Luxemburg / Trauriges Jubiläum: Flugzeugabsturz in Niederanven jährt sich zum 20. Mal
Der 6. November 2002 dürfte vielen Menschen im Großherzogtum – aber auch über die Landesgrenzen hinaus – in trauriger Erinnerung geblieben sein. Denn vor 20 Jahren ereignet sich an diesem Tag das bislang schwerste Unglück in der Geschichte der Luxemburger Luftfahrt: Ein Flieger der Luxair stürzt über einem Feld in Niederanven ab. Von 22 Menschen an Bord überleben 20 die Katastrophe nicht.
20 Namen – in weißer Schrift stehen sie auf einem Block aus Glas geschrieben. An der Gedenkstätte auf einem Feld bei Niederanven an der route de Trèves erinnern die Buchstaben an die Männer und Frauen, die am Morgen vom 6. November 2002 beim bisher schwersten Flugzeugunglück in der Geschichte des Großherzogtums ihr Leben lassen. Damals startet an einem Mittwochmorgen um 8.43 Uhr am Berliner Flughafen Tempelhof eine Maschine der Luxemburger Fluggesellschaft Luxair. Ziel des Flugzeuges vom Typ Fokker 50 ist der Findel.
An Bord befinden sich 22 Menschen: 19 Passagiere, Pilot und Copilot sowie eine Flugbegleiterin. Über dem Großherzogtum hängt dichter Nebel, es kommt zu Verzögerungen. Bis kurz nach 10.00 Uhr gibt es Kontakt zwischen Tower und dem Cockpit der Fokker. Dann bricht dieser ab. Nur einige Minuten vor der geplanten Ankunft stürzt das Flugzeug gegen 10.05 Uhr ab. Auf einem Feld am Ausgang von Niederanven zerschellt die Maschine und geht in Flammen auf. Nur etwa 3,5 Kilometer von der Landebahn entfernt.
Insgesamt 20 Menschen kommen bei dem Unglück ums Leben, die Mehrheit von ihnen sind deutsche Staatsangehörige. Unter den Opfern ist auch der Luxemburger Künstler Michel Majerus aus Esch, der in Berlin lebte und arbeitete und einen internationalen Ruf erlangt hat. Lediglich zwei Personen überleben die Tragödie: ein Passagier aus Frankreich sowie der Pilot aus Luxemburg, der schwerverletzt aus dem Wrack geborgen wird.
Bild des Grauens
Um 10.20 Uhr treffen die ersten Rettungsmannschaften am Unfallort ein – wie es einem Archivartikel im Tageblatt einen Tag nach dem Unglück zu entnehmen ist. Rund 300 Bedienstete der Polizei sowie 150 Hilfskräfte sind im Einsatz, wie es in einer Pressemitteilung von der Regierung noch am selben Tag heißt. „Es war ein Bild des Grauens. In meinen schlimmsten Träumen hätte ich mir so etwas nicht vorstellen können“, wird ein Feuerwehrmann in einem rückblickenden Artikel im Tageblatt vom 7. Oktober 2011 zitiert.
Vom Unglück hört Chantal Koelsch an diesem Mittwochmorgen im Radio, als sie mit ihrem Auto auf dem Weg zur Arbeit ist. Die damals 32-Jährige hat sofort ein mulmiges Gefühl. Denn ihr Partner John Arendt arbeitet als Pilot für die nationale Fluggesellschaft und hat sich am Morgen auf den Weg nach Berlin gemacht. „Eigentlich wäre er an diesem Tag mittags schon wieder zu Hause gewesen“, erinnert sie sich. Doch dann kommt ein Anruf: Chantal Koelsch wird gebeten, zum Flughafen zu kommen.
Dort erhält sie die Nachricht, dass der 32-jährige Mann, mit dem sie erst kurz zuvor ein Haus gekauft hat und den sie im kommenden Jahr heiraten wollte, mit im Cockpit der Fokker saß. Und bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Gemeinsam mit anderen Angehörigen begibt sich die Partnerin des Copiloten gegen Abend zur Unglücksstelle. Chantal Koelsch erinnert sich noch an den Geruch und den Rauch vor Ort. Auch unter anderem der damalige deutsche Verkehrsminister Manfred Stolpe (SPD), Großherzogin Maria Teresa sowie Staatsminister Jean-Claude Juncker machen sich noch am selben Tag vor Ort ein Bild der Situation.
Suche nach Ursache
Schnell schwebt über allem die Frage nach dem Grund für das tragische Unglück. „Flugzeugabsturz gibt Rätsel auf“ und „Viele Fragen bleiben zurzeit unbeantwortet“, titelt das Tageblatt am Freitag, dem 8. November 2002. Tatsächlich entwickelt sich die Suche nach einer Antwort auf diese Frage zu einem langwierigen Unterfangen. Denn jahrelang beschäftigen zahlreiche Dokumente, Einsprüche und Gutachten die Justiz. Erst im Oktober 2011 – rund neun Jahre nach dem Unglück – beginnt der Prozess.
