis zum Umbau der Industrie und die Verteuerung fossiler Energie beackerten die Brüsseler Gesetzgeber das ganze Feld der Klimapolitik.
Doch sie schafften es dabei nicht, alle Bürger in allen EU-Staaten mitzunehmen. Und wo diejenigen, die etwa auf den Äckern und in den Wäldern herausragende Beiträge leisten sollten, kaum gefragt wurden, entwickelte sich massiver Widerstand. Vor allem die Christdemokraten von der Europäischen Volkspartei (EVP) versprachen im Wahlkampf, den Green Deal auf den Prüfstand zu stellen. Und sie gewannen mit dieser Zusage die Wahlen. Auch der rechte Rand, der sich mit radikaler Ablehnung der EU-Klimaschutzagenda positionierte, konnte in vielen Ländern zulegen. Die Green-Deal-Schrittmacher von den Sozialdemokraten und den Grünen mussten dagegen teils schmerzhafte Verluste hinnehmen. So war nach dem Wahltag vor gut einem Monat die Erwartung groß, der Green Deal werde nun weitgehend wieder abgewickelt. So wird es zwar nicht kommen. Aber er dürfte ein gründlich neues Gesicht bekommen.
„Mehr Deal im Green Deal“
Peter Liese, einer der zentralen Green-Deal-Regisseure in der EVP, bringt es auf die Formel: „Wir brauchen mehr Deal im Green Deal.“ Die Belange der Wirtschaft, insbesondere von Industrie, Landwirtschaft und Mittelstand, müssten besser berücksichtigt werden. Dabei stehe zwar die Klimaneutralität als Ziel für 2050 „nicht zur Disposition“. Wohl aber einige zentrale Bausteine wie das Verbrenner-Aus, das 2035 für alle neuen Fahrzeuge EU-weit gelten soll. Die bestehende Gesetzgebung verlange, dass dann kein CO2 mehr aus dem Auspuff kommen dürfe. „Das schließt de facto den Verbrennungsmotor aus, auch wenn er mit komplett klimaneutralen Kraftstoffen betrieben wird“, kritisiert Liese. Deshalb wolle die EVP den Basisrechtsakt entsprechend „anpassen“.
Der deutsche Europaabgeordnete David McAllister blickt auf die heimischen Stahlwerke und einen von seiner Fraktion entwickelten Stahlpakt und bringt die Konsequenzen aus dem derzeitigen Verlust industrieller Wertschöpfung auf die Formulierung: „Der Green Deal sollte durch einen Europäischen Wachstumsdeal ergänzt werden.“
Vermutlich wären dann auch die Liberalen zumindest in großen Teilen wieder mit von der gemeinsamen Partie, obwohl sie massiv Stimmung gegen von der Leyens Bürokratiekosten gemacht hatten. Doch sie plagen im Vorfeld der zentralen Abstimmung auch andere Sorgen. Zuerst waren sie wieder auf Platz drei der größten Fraktionen gelandet, dann hatte sich die rechtspopulistische EKR von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni vor sie geschoben, nun auch noch die neue Patrioten-Fraktion von Ungarns Regierungschef Viktor Orban. Ihre schrumpfenden Zugriffe auf wichtige Parlamentsposten soll von der Leyens EVP nun berücksichtigen, ihnen den Vorsitz im Ausschuss für liberale Freiheiten, Inneres und Recht überlassen und zu weiteren Ämtern bei den Vizepräsidenten und Quästoren verhelfen. Zu den Inhalten wollen die Liberalen noch vor Donnerstag nächster Woche ebenfalls vertiefende Fragen beantwortet haben.
Selbstbewusst treten auch die Sozialdemokraten nach der ersten dreistündigen Unterredung mit von der Leyen auf. „Ohne uns hätte sie keine Mehrheit“, stellt der EU-Abgeordnete René Repasi fest. Sie habe sich aus sozialdemokratischer Sicht zwar „noch nicht ins Aus geschossen“, sei aber auch „noch nicht am Ziel angekommen“. Und auch hier dreht sich vieles um den Green Deal. Der müsse in der neuen Wahlperiode „sozial unterfüttert werden“, oder bildlich gesprochen: „Der Green Deal muss nun mit einem roten Herz umgesetzt werden.“
Von vorsichtiger Erleichterung geprägt sind die Eindrücke der Grünen, weil der Austausch mit von der Leyen „konstruktiv“ gewesen sei. Nach ihren Ausführungen halte er eine „Abwicklung des Green Deal für ausgeschlossen“, gibt der EU-Abgeordnete Rasmus Andresen zu Protokoll. Allerdings habe sie sich noch Hintertürchen offengehalten. So reihen sich die Grünen in die Reaktionen von Sozialdemokraten und Liberalen ein, die alle erwarten, dass von der Leyen noch vor der Abstimmung „nachlegt“.
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