Editorial / That escalated quickly: Luxemburgensia-Kritik anno 2022
Eins muss man unserem Serge National lassen: Dank ihm wird seit einer Woche über etwas, was hierzulande eigentlich seit längerem am Aussterben ist, debattiert. Die Rede ist von Literaturkritik, Anlass zur Debatte war die Literaturrezension eines Buches, von dem man eigentlich nicht ausgegangen wäre, dass es solche Wellen schlagen würde.
Fassen wir’s zusammen: Die Schauspielerin Fabienne Hollwege hat vor ein paar Wochen bei den Editions Guy Binsfeld „To live heißt Leben und Liebe heißt Love“, ein Buch über den Alltagskampf einer Frau, Mutter und Kulturschaffenden, herausgebracht.
Die Kollegin vom Luxemburger Wort fand das spannend, die Kolleg*innen vom öffentlich-rechtlichen Radiosender eher nicht, schlussfolgerten sie doch, dass das Buch eigentlich eher in eine Mülltonne als in ein Bücherregal gehörte.
Wahnsinnig innovativ war diese Conclusio wahrlich nicht und nett ist auf jeden Fall anders – aber Literaturkritiker*innen sind ja auch nicht da, um nett zu sein, weswegen ihnen immer wieder angelastet wird, selbst frustrierte Möchtegernautor*innen zu sein.
Vor ein paar Jahren betitelte ich die Rezension zu Luc Spadas Lyrikband „Fass mich an“ mit „Lass mich liegen“. Auch das war nicht nett, spiegelte aber meine (durchaus begründete) Analyse des Bandes – und brachte mir ein paar betrunkene Mittelfinger vom Autor ein. Mittlerweile ist Gras über die Sache gewachsen oder vielleicht auch geraucht worden, mit dem Autor hat sich der Verfasser dieser Zeilen auf jeden Fall längst versöhnt.
Dass Kritik alles darf, geht wohl eine rhetorische Tucholsky-Parallele zu weit, vieles soll sie trotzdem dürfen, solange sie Prinzipien wie intellektueller Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit treu bleibt.
Auf jeden Fall reagierte Serge Tonnar auf die Kritik mit einem Leserbrief, der streckenweise unglücklich formuliert ist, weil er zu oft der Facebook-Logik der plakativen Vereinfachung nachgeht (der Text beginnt mit der Aussage, dass „Kritiker keine Kritik vertragen“) und so mehr einer Spaltung der Lager gleichkommt, als dass er den Dialog suchen würde. So stehen auf der einen Seite die frustrierten Kritiker, auf der anderen die Kulturschaffenden.
Dies ist umso bedauerlicher, weil sich hinter dem provokanten Tonfall der Ansatz einer Kritik der Kritik verbirgt, die man hätte weiterspinnen können. So hätte man beispielsweise anmerken können, dass die in der Sendung entwickelte Argumentation, Hollwege würde das Patriarchat attackieren wollen, sich jedoch ausschließlich auf ihr Privatleben fokussiere, in dem Sinne fehlerhaft ist, da das Private immer auch politisch ist: Edouard Louis hat seine ganze Karriere darauf aufgebaut, seine Familiengeschichte als soziologisches Fallbeispiel politischen Scheiterns zu inszenieren.
Bedauerlich ist zudem, dass fast jeder, der gerade seine Meinung dazu äußert, wohl weder Fabienne Hollweges Buch gelesen, noch die dazugehörige Rezension in dem Radiosender gehört hat.
So verliert man sich in einer endlosen Spirale von Auslegungen und Interpretationen, in denen der kommentierte Text im Sumpf des Nichtlesens verschwindet. In der Kurzgeschichte „Die Bibliothek von Babel“ stellte sich der argentinische Schriftsteller José Luis Borges eine quasi unendliche Welt vor, die ausschließlich aus Büchern besteht, in denen alle möglichen Buchstabenkombinationen vorkommen. Über 99 Prozent dieser Bücher beinhalten unverständliches Kauderwelsch, nur ein paar erzählen verständliche Geschichten, in einigen davon, so hoffen es die Einwohner dieser Welt, fungieren sinnstiftende Lebensgeschichten.
Borges’ Kurzgeschichte ist aktueller denn je: Auch wir leben in einer Welt, die immer mehr aus Text besteht. Nur werden wir von nicht gelesenen und nicht lesenswerten Textmassen erschlagen und produzieren dafür selbst immer mehr Text – bis sich der Sinn nicht wie bei Borges in Unverständlichkeit, sondern in den unendlichen Verschachtelungen gegenstandsloser Kommentare auflöst.
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hmm, also beide male wo Sie „nicht nett“ schreiben, finde ich ist schon ein grosser unterschied zwischen „gehört in die mülltonne“ und „lass mich liegen“ …
ich hatte die sendung zufällig live gehört und hab irgendwann das radio ausgeschaltet, weil es für mich nix mehr mit literaturkritik zu tun hatte, sondern menschlich ganz einfach unterste schublade war. da wurde z.t. ziemlich persönlich einfach auf jemanden drauf gehauen. fast würde ich das wort ekelhaft benutzen.
generell mag ich die 100,7-formate, wo journalisten und/oder moderatoren oder wie auch immer man sie nennt, unter sich „quatschen“ nicht. da hat man leider öfter den eindruck, dass die teilnehmer sich einfach gerne reden hören.
der vollständigkeit halber: das buch habe ich nicht gelesen.