Auf der Anklagebank sitzen damals schließlich sieben Personen: der Pilot der Unglücksmaschine, der frühere Direktor vom technischen Dienst der nationalen Fluggesellschaft, zwei ehemalige Flugzeugmechaniker sowie drei einstige Generaldirektoren. Für Aufsehen sorgt im achtwöchigen Gerichtsprozess das Abspielen des „Cockpit Voice Recorders“ (CVR). Durch die Aufzeichnungen erhält unter anderem Nebenklägerin Chantal Koelsch endlich Gewissheit, dass nicht ihr damaliger Lebensgefährte an dem Tag die Maschine steuerte, sondern der zu dem Zeitpunkt 26-jährige Claude P.
Während der Verhandlungen wird immer deutlicher, dass offenbar eine Verkettung mehrerer Umstände – menschliches Versagen in Verbindung mit technischen Mängeln – zum Absturz geführt hat. In einer Meldung der deutschen Nachrichtenagentur dpa vom 27. März 2012 zur Urteilsverkündung zum Abschluss des Prozesses ist von schweren Fehlern des fliegenden Piloten die Rede: „Er hatte kurz vor dem Absturz die Schubhebel der Fokker 50 nach hinten gezogen, um rasch an Tempo und Höhe zu verlieren. Die gewählte anormale Propellerstellung – eine Art Schubumkehr – darf aber nur am Boden zum starken Abbremsen benutzt werden.“
Lang ersehntes Urteil
Die Folge seien ein Kontrollverlust und der Absturz gewesen. Weiter heißt es in der Meldung zum Urteil: „Wegen dichten Nebels hatte die Maschine an jenem Tag zunächst keine Landeerlaubnis bekommen. Als dann endlich das O.K. kam, lief alles überhastet ab – auch, weil der Pilot schnell nach Hause wollte.“ Am Ende werden vier von sieben Angeklagten laut Pressestelle der Justiz wegen fahrlässiger Tötung verurteilt: der Pilot zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren auf Bewährung sowie einer Geldstrafe von 4.000 Euro. Auch der ehemalige Direktor vom technischen Dienst sowie die beiden früheren Mechaniker bekommen Haftstrafen auf Bewährung und Geldstrafen. Die Ex-Generaldirektoren dagegen werden freigesprochen.
Luxair: Lehren wurden gezogen
Seit dem Absturz wurden bei der Fluggesellschaft mehrere Verbesserungen an den Sicherheitsvorschriften vorgenommen – wie die Pressestelle der Airline dem Tageblatt auf Nachfrage hin mitteilt. So würde ein modernes System den ständigen Austausch zwischen dem Bereich der Wartung der Maschinen und dem Flugbetrieb sicherstellen. Außerdem sei ein fünfköpfiges Team für die Abteilung „Flugsicherheit“ zusammengestellt worden. Verschiedene Prozeduren wurden eingeführt, damit alle möglichen, sicherheitsrelevanten Empfehlungen systematisch berücksichtigt werden. Man habe Lehren aus dem Unfall gezogen und alle Vorkehrungen getroffen, um Risiken aufs Minimum zu reduzieren. Und so zu verhindern, dass sich ein solcher Unfall je wiederhole. In Gedanken sei man bei jeder einzelnen Familie und den Verstorbenen, heißt es weiter von der Pressestelle.
Und dennoch können viele Angehörige zu diesem Zeitpunkt nicht abschließen – sofern man davon bei solch einem Unglück überhaupt sprechen kann. Denn ein Großteil der Schadensersatzanträge von Hinterbliebenen werden mit Verweis auf die Warschauer Konvention (die die Haftungsbedingungen für Fluggesellschaften regelt) vom Strafgericht abgewiesen. Mit der Erklärung, dafür nicht zuständig zu sein. Erst im Januar 2014 werden den Angehörigen Entschädigungen von insgesamt rund 400.000 Euro zugesprochen – weit unter der geforderten Summe von fast 1,5 Millionen Euro.
Wirklich beendet ist die juristische Aufarbeitung des Absturzes allerdings erst mit einem Urteil im Mai 2015: Dieses hält fest, dass der Anspruch auf Entschädigung für die Angehörigen von drei deutschen Todesopfern bestehen bleibt – und nicht etwa verjährt ist, wie die Verteidigung es zunächst fordert. Zwölfeinhalb Jahre nach dem verhängnisvollen Tag am 6. November 2002 bekommen dann auch die letzten Hinterbliebenen überhaupt erst die Möglichkeit, endlich zur Ruhe zu kommen.
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