Forum / Totgesagte leben länger: Die Abschaffung der Schengen-Freizügigkeit wäre eine Katastrophe
Die „totale Sicherheit“ ist das Leitmotiv vieler Politiker. Wie jetzt im französischen Wahlkampf wird dem Wähler vorgegaukelt, mit immer mehr Polizisten und mit immer mehr Kontrollen könnte jedes Risiko vor Verbrechen, Terrorismus oder illegaler Einwanderung behoben werden. Mit dem „Nachtwächter“-Staat als Ideal sollen vor allem Kontrollen an den Grenzen potenzielle Straftäter abwehren – dazu gehören selbstredend „Migranten“ –, um somit den verunsicherten Bürgern zu Lebzeiten noch Friedhofsruhe zu garantieren!
Besonders die „Schengen“-Verträge, die seit 30 Jahren den Europäern eine zur Selbstverständlichkeit gewordenen Freizügigkeit bieten, sind vielen „Sicherheit“-Propagandisten ein Dorn im Auge.
Es gibt immer wieder Versuche, diese Freizügigkeit an den Binnengrenzen des Schengen-Raums definitiv oder zumindest zeitweilig aufzuheben. So wie jetzt in der Bundesrepublik, wo unter dem Vorwand der Absicherung der FIFA-Europameisterschaft der Fußball-Rummel vor „Hooligans“ und möglichen Attentätern geschützt werden soll.
Pöbelnde Anhänger von Fußball-Mannschaften gibt es das ganze Jahr über in deutschen (und allen) Stadien. Sport, die „wichtigste Nebensache der Welt“, führt überall zu nationalistischen oder lokalpatriotischen Ergüssen, zu Brüll-Orgien und manchmal zu Tätlichkeiten zwischen den „Fans“. Dazu kommt die Bier-Seligkeit vieler Fußball-Anhänger, die man derzeit in deutschen Innenstädten bestaunen kann.
Magere Bilanz
Die von Innenministerin Nancy Faeser angeordneten Kontrollen an den deutschen Grenzen schufen vielfältige Probleme für Grenzgänger und den regionalen Handel. Seit Beginn des Fußball-Happenings staut es gewaltig an den Grenzübergängen zwischen Luxemburg und Deutschland. Immerhin arbeiten einige 55.000 Deutsche als Grenzgänger in Luxemburg. Was ihnen an Werktagen nunmehr lästige Kontrollen beschert. Auch die zahlreichen deutschen Betriebe, die regelmäßig in Luxemburg Dienstleistungen verrichten, leiden unter den staufördernden Kontrollen. Zwar wurden diese nunmehr von den Grenzen in den deutschen Grenzraum zurückverlegt, bleiben dennoch nerven- und zeitraubend.
Welche „Erfolge“ sind aus Sicht der Bundesregierung zu vermelden? An allen deutschen Grenzen, nicht nur mit Luxemburg, wurden laut Innenministerin 2.300 Personen an der Einreise ins Fußball-Paradies gehindert. Darunter ganze „50 Hooligans“. Was den Laut-Pegel in den Stadien nicht minderte.
Immerhin konnte die Bundespolizei 400 per Haftbefehl gesuchte Personen abfangen. Wie viele „Kapital-Verbrecher“ darunter waren, ist der Statistik nicht zu entnehmen. Die übergroße Mehrheit davon dürfte bislang unbeglichene Verkehrsdelikte in Deutschland zu verantworten haben.
Um zu diesem eher mageren Ergebnis zu kommen, waren täglich 22.000 Bundespolizisten im Einsatz. Die sich wahrscheinlich alle ein Ende der für sie strapaziösen Meisterschaft herbeiwünschen.
Diese Zahlen illustrieren die Unfähigkeit moderner Staaten, ihre Grenzen „total“ abzusichern.
Illusorische Kontrollen
Als nach den Attentaten in Paris Frankreich zeitweilig wieder Grenzkontrollen einführte, gab an den gemeinsamen Grenzen zwischen der „Grande Nation“ und dem Großherzogtum „Sicherheit“-bedingte Staus nur auf der Autobahn. Auf allen Nebenstraßen verhinderte der Personalmangel bei den französischen Sicherheitskräften effiziente Kontrollen. Selbst in den Zügen fanden nur sporadische Checks statt. Übrigens machte Frankreich bei seinen Grenzkontrollen keinen einzigen Terroristen dingfest. Die meisten hatten ohnehin die französische Nationalität.
Großbritannien gehörte nie dem Schengen-Raum, war theoretisch immer in der Lage, seine Grenzen zu kontrollieren, was weder Kriminalität noch Terroranschläge im Vereinigten Königreich verhinderte. Auch nicht illegale Einwanderung. Seitdem die Briten sich mit dem „Brexit“ der EU-Bevormundung entzogen haben, nahm die illegale Einwanderung ins Inselreich sogar zu.
Gerade Wasserwege laden zu Immigrationsversuchen ein. Das musste Großbritannien erfahren. Oder die Mittelmeer-Staaten. Wie kann man jemals die 12.000 griechischen Inseln vor Flüchtlingen total abriegeln? Die ihr Leben riskieren und zu oft verlieren, um in die „Europäische Hölle“ zu gelangen.
Europa ist ohnehin als Folge der europäischen Integration der mobilste Kontinent. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Desintegration der Sowjetunion und ihrer Satelliten-Staaten hat eine Migrationswelle eingesetzt, die nicht mehr zu stoppen ist.
Migrieren gehört zur Menschheit
Der Schengen-Raum umfasst heute 29 Staaten, darunter selbst vier Staaten wie Norwegen und die Schweiz, welche der EU nicht angehören.
Jedes Jahr werden die Binnengrenzen der 29 Staaten von geschätzten 2 Milliarden Reisenden überquert. Ohne Kontrollen und ohne nennenswerte Konsequenzen für die allgemeine Sicherheitslage. Wie könnten 2 Milliarden Bürger effektvoll kontrolliert werden?
Jeden Werktag überqueren über 4 Millionen EU-Bürger eine Landesgrenze, um in einem Nachbarland zu arbeiten. Nicht nur Luxemburg beschäftigt Grenzgänger, über 230.000 an der Zahl. Der kontrollfreie Zufluss von Arbeitskräften aus den Nachbarländern war einer der Gründe, weshalb die Schweiz sich dem Schengen-Raum öffnete.
Europa ist erste Tourismus-Destination der Welt. Dank der gemeinsamen Schengen-Visen können jedes Jahr einige 20 Millionen Touristen aus Asien frei durch die 29 Staaten reisen. Artikel 77 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU verlangt, „dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überqueren der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden“!
Sollten wieder systematische Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raumes eingeführt werden, wofür kein Staat genügend Polizei und Zöllner hätte, würde der europäische Binnenmarkt sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Eine (schon etwas ältere) Studie der Kommission kam auf mehrere Hundert Milliarden Euro Einbußen für den Handel innerhalb der Union, mit entsprechend weniger Wirtschaftswachstum und weniger Beschäftigung.
Leider sind zu viele Bürger in allen Teilen Europas empfänglich für nationalistische Propaganda, für ausländerfeindliche Thesen oder für Gelaber über „absolute Sicherheit“.
Sollten sich die Anti-Schengen-Zauberlehrlinge durchsetzen, beispielsweise in Frankreich, würden sich besonders junge Menschen über das Resultat wundern. Was heute als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird, ungehindert durch Europa zu reisen, zu studierten, zu wohnen und zu arbeiten, würde wieder an Schlagbäumen und Stacheldraht-Zäumen enden. Es gäbe mit Sicherheit ein böses Erwachen!
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